Im Zuge der Veränderung kirchlicher Strukturen, wie wir sie gegenwärtig erleben, stellt sich auch die Frage nach Ämtern und Diensten in der Kirche neu. In diesem Zusammenhang erinnert Ulrich Heckel an die Entwicklungen in frühchristlicher Zeit.*

 

Der Begriff des Amtes ist eine spätere Abstraktion, für die es im NT noch keine direkte Entsprechung gibt. Am nächsten kommt das griechische Wort diakonía, das mit „Dienst“ oder „Amt“ übersetzt werden kann, aber keine hoheitliche oder obrigkeitliche Dimension umfasst, die dem Begriff erst im Deutschen zugewachsen ist. Deshalb ist sorgfältig darauf zu achten, dass nicht spätere Verhältnisse in die Frühzeit eingetragen werden. Zudem sind Gender-Fragen zu bedenken. Gleichwohl beginnt die Entstehung der Ämter bereits in den paulinischen Gemeinden.1

In den paulinischen Briefen begegnen drei Gene­ra­tio­nen: die Einsetzung der Wortverkündigung in 1. Kor. 12,28, deren Institutionalisierung bei einem Paulusschüler in Eph. 4,11 sowie die Ordination durch Handauflegung in den Pastoralbriefen (1. Tim. 4,14; vgl. 5,22; 2. Tim. 1,6).

 

1. Die Einsetzung durch Gott (1. Kor. 12,28)

Schon bald nach der Gemeindegründung erwähnt Paulus in 1. Kor. 12,28 die Einsetzung von Verkündigungsämtern, obwohl in Kap. 12-14 sonst nur von Charismen die Rede ist. Dass die Apostel zuerst genannt werden, erinnert an Paulus als Gemeindegründer (1. Kor. 3,10), aber auch an die anderen Apostel (4,9; 9,1.5; 15,5-9) sowie das Ehepaar Andronikus und Junia (Röm. 16,7).2 Einen Propheten zeichnet die geistgewirkte, aber verständliche Rede aus, die Paulus höher schätzt als die unverständliche Zungenrede (1. Kor. 14). Die Aufgabe der Lehrer besteht im Weitergeben von Lehrtraditionen (Gal. 1,12; 1. Kor. 11,2) wie Herrenworten (1. Thess. 4,15; 1. Kor. 7,10; 9,14), der Abendmahlsüberlieferung (1. Kor. 11,23-26), der Lehre bei der Taufe (Röm. 6,3f.17; 12,7) oder Bekenntnisformeln (1. Kor. 15,3-5). Alle drei Dienste (12,5) sind personengebundene Aufgaben der Wortverkündigung. Drei Aspekte werden deutlich:

Zum einen betont Paulus im Charismenkatalog „die prinzipielle Gleichrangigkeit aller Gnadengaben“, „die samt und sonders göttlichen Ursprungs sind.“3 Im Vergleich mit Apollos versteht er seinen Auftrag als „Diener“, „wie es der Herr einem jeden gegeben hat“ (1. Kor. 3,5; 4,1), „auf dass sich bei euch keiner für den einen gegen den andern aufblase“ (4,6). Leitend ist sein Selbstverständnis als Diener Christi (2. Kor. 3,6; 11,23), ein Dienst (4,1; 6,3f), der ganz durch das Wort von der Versöhnung bestimmt ist (5,18f). Auch in Röm. 12 parallelisiert er die „Gnade, die mir [sc. als Apostel] gegeben ist“ (12,3), und die „mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns [sc. als Gläubigen] gegeben ist“ (12,6). Die Ämter sind „in der Gemeinde“ eingesetzt, nicht „über sie“ (1. Kor. 12,28). Daher bleibt die prinzipielle Gleichrangigkeit der Charismen, Dienste und Ämter festzuhalten. 

Zum anderen fällt auf, wie die Funktionen der Wortverkündigung durch die Zahlwörter „erstens“, „zweitens“, „drittens“ von den übrigen Charismen abgesetzt werden. Es sind „die drei grundlegenden Ämter“, die für frühchristliche Gemeinden „konstitutiv“ sind.4 Ebenso hat Gott den Dienst der Versöhnung „gegeben“ und „aufgerichtet“ (2. Kor. 5,18f). Damit erhält der Auftrag zur Verkündigung bereits in 1. Kor. 12,28 eine konstitutive Bedeutung für die Kirche.

