Multiprofessionelle Teams wecken mancherorts die Hoffnung, den Personalrückgang abfedern zu können. Doch damit sind sie unterschätzt, denn sie können weitaus mehr leisten. Kybernetisch betrachtet haben sie das Potenzial, die Schwächen des Differenzierungsmodells landeskirchlicher Organisation, das gegenwärtig zu implodieren droht, zu überwinden – wie Steffen Schramm in seinem Beitrag zu zeigen versucht.*
Kybernetisch betrachtet haben multiprofessionelle Teams das Potenzial, die Schwächen des Differenzierungsmodells landeskirchlicher Organisation, das gegenwärtig zu implodieren droht, zu überwinden. Strukturell gehen sie einen Schritt über die funktional-differenzierte Kirche hinaus (1.), leitungskonzeptionell sind sie die Bedingung der Möglichkeit einer theologisch orientierten Leitung multirationaler Landeskirchen in komplexen Kontexten (2.). Ihr Gelingen braucht multirationale Kompetenz (3.). Zusammenfassend: Multiprofessionelle Teams können die Selbstgestaltungsfähigkeit der Landeskirchen stärken (4.).
1. Über die funktionale Organisation hinaus: Was multiprofessionelle Teams ermöglichen
Parochiale und funktionale Strukturen nach 1950
1950 hatte niemand die Idee multiprofessioneller Teams, denn die Landeskirchen waren noch nicht die multirationalen Organisationen, die sie heute sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich zunächst das Konzept kleinräumiger Parochialisierung in der Ende des 19. Jh. entwickelten Variante vollständig durch. Gleichzeitig stieg die Anzahl kirchlicher Handlungsfelder stark an, zum einen durch die Eingliederung der kirchlichen Vereine und Verbände, zum andern durch eine strategische Neuausrichtung der Landeskirchen. Die parochialen Strukturen, so die Diagnose, passten nicht mehr zu den funktionalen Strukturen der Gesellschaft. Um Kontakt und Kommunikation mit der sich ausdifferenzierenden Mitgliedschaft zu ermöglichen, baute man die gesellschaftliche Differenzierung innerkirchlich nach.
Kreis- und landeskirchliche Dienste entwickeln seither „Angebote“ für nach äußeren Merkmalen definierte „Zielgruppen“. Auch die Parochien arbeiten seit den 1970er Jahren stärker funktional, neue Gruppen und Kreise entstehen.1 Starke Mitglieder- und Kaufkraftzuwächse – qua Kirchensteuer und subsidiärer Finanzierung – ermöglichten eine ungeheure Ausweitung kirchlicher Arbeit – Kindertagesstätten, Landesjugendpfarrämter, Jugendzentralen, Erwachsenenbildung, Religionspädagogische Zentren etc. –, die den Aufbau großer Verwaltungen nach sich zogen.
Systemisch betrachtet: Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme zwingt eine Kirche, die am gesellschaftlichen Leben teilhaben und es mitgestalten will, die verschiedenen Kontexte durch innere Differenzierung zu verarbeiten. Um mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen und den jeweiligen Organisationen kommunizieren und die entsprechenden Leistungen erbringen zu können, müssen sie deren Rationalitäten in sich aufnehmen und bei den eigenen Entscheidungen berücksichtigen. Eine gesellschaftsbezogene Kirche wird polykontextuell und damit auch multirational.
Professionalisierung der Mitarbeitenden
Die Ausdifferenzierung kirchlicher Aktivitäten geht einher mit einer Professionalisierung der Mitarbeitenden „vom Universaldilettanten zum Spezialisten“.2 Pfarrer*innen müssen sich an außerkirchlichen Einsatzorten (vor allem Schule und Krankenhaus) entsprechende Kenntnisse aneignen. Neue Mitarbeitendengruppen treten in den kirchlichen Dienst, um in den neuen Handlungsfeldern die wahrgenommene Kluft zwischen Kirche und Gesellschaft professionell zu überbrücken. Aus der parochialen Linienorganisation der Landeskirchen wird eine funktional-differenzierte Organisation, die nach dem Additionsprinzip „neue Aufgaben/Zielgruppe – neue Stelle“ wächst.
