Die Ressourcen der evangelischen Kirchen in Deutschland sind rückläufig, doch eine Minderheitenkirche in der Diasporasituation ist keine kirchengeschichtliche Einmaligkeit. Nicht zuletzt hat die Geschichte des Christentums genau so begonnen. Ernst Ludwig Fellechner erinnert an diese Anfänge, um aus ihnen für die Gegenwart und Zukunft der Kirche zu lernen.
Ich möchte ad fontes führen, in die Zeiten des Anfangs, also die ersten etwa 100 Jahre des jungen Christentums (zwischen ca. 40 und 140 n.Chr.). Nach Jesu Tod und den Berichten über seine Auferstehung zerstreuten sich die Jünger und andere Zeugen zunächst, sammelten sich aber bald wieder. Es gab noch keine Hierarchie, Organisation, Struktur – nur die Erinnerung an Jesu Worte und Taten und seine Verheißungen. Noch waren die Evangelien nicht geschrieben. In Jerusalem hielt man sich teilweise wohl zum jüdischen Gottesdienst, hielt sich an Thora und Psalmen – in der Auslegungs- und Lehrweise Jesu. Eigene Kirchen gab es noch nicht, die Taufe als Erkennungsritus der „Herausgerufenen“ begann sich erst langsam durchzusetzen. Wo traf man sich, ohne dass man sich Anfeindungen offen aussetzen musste? In den Privathäusern derer, die ein geeignet großes „Hinterzimmer“ hatten! Und da wurde nicht nur gebetet und gelehrt, erzählt und gesungen, sondern auch gemeinsam gegessen und getrunken und das Erinnerungsmahl an Jesu letzte Mahlzeit mit den Zwölfen gefeiert. Aber in der Jerusalemer judenchristlichen Altgemeinde war man sich selbst genug. Nach der Bekehrung des Paulus ging der einen anderen Weg: Er „missionierte“ von Anfang an, ging zu den sog. Heiden entlang der Handelsrouten1, knüpfte aber auch oft dort an, wo sich kleine jüdische Gemeinden in der Diaspora gebildet hatten.
Ich bin mir bewusst, dass ich auf schmalen historischen Stegen unterwegs bin, nur wenige klare valide Belege aus dieser frühen Zeit nennen kann, daher meine Phantasie zügeln muss. Was ich aufzeigen will, ist: Was können wir aus dieser Anfangszeit des Christentums lernen, das in gut 100 Jahren bereits zu einem beachtlichen Netzwerk wachsen konnte – in einer feindlichen Umwelt? Was könnte dieses Wissen uns lehren für eine Zeit, da die Volkskirche mit Kirchensteuern und Millionenzahlen zusammengebrochen sein wird? Wie könnte es gelingen, mit einfachen Mitteln und wenig Ressourcen wieder neue Strahlkraft zu gewinnen und die gute Botschaft lebendig zu halten? Sicher gibt es kein Allheilmittel und wir sollten unsere eigenen Kräfte nicht überschätzen. Aber wir sollten auch die Dynamis des Heiligen Geistes und seine Wunderkraft nicht unterschätzen. Die ersten Christen haben sich mit der Erfahrung der persönlichen Nähe Jesu, seines Scheiterns in den Augen der Menschen, aber in der Nachfolge seines Wortes und mit dem Mut seines Auftrages einfach daran gemacht, seine Taten und Verheißungen weiterzuerzählen, sich gegenseitig zu trösten und an Jesu Reich-Gottes-Hoffnung zu glauben. So ging ihnen der Mund über – und eine unglaubliche globale spirituelle Reise begann, lange bevor an Organisation, Ämter und Standardisierung des Kultus auch nur gedacht wurde.
