Mit einer Wozu-Frage hat das Nachdenken über den christlichen Glauben begonnen. Jesus stirbt nach Auskunft des Markusevangeliums mit den Worten: „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“1 Er selbst hat auf diesen Schrei keine Antwort mehr erhalten. Aber die, die ihn gehört haben oder lesen, sind zu einer Antwort herausgefordert.

Jesus ruft nach dem Sinn des Geschehens. Seine Frage wozu/zu was ist final formuliert. Diese Fragerichtung unterscheidet Jesu letzten Aufschrei von einer kausalen Warum-Frage. Die Warum-Frage forscht nach Ursachen. Bei eigenen Schicksalsschlägen, in persönlichen Niederlagen zu lange um die Warum-Frage zu kreisen, droht einen Menschen zu verschlingen. Die Warum-Frage birgt das Risiko der Verzweiflung. Die Wozu-Frage richtet den Blick nach vorn. Die letzten Worte Jesu zeugen von einem dialogischen Verhältnis zu Gott. Jesus ruft Gott an. Zugleich schwebt über seinem Sprechen zu Gott der Schatten des möglichen Gottesverlusts.

Drei Elemente der Theologie sind in diesen letzten Worten Jesu vorabgebildet: Die Ausrichtung auf einen Sinnhorizont, das Einfordern einer Antwort und das Dunkel der Abwesenheit Gottes.

 

Theologie als Wissenschaft vom Zwischenraum zwischen Gott und Mensch

Theologie ist die Wissenschaft vom Zwischenraum zwischen Gott und Mensch. Sie fragt nach der Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Über Gott gibt sie keine Auskunft; weil niemand etwas über Gott wissen kann. Man müsste schon über ihm stehen, um ihn erfassen zu können.2 Zum Verhältnis zwischen Menschen und Gott lässt sich hingegen einiges sagen.

Muss ich jetzt befürchten, die Radikalkonstruktivisten als erste Zuhörerinnen bzw. Zuhörer bereits zu verlieren? Die könnten einwenden: Die Theologie kann nichts über das Verhältnis zwischen Gott und Mensch sagen. Schließlich sei Gott selbst ein Produkt menschlicher Konstruktion.

Der Einwand hat ein begrenztes Recht. Wenn wir Gott als ein Objekt neben anderen ansehen würden, könnten daraus metaphysische Vorstellungen folgen. Das könnte sich als ein Koloss auf tönernen Füßen erweisen. Umgekehrt mag ein frommer Realismus einwenden: Über eine Beziehung zwischen Gott und Mensch kann ich erst seriöse Aussagen machen, wenn ich von stabilen Wirklichkeitsannahmen ausgehe. Der Gottesgedanke müsse geklärt sein; der Status des Menschen ebenfalls feststehen. Erst dann könne man darüber reden, wie die beiden interagieren.3

 

Die Wissenschaft unter Absehung Gottes

Die Universität forscht und lehrt ihrem Selbstverständnis nach unter Absehung einer Beziehung zu Gott. Das Wirken Gottes fehlt im Besteckkasten wissenschaftlicher Arbeit. Selbst die Theologie blendet in ihrem wissenschaftlichen Tagesgeschäft Gott aus. In ihrem methodischen Vorgehen, ihrer philologischen und historischen Arbeit, bei der Entwicklung dogmatischer, ethischer, pädagogischer Überzeugungen stimmt sie mit den übrigen universitären Disziplinen darin überein, Gott nicht zum Argument einer wissenschaftlichen Aussage zu machen.

Die Entscheidung, den Zwischenraum der Gott-Mensch-Beziehung im akademischen Raum durch empirisch fassbarere Kontexte zu ersetzen, lässt sich erstaunlicherweise historisch datieren. Im Jahr 1625 hat der niederländische Staatsrechtler und calvinistische Christ Hugo Grotius einen wirkmächtigen Satz geprägt. Fern jeder Religionskritik hatte Grotius keinen Zweifel, dass das Naturrecht auf Gott zurückgeht. Aber im Rahmen der Rechtsprechung soll das Recht so angewendet werden, als ob es Gott nicht gäbe – etsi deus non daretur. Diese Auffassung ist innerhalb von 150 Jahren zum Grundsatz aufgeklärter Wissenschaft aufgestiegen.4 Bis heute gilt: Wissenschaft wird unter Ausblendung des Gottesbezugs betrieben.