Doch diese additive Art gesellschaftliche Differenzierung zu verarbeiten ist aus drei Gründen nicht mehr möglich: erstens wegen Ressourcenrückgängen: Mitglieder (seit 1968), Kaufkraft (seit den 1980ern), Pfarrpersonal (seit ca. 2000, beschleunigt in den 2020er Jahren). Zweitens aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen: Während in der organisierten Moderne der Nachkriegszeit Menschen ihre Individualität in Peergroups realisierten und auf zielgruppenspezifische Gruppen und Kreise ansprachen, fallen seit den 1980er Jahren durch Singularisierung3 äußere (Zielgruppen-)Merkmale und Sinnorientierung der Einzelnen auseinander. „Angebote“ für „Zielgruppen“ lösen tendenziell weniger Resonanz aus, die Kirche der Gruppen und Kreise implodiert im Generationenwechsel. In derSpätmoderne wollen Menschen weniger bei vorgefertigten „Angeboten“ „mitmachen“ als vielmehr mitgestalten, indem sie sich selbstwirksam und zeitlich begrenzt engagieren. Sie wählen aus einer Vielzahl von Optionen, was für sie Sinn macht und ihrer Selbstverwirklichung dient – auch, wenn es um Religion und Kirche geht. Drittens aufgrund neuer Leitungsherausforderungen: Im Differenzierungsmodell aus den 1960er Jahren erfolgt die Steuerung der Aktivitäten über die Berufsrolle der Mitarbeitenden. Personen sind Programme. Kontextveränderungen sollen aus der beruflichen Professionalität heraus verarbeitet werden. Die seit den 1990er Jahren signifikant gestiegene Umweltkomplexität und -dynamik kann allerdings nicht mehr von einzelnen Mitarbeitenden aus ihrer Berufsrolle heraus und mit ihren individuellen Kompetenzen verarbeitet werden. Probleme und Herausforderungen sind so groß und anspruchsvoll, dass sie nur noch in arbeitsteiliger Zusammenarbeit zu bewältigen sind – und im Zusammenwirken der unterschiedlichen Rationalitäten.
Zusammenwirken unterschiedlicher Rationalitäten
Multiprofessionelle Teams schaffen dafür die Voraussetzung. Sie beenden die Einzelkämpfer-Einsamkeit mit ihrer strukturbedingten Überforderung („eierlegende Wollmilchsau“), indem sie verschiedene Rationalitäten bündeln, um mit komplexen Situationen besser umgehen zu können.
Nach Innen ermöglichen sie Integration. Die ansonsten unverbundenen, versäult und verinselt agierenden Mitarbeitenden und Dienste bearbeiten Aufgaben gemeinsam. In Konzepte, z.B. für die Gottesdienst- oder die Konfirmandenarbeit, fließen nun alle im Team vorhandenen Kompetenzen und Rationalitäten ein und steigern die Qualität. Multiprofessionelle Arbeit ist interprofessionell und tendiert zur Transprofessionalität.4 Gemeinsam kann realisiert werden, was Mitarbeitende und Dienste je für sich nicht leisten könnten.
Nach Außen erleichtern multiprofessionelle Teams Assoziationen. Sie ermöglichen, neu und anders mit den jeweiligen Kontexten in Kontakt zu treten und sich in und für den Sozialraum, im und für das Gemeinwesen zu engagieren. Indem sie das organisationsinterne Verknüpfungspotential erhöhen, steigern sie die Eigenkomplexität des Systems (seine Fähigkeit, unterschiedliche Zustände anzunehmen), das dadurch reaktions-, anschlussfähiger und wirksamer wird, auch durch gemeinsame, polyperspektivische Wahrnehmung der Kontexte und eine höhere Anzahl von Kontakten.
Zielgruppenspezialisierte Mitarbeitende betrieben am Ende des Differenzierungsmodells das „Modell betreutes Wohnen“ oder „‚Versorgung‘ der Clubmitglieder“5, durchaus selbstbezüglich zur Verlebendigung der programmatisch intendierten „lebendigen Gemeinde.“ Multiprofessionelle Teams können durch entsprechende Aufgabenteilung undZusammenarbeit in Projekten und Netzwerken neue Gestalten kirchlichen Lebens fördern, indem sie als Infrastruktur das Engagement von (halb-)kirchlichen Menschen im Sinne des allgemeinen Priestertums unterstützen, das mit den Sinn- und Werthorizonten von Kirche kompatibel ist. Sie ermöglichen eine „Kirche der Menschen“, in der diese nicht mehr an „Angeboten“ teilnehmen, sondern ihre Sach- und Lebenskenntnisse in einem zeitlichen Umfang ihrer Wahl in Projekte, Prozesse und Netzwerke ihrer Wahl einbringen.6
„Kirche der Menschen“
Anstelle von Angeboten parochialer und funktionaler Einzelkämpfer kann sich eine kirchliche Arbeit entwickeln, die im Dialog mit den Menschen, orientiert am kirchlichen Auftrag und an der jeweiligen Situation eine für den Alltag (weniger – wie im Differenzierungsmodell – die „Freizeit“), das Leben und die Personen relevante Gestalt annimmt.