1. Hausgemeinden
Die Literatur ist sich ziemlich einig, dass Jesus selbst keine Gemeinden gegründet, sondern eine „Bewegung vagabundierender Charismatiker ins Leben gerufen hat“2. Doch dürften sich in Jerusalem sogleich nach seinem Tod kleine Hausgemeinden gebildet haben, wo sich die Jesusanhänger zum Gebet, zum Erzählen und Erklären der Geschichten von Jesus, zum gemeinsamen Essen, Singen und Feiern getroffen haben. Rasch breiteten sie sich an der Mittelmeerküste bis nach Antiochia aus. Philemon 2 spricht Paulus diesen mit seiner „Gemeinde (ekklesia) in deinem Hause“ an.3 Hausgemeinden sind also der Kristallisationspunkt4, wo sich die ersten Früchte der Mission zeigen – und von denen weitere Ausstrahlung ausgeht.5
Noch ist „das Christentum“ keine religio licita, durfte also keinen eigenen Grund und Boden besitzen!6 Das älteste Dokument des Urchristentums für die Entstehung einer Gemeinde dürfte der wohl um 50 n.Chr. zu datierende 1. Thessalonicherbrief des Apostels Paulus sein.7 Und um 100 n.Chr. oder kurz davor existieren auch christliche Gemeinden in Nordafrika, Ägypten und einzelne im Westen des Römischen Reiches.8 Als Selbstbezeichnungen der (Haus)gemeinden finden sich zum einen „Heilige“ („hagioi“, Röm. 15,25), zum anderen „Herausgerufene“ („ekklesia“), beides Hinweise darauf, dass man sich als eschatologische Gemeinschaft verstanden hat.9
Da es in dieser Frühzeit noch keine allgemein anerkannte Ämterstruktur10 gab, wird wohl vieles mit freier „Improvisation“ und „wildwüchsiger Realität“11 im Verband der großfamiliären Hausgemeinden zugegangen sein. Ziemlich sicher ist, dass die Christenverfolgungen unter den Kaisern Nero (um 60 n.Chr.) und Domitian (Ende 1. Jh.) wiederum den „Gang der Hausgemeinden in den Untergrund“12 nötig machten.
Taufe
Der Aufnahmeritus in die (Haus)gemeinden dürfte von Anfang an die Taufe gewesen sein.13 Voraussetzung war das Bekenntnis der Sünde und der Glaube an Jesus Christus. Die Getauften gehörten nun – ohne Beschneidung und Gesetz – zum neuen Gottesvolk. Aus dieser Befreiung vom Alten erwuchs eine neue Identität, die zu einem anderen Wandel motivierte. In dem ersten archäologisch nachgewiesenen christlichen Versammlungsgebäude in Dura Europos, Syrien (ca. 250 n.Chr.), das ungefähr 80 Personen fassen konnte, wurde auch ein Baptisterium entdeckt.14
Gottesdienste
Wie haben wir uns die Gottesdienste in der Jerusalemer Anfangszeit vorzustellen? Prominentester Beleg zu dieser Frage ist Apg. 2,46. Zwar wird die Entstehung der Apostelgeschichte zwischen 80 und 90 n.Chr. datiert15, doch dürfte das dort vermittelte Wissen wesentlich älter sein. Da heißt es: „Sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel“. Das bedeutet klar, dass die ersten Christen zum Gottesdienst noch im Tempel verharrten. Das muss also vor dem Ende der Jerusalemer Urgemeinde (zwischen 66-70 n.Chr.)16 gewesen sein und „symbolisiert die Kontinuität mit Israel“17. Andererseits geht Apg. 2,46f im selben Satz weiter: „und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott“. Das ist nur so zu verstehen, dass die Vorform des Abendmahls als sakraler Erinnerungsfeier an Jesu letztes Mahl mit den Jüngern (klaiein ton arton)18 gemeinsam – wie auch immer – in Verbindung mit einem Sättigungsmahl in den verschiedenen Hausgemeinden stattgefunden hat.19
Die Atmosphäre bei diesen häuslichen Zusammenkünften wird als freudig und herzlich, also voller Gemeinschaftsgefühl und jubelndem Gotteslob beschrieben. Über einen festliegenden liturgischen Ablauf ist nichts bekannt, also dürfte eine große Gestaltungsfreiheit geherrscht haben. Aber vieles spricht dafür, wie die Neutestamentler H. Conzelmann20 und E. Lohse21 vermuten, dass viel Vorgefundenes und Bekanntes aus dem Judentum (wie atl. Lesungen mit Auslegung nach dem Schema Verheißung – Erfüllung und Psalmen) sowie bekannte mündlich tradierte Jesus-Logien und Gleichnisse, der uralte Philipperhymnus, das Vaterunser im Ablauf dieser häuslichen Gottesdienste Platz fanden. Über allem dürfte aber das Bekenntnis „Kyrios Jesus“ (1. Kor. 12,3) gestanden haben. Auch muss es Vorformen von Lehre und Auslegung gegeben haben!22
Brotbrechen
Lukas hat in die Anfangskapitel seiner Historia Apostolorum drei programmatische Summarien eingestreut, in denen jeweils die wichtigsten Charakteristika der Urgemeinde zusammengefasst werden. Das wichtigste findet sich – gleich nach dem vorangehenden Pfingstwunder und der Petruspredigt, die dieses Pfingstwunder auslegt – in Apg. 2,42-47.