 

Gottesverlust

Der Eindruck des Gottesverlustes, der schon über dem sterbenden Jesus schwebte, ist in der Geschichte der Christenheit ein Dauerthema. Die offenkundige Gottverlassenheit der Welt ist das massivste Argument gegen den christlichen Gottesglauben. Wenn es Gott gäbe, müsste die Welt doch anders aussehen, oder?

Bekanntlich hat sich Gottfried Wilhelm Leibniz um 1700 daran abgearbeitet, Gott angesichts der gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu rechtfertigen.5 Die offensichtlichen Übel in der Welt ließen sich nicht länger mit der Vorstellung eines allmächtigen und allgütigen Gottes zusammenbringen. Leibniz’ Lösung lautete: Der Schöpfergott hat sein Bestes gegeben. Er hat versucht, die Welt, so gut es geht, zu gestalten. Das hat jedoch nur teilweise geklappt. Die Ungereimtheiten schauten einen aus jeder Ecke der Weltgeschichte an. Immerhin sei bei der Schöpfung die beste aller möglichen Welten herausgekommen.6

Für den Gießener Philosophen Odo Marquard liegt in diesem Rettungsversuch der Keim der Abschaffung Gottes.7Leibniz’ Lösungsvorschlag für das Theodizeeproblem habe in einem Dilemma geendet. Das Bemühen, Gott von den Vorwürfen für das Übel in der Welt zu entlasten, flog als Bumerang zurück. Die beste aller möglichen Welten ist eben nicht die perfekte Welt. Letztlich dokumentiere die Schöpfung nur die Beschränktheit ihres Schöpfers. Offenkundig sei der Alte im Himmel müde geworden. Die Schöpfung zeige seine Überforderung. Er sei der Aufgabe, ein wohlgeordnetes Gemeinwesen zu schaffen, nicht gewachsen gewesen. Es sei Zeit, ihn in den Ruhestand zu verabschieden. Ging es anfangs noch darum, Gott aus Mitleid von seinen Aufgaben zu entbinden, folgte bald schon der radikale Zweifel, ob es Gott überhaupt je gegeben habe.

 

Anthropologische Kehre

Never mind lautet der forsche Schluss der Aufklärer. Gottes Nachfolger steht schon parat. Der Mensch übernimmt seine Aufgabe. Die anthropologische Kehre erklärt den Menschen zum Alleinerben Gottes. Bald schon zeigen sich jedoch die Schattenseiten dieses Erbes. Der Anfangsoptimismus bekommt Risse, denn nun trägt der Mensch die Alleinverantwortung für alles Gelingen und Scheitern auf der Welt. Die Alleinzuständigkeit beginnt wie Pech an den Schuhen der Weltgestalter zu kleben. Was schiefgeht, wird nun ihnen angelastet und verlangt nach Rechtfertigung. An die Stelle der Theodizee ist die Anthropodizee getreten.

In der Welt ohne Gott steigt der Druck. Tim Bendzko singt davon in dem Lied Hoch: „Fehler prägen mich, mach mehr als genug. Bin zu müde für Pausen, komm’ nicht dazu. Und wenn ich glaube, meine Beine sind zu schwer. Dann geh’ ich noch mal tausend Schritte mehr.“8 Den Erfolgsdruck mit Selbstüberforderung zu beantworten – das treibt die Spirale an, die im Zusammenbruch endet.