Schließlich wurde der Gedanke der göttlichen Einsetzung später aufgenommen, um die Institutionalisierung der Verkündigungsaufgabe als göttliche Anordnung festzuschreiben.

 

2. Die Institutionalisierung durch Christus (Eph. 4,11)

Der Epheserbrief nennt Paulus als Absender (Eph. 1,1), doch geht die Forschung heute meist davon aus, dass er von einem Paulusschüler der zweiten Generation um 90 n.Chr. verfasst wurde. Nach dem Tod des Apostels stellte sich die Frage, wie die Verkündigung des Evangeliums weiterhin gewährleistet werden kann. Damit ergab sich die Notwendigkeit, die Verkündigung zu institutionalisieren und eine theologische Begründung für solche Ämter zu liefern.5 Zu diesem Zweck knüpft er in Eph. 4,7-16 – „einem der wenigen neutestamentlichen Texte zu kirchlichen Ämtern von grundsätzlicher Natur“6 – bei der paulinischen Charismentheologie (1. Kor. 12; Röm. 12,3-8) an mit der „Gnade“, die „einem jeden gegeben ist nach dem Maß der Gabe Christi“: „Er selbst gab die einen als Apostel, andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer, damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden“ (Eph. 4,11f).

Apostel und Propheten

Apostel“ und „Propheten sind bereits Ämter der Vergangenheit (2,20; 3,1-7), die wegen ihrer grundlegenden Botschaft als „Fundament“ der Kirche (2,20f) bezeichnet werden. Dann folgen drei Ämter der Gegenwart, d.h. der nachapostolischen Zeit:

Bei den „Evangelisten“ zeigt schon die geringe Anzahl der Belege (Apg. 21,8; 2. Tim. 4,5), dass es sich noch nicht um ein fest eingeführtes Amt handelt. Sind es aber keine institutionalisierten Amtsträger, so bringt dieser unverbrauchte Titel – so meine These – umso treffender auf den Begriff, was nach Eph. 2,14-17 grundsätzlich Wesen und Aufgabe jedes Funktionsträgers sein soll, nämlich das Evangelium des Friedens Christi zu verkündigen (2,14f.17).

Hirten und Lehrer

Hirten und Lehrer“ ist eine Doppelwendung, durch die „die Lehre zur Aufgabe der Gemeindeleitung“ wird.7 Das Wort „Hirten“ wird im NT allein in Eph. 4,11 als Titel verwendet, ist hier aber noch keine feststehende Amtsbezeichnung, sondern bringt – wie beim Evangelistentitel – lediglich die Aufgabe der Gemeindeleitung auf den Begriff, die sonst metaphorisch durch den Weideauftrag umschrieben wird (vgl. Apg. 20,28; 1. Petr. 5,2; Joh. 21,15-17). Dabei dürfen Weideauftrag und Gemeindeleitung nicht auf organisatorische Aufgaben der Geschäftsführung reduziert werden, sondern gemeint ist vor allem die Leitung des Gottesdienstes.8 Mit der Taufunterweisung (Röm. 6,3f.17; Eph. 4,5.11) und der Abendmahlsüberlieferung (1. Kor. 11,23-26) dürften nach dem Vorbild des Paulus auch Taufen und Abendmahlsfeiern verbunden sein (Apg. 20,7-11; vgl. 2,42; 19,1-7; 20,17.28-31).9

Um die Institutionalisierung zu begründen (4,7-16), stellt der Verfasser „offenbar […] bewusst“ Christus „selbst“ (4,11) als „Stifter der Ämter“ vor,10 der sie „gab“ (4,11), d.h. „einsetzte“ (1. Kor. 12,28).11 Auch Lukas – ebenfalls in der zweiten Generation – berichtet, wie Paulus „in jeder Gemeinde“ Älteste „einsetzte“ (Apg. 14,23), um sie in der Abschiedsrede als Gemeindeleiter darauf anzusprechen, dass „der Heilige Geist“ sie „eingesetzt“ hat (20,28). Diese Ämter sind nicht menschlichen, sondern göttlichen Ursprungs. Sie werden „als für die Kirche verbindliche Stiftungen Christi heraus­gestellt.“12