Im ersten Vers sind die vier „notae ecclesiae“23, also die besonderen Kennzeichen der christlichen (Haus)gemeinden zusammengefasst: Lehre der Apostel, Gemeinschaft24, Brotbrechen, Gebet.
Kurz: Wo Jesu Leben und Sterben, Tod und Auferstehung erinnert und durch die Lehren der Apostel vergegenwärtigt wird; wo Gemeinschaft gelebt und gestärkt, das Notwendige für alle bereitgestellt wird (V. 44f); wo die Getauften sich sättigen und heiligen dürfen; wo Gotteslob gesungen und gebetet wird – da ist Gemeinde präsent und Jesus da, da herrscht Freude und Herzlichkeit, da wächst die Gemeinde sichtbar!
Im zweiten Summarium wird die Gütergemeinschaft angesprochen (Apg. 4,32). Das ist wohl von Lukas stark idealisiert. Diese Idealisierung ist aber nach Marguerat25 keine Geschichtsfälschung, sondern hat die Funktion, als „Vorbild für die Gegenwart“ zu dienen.
Das dritte Summarium (Apg. 5,12) spricht von den „Zeichen und Wundern durch die Hände der Apostel“. Dafür gilt das soeben Gesagte einerseits, andererseits weiß jeder, dass Worte und Taten heilen oder töten können.
2. Solidarität
Armenfürsorge
Ein besonderes Kennzeichen der frühen christlichen (Haus)gemeinden ist ihre Solidarität, zunächst unter ihren eigenen Mitgliedern, sodann aber auch in Bezug auf andere Gemeinden. Der sog. „urchristliche Kommunismus“ ist wohl nie soziale Wirklichkeit gewesen, und darum wurde die Gütergemeinschaft (im Gegensatz zu den späteren Klöstern!) auch kein Programm für die Gestaltung der späteren Kirche.26 Aber offenbar wurde die Unterstützung von Witwen, Waisen und Kranken, sofern sie nicht im Familienverband gewährleistet werden konnte, nun in der christlichen „Großfamilie“ in Jerusalem zum Problem. Apg. 6,1-7 beschreibt die Wahl von sieben (namentlich genannten) Diakonen, die fortan für die Armenpflege zu sorgen hatten. Zum zweiten wird wohl bei den gemeinsamen Mahlzeiten das Mitgebrachte „geteilt“. Ein drittes Indiz für die große gegenseitige Unterstützung dürfte sein, dass schon seit dem frühen 2. Jh. n.Chr. christliche Gräber in Phrygien, Konya und den römischen Katakomben archäologisch belegt sind.27 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es bereits davor eine innergemeindliche „Beerdigungsorganisation“ (wie auch immer) gegeben haben muss.
Unterstützung anderer
Hier sei nur pars pro toto28 auf die Kollekte hingewiesen, die Paulus zusammengebracht hat, und die der Jerusalemer Gemeinde überreicht wurde (1. Kor. 16,1-4). Im ganzen Kap. 9 des 2. Kor. handelt Paulus vom Segen der gegenseitigen Unterstützung durch Kollekten. Auch ist Paulus selbst für seine Missionsreisen von seinen Gemeinden unterstützt worden. Die genannte Solidarität der Christen untereinander, die aber bei der Armenfürsorge teilweise über ihren Kreis, also zu den Heiden hin, hinausging29, sprach für sich selbst. Diese praktische und freiwillige Hilfsbereitschaft war die beste (wortlose) Propaganda der Tat!