 

Entlastungsversuche

Nach Marquard begleitet permanente Überforderung den menschlichen Aufstieg zum Alleingestalter des Weltgeschehens. Entlastung heißt daher das Gebot der Stunde. Auf politischem Sektor fangen die Entscheidungsträger an, die Schuld für das Misslingen der Weltverbesserung abzuspalten. Die Mächtigen lenken von sich selbst ab und wälzen die Schuld für das Scheitern auf die anderen.9 Die Figur des anderen wird kultiviert. Die anderen, das sind die Schwächeren, die Systemgegner, die religiösen Aussätzigen. Sie werden mit dem Etikett anders ausgegrenzt. In den mörderischen Diktaturen des 20. Jh. – in Stalinismus und Nationalsozialismus – werden sie eliminiert. Man entkommt dem Gericht, indem man selbst zum Richter wird.10 Die Konsumgesellschaft entlastet auf weichere Art. Sie bietet Spaßszenarien, Urlaube, Auszeiten, kleine Fluchten, um im Alltag ein paar Momente ohne Anspruch genießen zu dürfen.

Der überlastete Mensch kämpft um seine Entlastung. Zuweisung der Schuld an andere, Erklärung der eigenen Nicht-Zuständigkeit, Ausbruch in die Unbelangbarkeit – das sind seine Strategien.11

Die derzeitigen politischen Konflikte kreisen in auffälligem Maße um die Schuldfrage. In der Klimapolitik, der Migrationsdebatte, dem Wohlstandserhalt, angesichts der gegenwärtigen Kriege – überall werden wechselseitig Schuldige identifiziert. Die Schuld der anderen rechtfertigt das eigene Handeln. Für Schuld gibt es keinen Aufbewahrungsort in der Welt ohne Gott. Die aufgeklärte Aufkündigung der Gottesbeziehung hat im Zusammenleben von Individuen und Nationen eine Lücke hinterlassen. Deshalb mäandert die Schuld hin und her. Ein Akteur schiebt sie zum anderen. Die Schuldzuweisungen befeuern die Gewaltspiralen.

 

Eine Wissenschaft von den Rahmenbedingungen gelingenden Lebens

Wozu Theologie in einer Gesellschaft überforderter Menschen, die es nicht schaffen, ein verträgliches Zusammenleben zu organisieren? Der Christusglaube schaut gewissermaßen aus der Perspektive Gottes auf das Leben. Glaube ist eine Blickrichtung. Ingolf Dalferth nennt das den „blind spot“.12 Von ihm her kommt die Wirklichkeit in den Blick. Über den Ausgangspunkt selbst können wir keine Aussagen machen. Aber in seinem Licht zeigt sich das Zusammenleben in einer eigenen Weise. Darin sollen die Relationen zwischen den Menschen in einer lebensdienlichen Weise gestaltet sein. Dem Atmosphärischen kommt Aufmerksamkeit zu. Über strategisches Kalkül hinaus ist die Menschengemäßheit des Handelns zu beachten. Es sind die sog. weichen Faktoren – Ernsthaftigkeit, Vertrauen – die die Zwischenräume unter Menschen und Nationen bestimmen. Die Theologie formuliert die Impulse des Christusglaubens für ein gutes Zusammenleben. In diesem Sinn ist Theologie die Wissenschaft von den Rahmenbedingungen gelingenden Lebens.

Die frühen Deutungen im NT stellen den Tod Jesu in auffallendem Maß in den Zusammenhang menschlicher Schuld.13Dies geschieht nicht im Modus der Anklage – wer ist schuld am Tod Jesu? Vielmehr wurde die Hinrichtung Jesu als Durchbrechung der ewigen Schuldspirale zwischen den Menschen gedeutet. Der Tod Jesu beendete die Notwendigkeit, Schuld für das Scheitern immer weiterzureichen und das Versagen anderen anzulasten. Dieser Kreislauf wurde als ein für alle Male durchbrochen geglaubt. Christusglaubende hörten auf, anderen deren Schuld unter die Nase zu reiben. Sie verloren den Drang, sich selbst und ihr Handeln durch den Nachweis der Schuld anderer zu rechtfertigen. Die Schuld galt als beglichen.14

Entschuldet zu sein, ist das Freiheitsversprechen des christlichen Glaubens. Eine Antwort, aus deren Quelle die Kraft zu Vergebung und Neuanfang fließt, ist in einer säkularen Gesellschaft auch von denen zu verlangen, die den Christusglauben nicht zur Kenntnis nehmen. Die Theologie steht für die Überzeugung: Die Bindung an Jesus Christus im Glauben eröffnet die Chance, die Schuld für eigenes Versagen abzulegen, ohne andere dafür verantwortlich zu machen.