Gedacht wird nicht mehr von der kirchlichen Organisationseinheit her (Welche „Angebote“ müssen wir wie „profilieren“, damit wir Menschen „erreichen“ und sie „bei uns“ „mitmachen“?), sondern von den Menschen her. Es geht darum, die Not, die Bedürfnisse und Bedarfe der Menschen zu erspüren, eine Meile mitzugehen, geduldig zuzuhören und zu fragen: „Was willst Du, das ich Dir tun soll?“ Aber auch: „Was willst Du selbst tun?“ Als Experten ihrer Lebenswelt erhalten Menschen Raum und Unterstützung für selbstwirksames Handeln. Nicht mehr „Handlungsfelder“ oder „Einrichtungen“ (Jugendzentralen, Beratungsstellen etc.), sondern Weltwahrnehmung vom Evangelium her orientiert kirchliches Handeln. Liturgie und Diakonie, Glaube und Liebe finden zusammen und sind aufeinander bezogen.
Nicht „alles für alle“, sondern selektiv und exemplarisch
Multiprofessionelle Teams sind eine neue Struktur des Personaleinsatzes, die ein flexibles Handeln in Netzwerken und Projekten ermöglicht, indem sie multiprofessionelle Crews als temporäre, projekt- und prozessbezogene Gruppen initiiert, fördert, begleitet. Während der Begriff „Team“ eine Gleichrangigkeit der Teammitglieder, Aushandlungsprozesse und gemeinsame Entscheidungsfindung akzentuiert, konnotiert der Begriff „Crew“ zum einen, dass es auf jedem Flug eine geben muss, die für Koordination und Ergebnis sorgt, zum andern, dass in verschiedenen Situationen und Missionen wechselnde und unterschiedlich zusammengesetzte Besatzungen möglich und auch nötig sind.
So können Teammitglieder, z.B. Pädagog*innen, in besonderer Weise sozialraum- und gemeinwesenbezogene Aufgaben übernehmen und arbeitsintensive Netzwerkarbeit leisten, etwa indem sie eine multiprofessionelle Crew koordinieren, der auch kirchliche Mitarbeitende aus Diakonie, Schule, Krankenhaus sowie Ehrenamtliche angehören. So agiert Kirche als Akteurin im Sozialraum, indem multiprofessionelle Teams Initiativen und Koalitionen initiieren, makeln, ermöglichen, zusammen mit kirchlichen und nichtkirchlichen Partnern, die in kompatiblen Sinnhorizonten unterwegs sind.
Multiprofessionelle Teams bündeln Stellen und Kompetenzen, damit ein koordiniertes Handeln möglich wird, das vieles ausschließt, um Weniges zu ermöglichen, und also nicht – wie in der Differenzierungsphase – den zwischenzeitlich zum Scheitern verurteilten Versuch unternimmt, „alles“ für „Alle“ zu machen. Der Umgang mit Komplexität erfolgt nicht mehr über den Nachbau gesellschaftlicher Differenzierung, sondern über Sinn, und das heißt auch: durch Auswahl und exemplarisch.
Was am jeweiligen Ort mit den jeweiligen Menschen Sinn macht, muss entdeckt und aus Optionen ausgewählt werden. Dazu bedarf es eines kybernetischen Orientierungshorizonts. Dabei zeigt sich, dass multiprofessionelle Teams nicht nur für Gemeinden und Regionen relevant sind, sondern auch auf Kirchenkreis- und Landeskirchenebene.
2. Viele Professionen – ein Geist? Multirationalität als Herausforderung (vgl. 1. Kor. 12,4-7; 14,26c)
Eine doppelte Herausforderung
Für kirchliche Leitung stellt Multirationalität eine doppelte Herausforderung dar: Nach Außen können Entscheidungen mit Blick auf das gesellschaftliche Teilsystem A sinnvoll sein, im Teilsystem B aber Probleme aufwerfen. Denkmalschutzbehörden sehen Kirchengebäude anders als zukunftsorientierte Presbyterien und entscheiden nach anderen Kriterien. Nach Innen wird das Verhältnis der verschiedenen Rationalitäten zueinander dadurch verschärft, dass Kirchen – anders als profane Organisationen – ihre Zwecke nicht frei wählen können, sondern eine externe Leitungsvorgabe haben: den Auftrag, Gottes heilvolles Handeln in Wort und Tat zu bezeugen (Apg. 1,8). Sie können ihre Zwecke nicht frei wählen und es anstelle der Kommunikation des Evangeliums mit dem Verkauf von Nudeln probieren.