3. Mission
Wenn auch der Missionsbefehl (Mt. 28) nicht auf ein verbum ipsissimum Jesu zurückgehen dürfte, so ist doch das Weitergeben der guten Botschaft eine ureigentliche Aufgabe aller Getauften gewesen. Systematische großangelegte Missionskampagnen erscheinen erst später in der Geschichte der Kirche. Aber die in der Apg. erzählten mehreren Missionsreisen des Paulus beruhen durchaus auf Planung, gezielter Vorbereitung durch Mitarbeiterschulung usw. Es bleibt festzuhalten, dass es in der Frühzeit eine zentrale Mission nicht gab, sondern nur ein Handeln einzelner oder einzelner Gemeinden.30 Die Missionsformen waren frei, aber für den Bestand und die Ausbreitung des Urchristentums lebensnotwendig.31
Die ursprüngliche Jesusbewegung der ersten Phase in Galiläa scheint v.a. auf dem Land verankert gewesen zu sein32, war gleichwohl liberal Fremden gegenüber33. Erst in der zweiten Phase, als sie auf die Heiden übersprang, wurde aus ihr eine „universalistische“ Gruppierung, die sich v.a. auf die Metropolen stützte.34 Abschließend: Die christlichen Häuser waren feste „Anlaufstellen für die Missionare“ und „Ankerpunkte des Heils im Alltag“35.
Ich spreche hier nur von Hausgemeinden, nicht von Hauskirchen. „Hauskirchen“ haben zwar viele Überschneidungen mit Hausgemeinden der Urchristen in meinem obigen Verständnis, werden aber noch in einem ganz anderen Kontext verwendet. Zunächst will ich die Überschneidungen in späteren geheimen Zusammenkünften bei Verfolgungssituationen nennen, z.B. Waldenser (Südfrankreich und Italien), Lollarden (England), Calvinisten (Frankreich), Hugenotten (in verschiedenen europäischen Ländern). Heute gibt es viele Hauskirchen, die nur im Untergrund überleben können, v.a. in kommunistischen und islamischen Ländern sowie in China.
Ansonsten versteht man unter Hauskirchen v.a. freikirchliche kongregationalistische Gruppen, die losgelöst von herkömmlichen Gemeinden, Landeskirchen, Konfessionen und Strukturen agieren. Ihre besonderen Merkmale oder Kennzeichen sind: Ernstnehmen des „Priestertums aller Gläubigen“, keine Unterscheidung von Theologen, Pastoren und Laien, das Selbstverständnis als Großfamilie, Überschaubarkeit, enge Beziehungen, Verbindlichkeit, die Selbstbezeichnung als „wahrer Leib Christi“, charismatische Aspekte, wöchentliche Zusammenkünfte, freikirchliche Strukturen, Ablehnung von Unterhaltung und Massenmedien, viele Gemeinsamkeiten mit freikirchlichen Bibelkreisen, schlanke Organisationsstrukturen. Seit der 2. Hälfte des 20. Jh. existiert eine „Hauskirchenbewegung“, neben anderen gegründet von Karl Jörg Möckel.36
Eine Zusammenstellung der Merkmale der Hausgemeinden – im Gegensatz zu den Hauskirchen37, wiewohl es einige Überschneidungen gibt – sieht so aus: eine überschaubare und dennoch schichtenübergreifende Gruppe, große Interaktionshäufigkeit, persönliche Kontakte, affektive Beziehungen, gemeinsame Zielvorstellungen und Normen, differenzierte Rollen, Solidarität gegenüber der Umwelt, gelebte Geschwisterlichkeit, Zuflucht in Verfolgung, verlässliche Basis für Mission und Katechese, Gottesdienste, sakramentale Feiern (Taufe, Herrenmahl), Alltagszeugnis (Gebet), Mission (Verkündigung).