Die Situation der nachapostolischen Gemeinden

Dabei ist bemerkenswert, wie reflektiert dieser Paulusschüler die Übertragung paulinischer Anliegen auf die Situation nachapostolischer Gemeinden vornimmt. Er wiederholt nicht einfach die Ämtertrias aus 1. Kor. 12,28, sondern gliedert sie in den Dual Apostel und Propheten für die Gründergeneration und die neue Trias Evangelisten, Hirten und Lehrer für die Ämter der Gegenwart. Dass typische Amtsträger wie Presbyter, Episkopen und Diakone nicht genannt werden, hat zu vielfältigen Spekulationen Anlass geboten. Offensichtlich will dieser Paulusschüler nur das „Dass“ solcher Ämter als Notwendigkeit einschärfen, die Ausgestaltung, das „Wie“, aber offenhalten.13 Evangelisten, Hirten und Lehrer „sind keine fest umrissenen Ämter. Das scheint Absicht zu sein. Bewusst übergeht der Epheserbrief die konkreten Ämter. Offenbar will er sich nicht mit Details in der Ämterfrage befassen, sondern die grundlegenden Aufgaben umschreiben, die aus der Gabe Christi erwachsen. Evangelisten, Hirten und Lehrer bezeichnen die drei Dimensionen des von Christus gestifteten Wortes in Verkündigung, Seelsorge und Lehre.“14 Damit sind die Aufgaben der Anfangszeit in 1. Kor. 12,28 funktional verallgemeinert, man könnte auch sagen: als ­Ämter der Evangeliumsverkündigung institutionalisiert worden.

Apostolische Sukzession

So sehr die Kirche auf dem Fundament der Apostel und Propheten aufbaut (2,20), besteht deren fundamentale Bedeutung doch nicht in ihrem Amt, sondern im Geheimnis Christi, das Paulus aufgeschrieben hat (3,3-8). Apostolische Sukzession meint daher nicht eine Nachfolge im Amt der Apostel, sondern „Treue zur apostolischen Überlieferung“.15 Diese Bindung bedeutet jedoch „nicht, dass es ausreicht, die ‚Formeln‘ apostolischer Lehrtradition einfach zu wiederholen. Der Inhalt des Evangeliums – das über Christus und das Christusgeschehen Gesagte – ist vielmehr stets neu zu bedenken und verantwortlich zu explizieren.“16

Das Bild vom Leib Christi

Zudem nutzt der Autor die metaphorische Kraft des Leib-Motivs, um die Rolle der Ämter im Leib Christi zu präzisieren. Die Amtspersonen sind bildhaft ausgedrückt nicht „Gelenk“ (4,16 EÜ; LÜ 1984; vgl. Kol. 2,19), sondern „Verbindung“ (LÜ 2017). Vor Augen steht kein Skelett, sondern ein vitaler Körper. „Wie die Nerven und Adern in der kephalozentrischen Medizin die nährenden (Adern) und steuernden Bahnen (Nerven) vom Kopf zum Körper darstellen, so sind die ‚Amtsträger‘ Übertragungsmittel, durch die das ‚Haupt‘ Christus seinen ‚Leib‘, die Kirche, nährt (für das Wachstum) und lenkt und ihre Einheit als Organismus überhaupt erst konstituiert.“17 Von Christus, dem Haupt (4,15), kommen die Wachstumskräfte her (4,16; vgl. 2,20f), zu ihm (4,15) sollen die Amtsträger durch ihre Evangeliumsverkündigung ebenso hinführen wie einst Paulus (3,3-13), die Apostel und Propheten (2,20; 3,5; 4,11). Deshalb wird auch die Einheit der Kirche nach Eph. durch Amtsträger weder repräsentiert noch garantiert,18 sondern Sinn und Zweck ihrer Einsetzung ist es, alle Heiligen „zur Einheit des Glaubens“ in der „Erkenntnis des Sohnes Gottes“ zu führen (4,12f).