 

 Paul-Gerhard Klumbies

 

Anmerkungen

* Kurzvortrag anlässlich der Verabschiedung aus der Universität Kassel am 18. Juli 2024.

1 Die revidierte Lutherübersetzung von 2017 verweist in Mk. 15,34 mit einem Sternchen im Text auf wozu als Übersetzungsalternative zu warum.

2 Vgl. die klassische Verhältnisbestimmung zwischen den drei Präpositionen überaus und von im Blick auf das Reden von Gott bei R. Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 81980 (ursprünglich 1925), 26-37. 

3 Zu einer theologisch begründeten Positionierung bei der Verhältnisbestimmung zwischen Konstruktivismus und Realismus vgl. P.-G. Klumbies, Gott – bewusst gemacht oder bewusstgemacht? Eine theologische Rückmeldung zu Konstruktivismus und Neuem Realismus, in: E. Felder/A. Gardt (Hg.), Wirklichkeit oder Konstruktion? Sprachtheoretische und interdisziplinäre Aspekte einer brisanten Alternative, Berlin/Boston 2018, 146-161.

4 Vgl. K.H. Rengstorf, Hugo Grotius als Theologe und seine Rezeption in Deutschland, in: H. Dollinger (Schriftleiter), Theologische, juristische und philologische Beiträge zur frühen Neuzeit, Schriftenreihe der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Heft 9, Münster 1986, 71-83, 71.

5 G.W. Leibniz, Essais de Théodicee sur la Bonté de Dieu, la liberté de L’Homme et L’Origine du mal (1710), deutsch „Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels“, übersetzt von A. Buchenau, Hamburg 1996.

6 Zur Darstellung vgl. im Einzelnen P.-G. Klumbies, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, 16-19.

7 O. Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1987, 39-66.

8 https://www.songtexte.com/songtext/tim-bendzko/hoch-g7b806684.html und https://g.co/kgs/RQR34P3 (zuletzt abgerufen am 23.7.2024, 9.14 Uhr).

9 Vgl. Marquard, 48-51.

10 Vgl. Marquard, 57.

11 Vgl. Marquard, 51-55.

12 I.U. Dalferth, Wer braucht Theologie in der Gesellschaft? In: Streit-KULTUR – Journal für Theologie 01/2023, 17-22, 22.

13 Vgl. die Beiträge in M. Hüttenhoff/W. Kraus/K. Meyer (Hg.), „… mein Blut für euch“. Theologische Perspektiven zum Verständnis des Todes Jesu heute, Biblisch-theologische Schwerpunkte, Bd. 38, Göttingen 2018.

14 Die Entschuldung des Volkes ist bereits im AT ein zentraler Topos. Lev. 16,20-22 beschreibt ein Übertragungsritual, bei dem in einer kultischen Zeremonie einem Bock die Schuld aufgelegt und er anschließend in die Wüste geschickt wird. Vgl. dazu F. Hartenstein, Zur symbolischen Bedeutung des Blutes im Alten Testament, in: J. Frey/J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, Studienausgabe Tübingen 2007, 119-137, 129-131.

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2025

1 Kommentar zu diesem Artikel
24.02.2025 Ein Kommentar von Dieter Steves Ich finde diesen Artikel mal einleuchtend und hilfreich, weil er interessante Gedanken und Brückenschläge in unsere Zeit bietet und damit anders ist als viele andere Artikel, die sich für mich hinter theologischen Verbrämungen verstecken.
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