4. Ein Fazit für die Zukunft unserer Kirche
Was können wir heute und v.a. für die zukünftige Kirche, die unter den Bedingungen der Diaspora mit geringeren Ressourcen und ohne den Rückhalt der Kirchensteuer und staatlicher Institutionen in Bälde wird leben müssen,38 von der „Kirche des Anfangs“ lernen? Freilich sind die Bedingungen heute und werden in Zukunft politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell völlig andere sein als zu Zeiten der Urkirche. Und dennoch scheinen mir einige Beobachtungen hilfreich und bedenkenswert.
Konzentration auf das Wesentliche
Was haben die ersten Christen in den Vordergrund gestellt? Das Weitersagen der wegweisenden, rettenden Botschaft Jesu von Gottes kommendem Reich, von Vergebung, Versöhnung, Verantwortung, von Glaube, Liebe, Hoffnung, vom Heiligen Geist und ewigem Leben. Die Taufe schenkt eine neue Identität39 und gliedert in den Leib Christi ein. Die Gottesdienste mit Gotteslob, Gesang, Gebet und Auslegung trösten, stärken und vergewissern. Das Brotbrechen und Abendmahl schenken Gemeinschaft untereinander und mit dem lebendigen Herrn. Die Sorge für die uns Anvertrauten und besonders die Notleidenden – auch über die Gemeinde hinaus – sind Kennzeichen des Heils. Die Unterrichtung über das Gute und Gebotene.40 Das sind die Essentialien, die nicht aufgegeben werden dürfen – alles andere ist Luxus – muss aber nicht sein!41
Weniger Organisation und geringere Ressourcen
Am Anfang gab es noch keine Organisation, Ämter, Strukturen, Theologie, Rechtsetzung, Kirchen usw. Diese haben sich erst langsam entwickelt. Nun verschlingen sie Unsummen an Geld und Kraft, und verhindern oft, dass an der Basis das Wesentliche getan werden kann. Eine „sitzende“ und „verrechtlichte“ Kirche bietet keinen kreativen Freiraum! Daher bedarf es der gründlichen und vorurteilsfreien Evaluation, was essentiell ist für Gemeinde, und was freiwilliges, nettes „superadditum“.42
Bürokratieabbau wird dabei nicht genügen, sondern ein Durchforsten aller institutionellen Bereiche, Ämter und Werke wird notwendig sein. Dabei darf weder Sparsamkeit wegen fehlender Ressourcen, noch ein gleichmäßiges Sparen an allen Stellen das alleinige Handlungskriterium sein. Sondern zuvor muss eine Zielbestimmung und die Verständigung über das Wesentliche erfolgen, ehe Strategien entwickelt werden. Wir werden uns an eine größere Flexibilität gewöhnen und mit improvisierten vorläufigen Lösungen leben lernen müssen.
Statt der ausbleibenden bisherigen Finanzgrundlage könnte das Freiwilligkeitsprinzip sowie das „Teilen“ der Urchristen neu zu entdecken eine Chance der Zukunft sein. Und letzten Endes bedarf es der dauerhaften Entlastung derer, die für Verkündigung, Lehre und Gottesdienste zuständig sind, von den Verwaltungs- und Finanzgeschäften. Das könnte durch die Installation von (vielleicht nicht nur ehrenamtlichen) Fachleuten in regionalen Einheiten geschehen.
Überzeugende Verkündigung
Durch die eben angesprochene Entlastung können sich die Verkündigenden auf diesen Dienst besser vorbereiten und konzentrieren, der Geist in ihnen kreativer walten. Die einzigartige Botschaft Jesu von Liebe, Frieden und Gerechtigkeit muss wieder vollmächtig laut werden – nicht beliebige Themen, politische Appelle oder seichte Anbiederungen!43 Was gibt es denn Wichtigeres als die wahre Daseinsbewältigung durch den Glauben an den Erlöser zu predigen, zu lehren und vorzuleben? Was ist denn großartiger als die Umkehr der Werte dieser Welt, was durch Jesu Tod und Auferstehen manifest wird? „Das Opfer wurde zum Priester, der Gerichtete zum Richter, der Ohnmächtige zum Weltenherrn, der Ausgestoßene zum Zentrum der Gemeinschaft.“44 So wie Petrus in seiner Pfingstpredigt (Apg. 2) Traditionelles mit Neuem mischt, so muss eine gute Predigt immer an die Guttaten Gottes anknüpfen und heutige Probleme in ihrem Licht neu ausleuchten. Immer wird die Verkündigung durch ergreifende Gebete und eine darauf abgestimmte musikalische Gestaltung45 des Gottesdienstes stärker. Darum ist die spirituelle Eignung und Stärkung der Verkündigenden eine der großen zukünftigen Ausbildungs- und Fortbildungsaufgaben.