Dass der Verfasser in das Bild vom Leib – über 1. Kor. 12; Röm. 12,4f hinausgehend – Christus neu als Haupt einfügt (Eph. 1,22; 4,15; 5,23), hat auch eine herrschaftskritische Pointe: Es hebt Christus als das wahre Oberhaupt der Kirche hervor, dem alle Amtspersonen untergeordnet werden, da es für einen Diener (3,7) nur diesen einen Herrn gibt (4,5), der alle Verkündigungsfunktionen eingesetzt hat (4,7-11; s. Anm. 12).

 

3. Die Rezeption von Eph. 4,11 durch die Reformatoren

Den Institutionalisierungsgedanken übernimmt das Augsburger Bekenntnis (1530) in Art. V als Auftrag der Kirche bei der göttlichen Einsetzung des Predigtamtes: „[…] institutum est ministerium docendi Evangelii et porrigendi sacramenta.“ Nun hat Dorothea Wendebourg darauf hingewiesen, dass die Apologie der Confessio Augustana in Art. XIII keine amtsbezogenen Schriftstellen, sondern Röm. 1,16 und Jes. 55,11 zitiert, und sie hat daraus gefolgert, dass die Wittenberger Amtstheologie „das Amt als Implikation des Evangeliums betrachtet, seine Einsetzung im Verkündigungsauftrag mitgegeben sieht und als Schriftzeugnisse dafür vornehmlich solche anführt, die die Gabe des Evangeliums selbst als göttliche Stiftung kennzeichnen“ (303). In der Tat hat die göttliche Einsetzung des Predigtamtes nicht den gleichen Rang wie die Stiftungsworte für Taufe und Abendmahl (301), doch ist auch sie keineswegs „nur indirekt geschehen“, „ein indirekter, besser impliziter Akt“ (302). Denn „amtsbezogene Schriftstellen“ sind durchaus nicht so „spärlich und unsystematisch“, dass sich „eine Zurückführung der göttlichen Einsetzung des Amtes auf eine oder mehrere Bibelstellen […] nicht feststellen [lässt]“ (301).19

Theologisch entscheidend ist ja nicht der eine oder andere Schriftbeleg, sondern das Amtsverständnis insgesamt, das aus den einschlägigen Textzusammenhängen erhoben wird.20 „Weil die göttliche Einsetzung des Amts zwischen Luther und Rom unstrittig war, musste er sich hierfür weniger ausführlich auf die Schrift berufen als für die Begründung des allgemeinen Priestertums.“21 Bereits in den Schriften an den Adel (1520; WA 6, 440f) und vom Missbrauch der Messe (1521; WA 8, 500) beruft sich Luther für die göttliche Einsetzung des Amtes auf die Pastoralbriefe und Apg. 20,28. De instituendis ministris ecclesiae (1523) bezeichnet die Ämter in 1. Kor. 12,28 als so fundamental, dass alle anderen Ämter darauf aufbauen sollen (WA 12, 191.193f). „Denn man benötigt Bischöfe und Pfarrer oder Prediger, die öffentlich oder separat die genannten vier Heilmittel (sc. Predigt, Taufe, Abendmahl, Absolution) reichen und pflegen,“ führt Luther in seiner „wichtigsten“22 ekklesiologischen Schrift von den Konzilien und Kirchen (1539; WA 50, 633f) aus, „und zwar im Auftrag und Namen der Kirche, recht eigentlich aber aufgrund der Einsetzung durch Christus, wie Paulus Eph. 4 sagt,“ um dann auch exegetisch sehr präzise die Pointe von Eph. 4,11 zu treffen: „Hat nun die Zeit der Apostel, Evangelisten und Propheten aufgehört, so müssen an ihrer Stelle andere gekommen sein und weiterhin kommen bis an der Welt Ende. […] Darum muss es weiter Apostel, Evangelisten, Propheten geben, die Gottes Wort und Werk treiben, wie auch immer sie heißen mögen.“

Damit benutzt Luther Apg. 20,28, 1. Kor. 12,28 und Eph. 4,11 nicht, um die Institution des Pfarramts aus diesen Bibelstellen abzuleiten, sondern um ganz im Duktus des Eph. sehr viel grundsätzlicher den Auftrag zur Evangeliumsverkündigung auf Christus zurückzuführen: „Die empter sind Christi, qui instituit“ (WA 41, 241,39f). So kommt er zu einem ausgesprochen funktionalen Amtsverständnis, das wesentlich durch die Aufgabe der Evangeliumsverkündigung und Sakramentsspendung bestimmt ist. Es geht um das „Dass“ des Predigt­amtes, nicht um das „Wie“ seiner Strukturen.