Vorbildliche soziale Arbeit
Von der Urkirche und ihren (Haus)gemeinden können wir in den zukünftig kleineren regionalen Einheiten lernen: In der Überschaubarkeit der Zahl liegt die Chance, auf die Bedürfnisse der Einzelnen genauer einzugehen. Und es gibt schon heute die Erkenntnis, dass eine überzeugende soziale Arbeit und Vernetzung der Gemeinden in die Kommunen hinein sehr positiv wahrgenommen wird. Ob Armenspeisungen, Obdachlosenarbeit, Hilfen für Geflüchtete, diakonische Arbeit46 usw. – hier wird vor Ort das Notwendige wahrzunehmen und mit dem vorhandenen Potential und den Talenten zu wuchern sein. Das hat missionarische Kraft durch Vorbild!
Hausgemeinden und Bibelkreise als „ausstrahlende“ Zentren
Etliche z.Zt. wachsende oder vollkommen stabile Gemeinden47 haben ihre Kraft durch fünf Merkmale in der Vergangenheit – oft über Jahrzehnte – aufgebaut: 1. Bibelkreise und Hauskreise, 2. spirituelle, langjährig vor Ort wirkende Pfarrpersonen, 3. Jugendarbeit (z.B. CVJM), 4. Vielfalt und Kraft ihrer Gottesdienste, 5. Werbung, neuerdings starke Präsenz in sozialen Netzwerken.
Ob sie sich dessen bewusst waren, dass sie damit viele Kennzeichen der Urgemeinde übernommen haben, weiß ich nicht. Aber mir scheint das überdeutlich. Solche Gemeinden zeichnen sich durch eine große Anzahl von Mitarbeitern in verschiedenen Gruppen und einer kommunikativen Nähe ihrer Mitglieder aus. Regelmäßig sonntäglich Kirchenkaffee, Zielgruppengottesdienste (Jugend, Taizé, Meditation u.a.), mediale Präsenz (regelmäßig wird der Gottesdienst auch gestreamt), Musikgruppen, stark besuchter Kindergottesdienst, jeden Sonntag Abendmahl (!), ein funktionierendes Gemeindebüro – das alles erlebe ich in meiner Gemeinde. Kein Wunder, dass die Hälfte der Gemeindeglieder aus anderen Mainzer Kirchengemeinden und der Region im Umkreis von ca. 30 Kilometern sich hat hierher umgemeinden lassen. In dieser Weise aufgestellte Gemeinden haben eine große „Strahlkraft“; sie missionieren – ohne zu missionieren. Und genau das war in nuce alles in der urchristlichen Hausgemeinde ebenso.
Erhalt von Schwerpunktkirchen (geistliche Zentren)
Der heutige Gebäudebestand wird dramatisch abnehmen. Und viele Steine werden sich ohne Trauer in Kapital für Menschen verwandeln lassen. Aber über eine wichtige Frage muss diskutiert werden: Welche wichtigen, besonders alten, schönen und in exponierter Lage stehenden Kirchengebäude sollen (und müssen) erhalten werden? Welche geistlichen Zentren – ob Klöster, Häuser der Stille oder Fortbildungshäuser – sollen (und müssen) erhalten werden? Denn von diesen Kirchen und geistlichen Zentren, in denen der genius loci waltet, geht eine geistliche Strahlkraft aus, und sie sind notwendig, damit sich die Glaubenden wieder aus der Stille und Buße neue Kraft holen können. Wie das gemeinsam zu finanzieren sein wird, muss geklärt werden.