Dieser Auftrag zur institutionalisierten Verkündigung („Predigt“) ist für die Reformatoren ius divinum, göttliches Recht: „eine göttliche Einsetzung und Anordnung“ (WA 8, 500,16f). Darum löst die deutsche Übersetzung von CA V das Passivum divinum „institutum est“ auf, nennt „Gott“ als Subjekt und verwendet die ntl. Verben „einsetzen“ und „geben“ (s. Anm. 12). Menschlichen Rechts ist hingegen die Ausgestaltung der Ämterstruktur. Die Amtsbezeichnungen mögen wechseln, entscheidend bleibt nach Eph. 4 und CA V der gottgewollte Auftrag, das Evangelium zu verkündigen.

 

4. Die Ordination durch das Presbyterium (1. Tim. 4,14)

In den Pastoralbriefen begegnet die Ordination durch Handauflegung erstmals als fester Ritus zur Einsetzung in das Amt eines Gemeindeleiters. Da sowohl das Weihesakrament als auch die Einführung in den Pfarrdienst Ordination genannt wird, gilt es, deren Bedeutung in den Pastoralbriefen selber zu erheben. Nachdem Eph. an die fundamentale Bedeutung der Apostel und Propheten erinnert (2,20) und die Institutionalisierung kirchlicher Ämter durch Christus prinzipiell begründet hatte (4,11), konzentrieren sich die Pastoralbriefe (nach 100 n.Chr.) in der dritten Generation auf die praktischen Fragen der Gemeindeleitung.

Ist die Aufgabe der Evangeliumsverkündigung als konstitutiv erwiesen, müssen AuswahlkriterienBesetzung und Ausübung der Ämter geklärt werden. Nachdem das „Dass“ gegeben ist, muss das „Wie“ geregelt werden: das Anforderungsprofil in ­einem Berufspflichtenkatalog („Ämterspiegel“; 1. Tim. 3,1-13; Tit. 1,6-9), die Einsetzung durch Handauflegung (1. Tim. 4,14; 5,22; 2. Tim. 1,6), der Dienstauftrag in der Amtsträgerparänese (1. Tim. 4,11-16). In dieser Konkretion erreicht der Prozess der Institutionalisierung nun eine neue Stufe.

Paulus als Vorbild

Paulus dient als „Vorbild“ (1. Tim. 1,16; 2. Tim. 1,13) für Timotheus und Titus, die ihm als „idealtypische Gemeindeleiter“ bzw. „prototypische Amtsträger“23 nachgefolgt sind (1. Tim. 4,6; 2. Tim. 3,10) und sein Werk fortführen sollen (1. Tim. 1,3; Tit. 1,5). Hatte Paulus von seiner „Berufung“ zum Apostel (Röm. 1,1; Gal. 1,15) und der „Einsetzung“ der Apostel, Propheten und Lehrer (1. Kor. 12,28) gesprochen, so heißt es nun in Kombination beider Formulierungen paradigmatisch für spätere Amtsträger, dass er bereits selber als Prediger, Apostel und Lehrer der Völker „eingesetzt“ wurde.24 Wie Timotheus mit Paulus „dem Evangelium gedient“ (Phil. 2,22) haben und der Evangelistentitel das Wesen aller Verkündigungsämter auf den Begriff gebracht hat (Eph. 4,11), soll nun auch Timotheus „das Werk eines Evangelisten tun“ (2. Tim. 4,5). So wird der einzigartige „Dienst“ des Paulus als Apostel (1. Tim. 1,12) zu einem festen „Amt“, auf das Timotheus als Gemeindeleiter exemplarisch angesprochen werden kann (2. Tim. 4,5).