Kleiner Trost am Rande: Als die DDR noch existierte und ich unsere Partnergemeinden (von Ingelheim aus waren das Mösthinsdorf und Ostrau bei Halle) besuchte, machte ich folgende Beobachtung. In einem kleinen Dorf des Kirchspiels Ostrau sollte eine alte baufällige Kirche abgerissen werden. Da passierte es, dass sich (nicht etwa aus dem Kreis des Kirchengemeinderats heraus, der die Kirche ja abreißen wollte, sondern) aus dem Kreis der Dorfbewohner eine Initiative gründete. Das waren Leute, die seit Jahrzehnten keiner Kirche mehr angehörten, aber „ihre“ Kirche als ein Stück „Heimat für alle“ empfanden. Und diese Menschen warben bei ihren nichtkirchlichen Nachbarn, sammelten Geld, überzeugten die nicht gerade für ihre kirchenfreundliche Haltung bekannte (SED-)Politik und letztlich auch die örtliche Kirchengemeinde als Eigentümer für die Restaurierung der alten Kirche. Sie leisteten unzählige Stunden auf dem Bau, organisierten das nötige Material – und nach ein paar Jahren erstrahlte wie durch ein Wunder die kleine Dorfkirche in neuem Glanz. Und sie wurde durch einen Trägerverein mit Gottesdiensten, Musik, Kulturveranstaltungen und Ausstellungen multifunktional zu einem lebendigen Dorfmittelpunkt.
Vergessen wir also nicht, dass der Geist Gottes auch manchmal da weht, wo wir ihn nicht vermuten, z.B. in nicht kirchengebundenen Menschen; dass Menschen die wichtigste Ressource der Kirche sind – nicht Steine; Menschen, die das Notwendige und Gute tun; Menschen, die das Wort weitersagen, die glauben, beten und singen, die die Hoffnung und die Liebe vorleben und die Gott zutrauen, dass er den Glauben und die Gemeinden nicht ausrotten (lassen) will.
Anmerkungen
1 Das römische Straßennetz war hervorragend ausgebaut. Siehe P. Bamm, Welten des Glaubens, 36 u.ö.
2 G. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, 1977, 14.
3 Siehe H. Conzelmann, Geschichte des Urchristentums, 1972, 91: „Große Versammlungsräume standen wohl kaum zur Verfügung.“
4 „Wichtigster Versammlungsort für die Gemeinde im frühen Christentum ist das Haus. Es stellt die soziale, wirtschaftliche und religiöse Basis in den Gesellschaften der Antike dar.“ So B. Mutschler, Hausgemeinde, WiBiLex 2013, 1.
5 A. v. Harnack, Mission und Ausbreitung des Christentums (1924) stellt S. 591ff alle Bibelstellen zusammen, in denen Frauen eine zentrale Rolle in den Hausgemeinden spielen. Zu den Frauen um Jesus im NT siehe bes. E. Moltmann-Wendel, Ein eigener Mensch werden, 1985.
6 Vgl. K. Piepenbrink, Antike und Christentum, 2007, 7.
7 Siehe E. Lohse, Das Urchristentum, 2008, 90.
8 Ebd., 93.
9 Dazu H. Conzelmann, a.a.O., 59.
10 Erst zur Mitte des 3. Jh. war die Schaffung komplett bischöflicher Gemeinden in den meisten Provinzen die Regel, „so klein auch die Zahl der Christen, die sich an einem Ort fand, gewesen sein mag“, schreibt A. v. Harnack, a.a.O., 457.
11 Beide Ausdrücke von H. Leppin, Die frühen Christen von den Anfängen bis Konstantin, 2018, 122f. Bereits H. Asmussen, Die Kirche und das Amt (1939), 58 und 293f, ist der Meinung, dass die jungen Gemeinden nicht nach einem festen Programm gestaltet waren.
12 Vgl. Mutschler, a.a.O., 2.
13 Mutschler (ebd.) mit Konversionsbeispielen.
14 Siehe Leppin, a.a.O., 127, und Mutschler, a.a.O., 3.
15 Siehe die beiden Apg.-Kommentare von Jervell (KEK Bd. 3, 1998), 86, und Marguerat (2022), 34.
16 Lohse, a.a.O., 94.
17 Marguerat, a.a.O., 134.
18 Jervell, a.a.O., 157f, spricht vom „kultischen Charakter“ des Brotbrechens.
19 Siehe Mutschler, a.a.O., 2, mit Angabe der Bibelstellen.
20 Conzelmann, a.a.O., 35, 39, 59.
21 Lohse, a.a.O., 91f.
22 Dazu A. v. Harnack, a.a.O., 611f: „Für Lehrvorträge mochte dieser oder jener Lehrer ein Schulgebäude mieten, wie Paulus in Ephesus (Apg. 19, 9)“.