Ordination durch Handauflegung

Timotheus wird an seine Ordination erinnert: „Lass nicht außer Acht die Gabe in dir, die dir gegeben ist durch Weissagung mit Handauflegung des Rates der Ältesten“ (1. Tim. 4,14). Die Einsetzung erfolgt in einem Gottesdienst vor der Gemeinde (1. Tim. 6,12). Zwar gab es Vorstufen (Apg. 6,6; 13,3), doch erst in den Pastoralbriefen erscheint die Handauflegung als fest etabliertes Ritual (1. Tim. 4,14; 2. Tim. 1,6). Die Handauflegung war zunächst mit der Taufe verbunden, um die Gabe des Heiligen Geistes zu vermitteln (Apg. 8,15-17; 19,1-6), wird in den Pastoralbriefen aber auf die Ordination übertragen. Die Geistmitteilung erfolgt „mit Handauflegung“ „durch Prophetie“, d.h. durch einen geistgewirkten prophetischen Zuspruch (1. Tim. 4,14). Wie die Handauflegung bei der Taufe den Geistempfang bewirkt, so verleiht sie auch bei der Ordination das Amtscharisma (1. Tim. 4,14; 2. Tim. 1,6), d.h. „die durch den Heiligen Geist gewirkte Gabe, die zur Ausübung des gemeindlichen Leitungsamts befähigt.“25 Dieses soll Timotheus „erwecken“, d.h. neu anfachen und beleben: „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (2. Tim. 1,6f). Diese drei Geistesgaben sollen ihn von Menschenfurcht befreien und leiten bei der Verkündigung des Evangeliums in der Kraft Gottes (Röm. 1,16; 1. Kor. 1,18), in der Liebe zu den Menschen (1. Tim. 4,12) und in der Selbstbeherrschung, die in diesem Dienst geboten ist (2. Tim. 4,5).

Dass die Handauflegung einerseits durch Paulus (2. Tim 1,6), andererseits durch den Rat der Ältesten (1Tim 4,14) erfolgte, dann aber auch durch Timotheus vorgenommen werden soll (1. Tim. 5,22), ist kein Widerspruch, sondern bezeichnend für den Prozess der Institutionalisierung in der dritten Generation. Was Paulus begonnen (2. Tim. 1,6; Apg. 14,23: „in jeder Gemeinde“) und dann auch Timotheus (1. Tim. 5,22) und Titus „in jeder Stadt“ (Tit. 1,5) aufgetragen hat, wird zur Abfassungszeit vom Presbyterium durch Handauflegung wahrgenommen (1. Tim. 4,14; vgl. 2. Tim. 1,6). Dabei geht es nicht um den Gedanken einer auf den Apostel zurückgehenden Sukzessionskette (s. Anm.16), sondern entscheidend ist die Weitergabe der anvertrauten Lehre (2. Tim. 1,12-14; 2,2). Damit ist nicht nur die Gemeindeleitung als Amt institutionalisiert, sondern auch die Einsetzung durch das Presbyterium dauerhaft geregelt.

Leitung durch Lehre

Nun muss der Dienstauftrag noch inhaltlich umrissen werden. Gemeindeleitung heißt hier nicht Pfarramtsverwaltung, sondern „Leitung durch Lehre“, wie Jürgen Roloff treffend resümiert.26 Das Anforderungsprofil wird in einem Berufspflichtenkatalog beschrieben (1. Tim. 3,1-7; Tit. 1,6-9). Dieser umfasst neben der persönlichen Integrität und Leitungskompetenz (1. Tim. 3,4f) insbesondere die Fähigkeit, „geschickt im Lehren“ zu sein (1. Tim. 3,2; 2. Tim. 2,2).