23 Vgl. zum Ganzen den Apg.-Kommentar von Marguerat, a.a.O., 128-131.
24 D. Bonhoeffer stellt in seiner Publikation „Sanctorum Communio“ (DBW 1, 1986) in Anknüpfung an Augustinus die „Gemeinschaft“ als Hauptkennzeichen von Kirche in den Mittelpunkt. Kirche ist „Geistgemeinschaft“ und „Liebesgemeinschaft“ in Analogie zur Familie.
25 Vgl. 136.
26 So Conzelmann, a.a.O., 35.
27 Siehe Leppin, a.a.O., 107, 110, 115f.
28 A. v. Harnack, a.a.O., widmet ganze 50 Seiten (170-220) dem Thema „Das Evangelium der Liebe und Hilfeleistung“. Die frühe Christenheit hat sich für Liebestätigkeit durch Almosen und Kollekten, für die Unterstützung von Lehrern, Witwen und Waisen, von Kranken, Schwachen und Arbeitsunfähigen eingesetzt. Sie hat für Gefangene und Zwangsarbeiter, für Armenbegräbnisse und eine Beerdigungskasse, für Sklaven und Hilfen in großen Kalamitäten gesorgt. Auch war ihr die Gastfreundschaft und die Sorge für arme Gemeinden ein großes Anliegen. Und es scheint eine freiwillige Selbstbesteuerung gegeben zu haben. Das alles konnten kleine Hausgemeinden nur in Auswahl und übersichtlicher Form leisten, aber von großstädtischen reichen Gemeinden sind unglaubliche Summen für diese Art der Solidarität aufgebracht worden. Siehe zu Letzterem bes. 182f.
29 A. v. Harnack, a.a.O., 187, nennt dazu ein (wenn auch späteres) nichtchristliches Zeugnis!
30 So Lohse, a.a.O., 89.
31 Das betont Conzelmann, a.a.O., 60.
32 Siehe Theißen, a.a.O., 47.
33 Ebd., 54.
34 Vgl. Theißen, a.a.O., 56 u. 109.
35 Apg.-Kommentar von Marguerat, a.a.O., 134, und Mutschler, a.a.O., 2.
36 Zum Ganzen siehe den Wikipedia-Artikel „Hauskirchen“ und vgl. die Homepage von Möckels „net-church“.
37 Siehe die folgende Liste bei Mutschler, a.a.O., 3, der sich auf eine Publikation von H.-J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum, Stuttgart 1981, 101 bezieht.
38 Vgl. dazu das Manuskript von der Pröpstin für Rheinhessen und Nassauer Land H. Crüwell, Die EKHN im Jahr 2040 – Futur II aus dem Jahr 2023.
39 2. Kor. 5,17: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur“.
40 Paulus spricht oft von der „heilsamen Lehre“.
41 Siehe die beiden Artikel von M. Heymel, „Wohin sollen wir gehen?“, HessPfBl 5/2020, 193-196, und J. Wischmeyer, Die Evangelische Kirche in der Corona-Krise, DPfBl 9/2020, 567-572.
42 Vgl. Wischmeyer, a.a.O., 571.
43 Siehe den Artikel von K. Kristinová, „Das Infantil“. Beobachtungen zur Banalisierung der Verkündigung in einer Kirche des Wortes, DPfBl 3/2024, 140-143.
44 G. Theißen, a.a.O., 103.
45 So auch Wischmeyer, a.a.O., 571.
46 Wischmeyer, a.a.O., 571, fordert eine stärkere Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie.
47 Ich selbst kenne das aus eigener Anschauung und Mitgliedschaft in der Mainzer Auferstehungsgemeinde. Sie dient mir hier als Beispiel.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2025