Die Leitung wird in der Amtsträgerparänese konkretisiert. Timotheus soll sich an das Vorbild des Paulus (2. Tim. 1,11-13) halten: „Fahre fort mit Vorlesen, mit Ermahnen, mit Lehren“ (1. Tim. 4,13). Das Vorlesen bezieht sich auf dieSchriftlesung aus den „Heiligen Schriften“, die „von Gott eingegeben“ und „für die Lehre nützlich“ sind „zur Seligkeit“ und „zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2. Tim. 3,15f). Dazu gehören nicht nur das AT (Röm. 1,2; 2. Tim. 3,15) und die Paulusbriefe (1. Thess. 5,27), sondern auch bereits als „Schrift“ vorliegende Jesus­über­lieferungen (1. Tim. 5,18).27 Die Predigt (vgl. ebenso Apg. 13,15; Hebr. 13,22) umfasst die ganze Bandbreite des Zuspruchs von der seelsorglich tröstenden Anrede (2. Kor. 1,3-7) bis zur ethischen Ermahnung in der Paränese (Röm. 12,1). Die Lehre (1. Tim. 4,6-16) soll nicht nur die Irrlehre „der fälschlich so genannten Gnosis“ abwehren (1. Tim. 6,20), sondern die gesunde, heilsame, zum Heil verhelfende Lehre (Tit. 1,9) bewahren im anvertrauten Gut, dem von Paulus verkündigten Evangelium (2. Tim. 1,12-14). Ziel aller Unterweisung sind Glaube und Liebe (1. Tim. 1,5; 6,11) sowie ein besonnenes und frommes Leben in der Welt (2,2-15) mit guten Werken (5,10). Zum Lehren dürften nach dem Vorbild des Paulus (Apg. 19,1-7; 20,7-11) auch die Leitung von Tauf- (Tit. 3,5) und Abendmahlsfeiern (s. Anm. 10) gehören.

Mit der Verpflichtung auf das paulinische Erbe, dem Ausbau tragfähiger Leitungsstrukturen und der inhaltlichen Konzentration auf Verkündigung und Lehre haben die Pastoralbriefe wesentliche Anliegen von Paulus für die Zukunft der Kirche fortgeschrieben. In der Wirkungsgeschichte haben die Pastoralbriefe das evangelische Verständnis des Pfarramts als Predigtamt durch die Reformatoren ebenso geprägt wie die altkirchliche Ausgestaltung des dreistufigen Amts mit Bischof, Priestern und Diakonen bis in die römisch-katholische ­Kirche und die orthodoxen Kirchen der Gegenwart.

 

Anmerkungen

* Referat am 25.10.2021 im Theologischen Ausschuss der Württembergischen Landessynode zur Überarbeitung der Einführungsagende. Vgl. ausführlicher U. Heckel, Das Amt und die Ämter. Neutestamentliche Entwicklungen und reformatorischer Schriftgebrauch KuD 69, 2/2023, 176-213.

1 Vgl. insgesamt J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (NTD Erg.10), Göttingen 1993; U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik. Die urchristlichen Ämter aus johanneischer Sicht (BThSt 65), Neukirchen-Vluyn 2004; Th. Schmeller/M. Ebner/R. Hoppe (Hg.), Neutestamentliche Ämtermodelle im Kontext (QD 239), Freiburg 2010; O. Hofius, Exegetische und theologische Studien (WUNT 467), Tübingen 2021, 177-228; M. Theobald, Dienen statt Herrschen. Neutestamentliche Grundlegung der Ämter in der Kirche, Regensburg 2023.

2 Vgl. M. Gielen, Die Wahrnehmung gemeindlicher Leitungsfunktionen durch Frauen im Spiegel der Paulusbriefe, in: Th. Schmeller (Hg.), Ämtermodelle (s. Anm. 1), 129-165, hier 137-139.157-163.

3 W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK VII/3), Zürich u.a. 1999, 135.137f(231-234.241).

4 D.-A. Koch, Die Entwicklung der Ämter in frühchristlichen Gemeinden Kleinasiens, in: Th. Schmeller (Hg.), Ämtermodelle (s. Anm. 1), 175.178.

5 Vgl. U. Heckel, Die sieben Kennzeichen für die Einheit der Kirche. Exegetische Impulse zu einer ökumenischen Theologie der Einheit nach Eph. 4,1-6, MdKI 71 (2020), 62-70, hier 66-69.

6 M. Theobald, Dienen (s. Anm. 1), 84; vgl. 167(-171.183-191).

7 J. Roloff, Kirche (s. Anm. 1), 248.

8 Vgl. U. Heckel, Dass sie alle eins seien (Joh 17,21). Ephesus als Ort der „Ökumene“ und die Einheit der Kirche im Johannesevangelium, KuD 68 (2022), 3-41, hier 5f.23-28.31-35.

9 J. Jervell, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen 1998, 502.504.509.511.513.514.515; zu Gemeindeleitung und Eucharistievorsitz vgl. auch Lk. 22,24-27 sowie M. Theobald, Dienen (s. Anm. 1), 38-42.117f.187.

10 G. Sellin, Der Brief an die Epheser (KEK 8), Göttingen 2008, 339.

11 Vgl. 2. Kor. 5,18f sowie Apg. 20,28 und 1. Tim. 1,12; 2,7; 2. Tim. 1,11.

12 J. Roloff, Kirche (s. Anm. 1), 247; vgl. M. Theobald, Dienen (s. Anm. 1), 250.

13 Nach Th. Söding, Geist und Amt, in: Th. Schneider/G. Wenz (Hg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge I. Grundlagen und Grundfragen, Freiburg u.a. 2004, 189-263, hier 233 wird zu den Ämtern „ähnlich wie bei Paulus selbst […] das ‚Dass‘ affirmiert und jetzt – anders als bei Paulus – in die geschichtliche Zeit hinein verlängert, während das ‚Wie‘ offen bleibt.“

14 M. Gese, Der Epheserbrief (BNT), Neukirchen-Vluyn 32022, 103f(109.111f).

15 M. Theobald, Dienen (s. Anm. 1), 188f (vgl. 83-85.230.249f).

16 So O. Hofius, Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen, in: ders., Theologische Studien (s. Anm. 1), 191f mit einem Vergleich von 1. Kor. 15,3b-5 und Eph. 2,11-3,13; 1. Tim. 2,5; 2. Tim. 1,10.

17 G. Sellin, Eph. (s. Anm. 10), 350f; vgl. 443f.

18 Vgl. dagegen IgnEph 4,1; 5,1; 20,2; IgnPhld 4; 8,1; IgnSm 8,1f); vgl. M. Theobald, Dienen (s. Dienen (s. Anm. 1), 77: „Das Amt in der Kirche garantiert nicht deren Einheit oder stellt sie sicher, sondern dient ihr und bezeugt sie.“

19 D. Wendebourg, Der Schriftgebrauch in der Amtstheologie der Reformatoren und reformatorischen Bekenntnisschriften, in: Ch. Hill/M. Kaiser/L. Nathaniel/Ch. Schwöbel (Hg.), Bereits erreichte Gemeinschaft und weitere Schritte. 20 Jahre nach der Meissener Erklärung, Frankfurt/M. 2010, 286-307, hier 300-305.

20 Die Begründung mit Eph. 4,11 erfolgt nicht „unsystematisch“ (301), sondern in einer zentralen ekklesiologischen Schrift (s. Anm. 21). Auch bleibt der Hinweis auf die göttliche Einsetzung in Apg. 20,28 nicht „spärlich“ (301), wenn er in jedem Ordinationsgottesdienst als Schriftlesung wiederholt werden soll.

21 M. Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht (JusEccl 114), Tübingen 2016, 297.

22 So D. Wendebourg, Kirche, in: A. Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 32017, 452; vgl. 458.

23 J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus (EKK XV), Zürich 1988, 262.263.

24 1. Tim. 1,12; 2,7; 2. Tim. 1,11 (s. Anm. 11).

25 J. Roloff, Kirche (s. Anm. 1), 262.265.

26 J. Roloff, Kirche (s. Anm. 1), 264; vgl. M. Theobald, Dienen (s. Anm. 1), 96.100.187f.

27 Vgl. U. Heckel, Einführung, in: B. Ego/U. Heckel/Ch. Rösel (Hg.), Stuttgarter Erklärungsbibel, Stuttgart 2023, 19-28 (vgl. 1932.1944).

 

Über die Autorin / den Autor:

OKR Prof. Dr. Ulrich Heckel, Oberkirchenrat für "Theologie und weltweite Kirche" in der Evang. Landeskirche in Württemberg sowie apl. Professor für Neues Testament an der Evang.-Theol. ­Fakultät in Tübingen, Autor zahlreicher wissenschaftlicher und allgemeinverständlicher ­Publikationen, zuletzt als Herausgeber und ­Mitarbeiter bei der Neubearbeitung der ­Stuttgarter Erklärungsbibel 2023.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2025

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