Je spezialisierter und stärker nun die fachliche Qualifikation von Mitarbeitenden, desto ausgeprägter die unterschiedlichen Rationalitäten, und desto höher die Gefahr, dass eine Integration der verschiedenen Rationalitäten nicht gelingt, am höchsten also in landeskirchlichen Zentralbehörden.7 Finanz- und Rechtsdezernate vertreten eine andere Rationalität als Gottesdienst- oder Seelsorgeabteilungen. Wie gelingt es, theologische Orientierung ohne Bevormundung nichttheologischer Sachkompetenz zu realisieren, und vice versa die optimale Nutzung nichttheologischer Sachkompetenzen zu gewährleisten, ohne die theologische Motivation und Orientierung des Ganzen aufs Spiel zu setzen und fremden Geistern zu folgen?
Dieses kybernetische Kernproblem konkretisiert sich in der Praxis kirchlicher Selbstgestaltung darin, dass die unterschiedlichen Sachfunktionen und Rationalitäten häufig erst kurz vor der Entscheidung zusammenkommen. Insbesondere landeskirchliche Leitung steht in der Gefahr, gewollt-ungewollt eine stark juristische, ökonomische und verwaltungstechnische Prägung zu bekommen.8 Auf kreiskirchlicher, regionaler oder parochialer Ebene können von pädagogischer Seite Konzepte entstehen, die nicht mehr als kirchliche erkennbar sind, während das Entscheiden und Handeln von Theolog*innen soziologisch, pädagogisch, finanziell und verwaltungstechnisch unterbestimmt ist.
Multiprofessionelle Teams als Umgang mit Multirationalität
Multiprofessionelle Teams sind die strukturelle Bedingung der Möglichkeit einer integrierten Leitungsarbeit, in der die professionsspezifischen Kompetenzen im Sinne der Bestimmung von Kirche zur Geltung kommen und der duale Entscheidungstrichter oder eine konsekutiv-lineare Anordnung von Sachfunktionen überwunden werden können.10 Sie bieten die Möglichkeit, Probleme, Aufgaben und Kontexte polyperspektivisch wahrzunehmen und Lösungen und Konzepte in reziproken Prozessen multirational zu entwickeln.
Rationalitäten sind Teil der Professionalisierung von Berufsgruppen, die in Studium oder Ausbildung entwickelt werden. Sie unterscheiden sich durch unterschiedliche Referenzsysteme, die sich durch gemeinsame Frage- und Aufgabenstellungen, beständigen Austausch und die Entwicklung gemeinsamer Argumentations- und Begründungsmuster bilden und zu beruflichen Identitäten führen.
Sollen die Unterschiede der Rationalitäten als Potentiale fruchtbar gemacht werden, bedarf es ihrer Vermittlung durch Bezug auf ein Drittes: einen gemeinsam erarbeiteten Referenzrahmen, der die „als relevant und gültig anerkannten, grundsätzlich außer Streit gestellten Bezugspunkte und Wert- und Erfolgsvorstellungen“11 enthält, die in der Alltagspraxis referenziert werden.
Referenzrahmen klären12
Vor allem Handeln ist Kirche eine Interpretationsgemeinschaft, die von der „Gott-Perspektive“13 auf Welt und Leben erzählt. Zu glauben heißt, auf der Basis der biblischen Stories einzutreten in eine neue Story mit Gott und die biblischen Geschichten im eigenen Leben und im Leben der Gemeinde weiterzuschreiben. „Entscheidend ist: Kommen ihre Motive in unserem Leben zur Geltung?“14
Die Geschichte Gottes mit der Welt ist für kirchliches Handeln und die daran beteiligten Rationalitäten Orientierung und Mitte. In ihrer Perspektive wollen grundlegende Fragen bedacht werden, die sich unwillkürlich stellen.
Multiprofessionelle Teams (und ihre Gremien) stoßen nolens volens, implizit oder explizit auf die Frage: Wer sind wir – als Parochie, Region, Kirchenbezirk, Landeskirche – und wer wollen wir in Zukunft sein? Wie verstehen wir uns und wie wollen wir uns positionieren? Was heißt für uns „Kirche sein“, Evangelium verkündigen, Christus bezeugen (normativer Sinnhorizont)? Es geht um das Warum und Wozu, um Identität, die gelebt wird (nicht wie im Differenzierungsmodell um „Profil“).
In gleicher Weise werden in der Zusammenarbeit Fragen nach sinnvollen Zielen des eigenen Handelns und der Zukunft auftauchen: Was wollen wir? Wie verstehen wir unseren Auftrag hier in unseren Kontexten? Wie soll Christus durch uns Gestalt gewinnen (Gal. 4,19)? Wie werden wir zu einem „Brief Christi“ (2. Kor. 3,2f)? Zu Salz der Erde, Licht der Welt (Mt. 5,13f)? Welches Tun halten wir für sinnvoll und geboten? Woran merken die Menschen, dass wir Kirche sind? Wann würden wir sagen, unser Handeln war „erfolgreich“, und wie schaffen wir die Erfolgsvoraussetzungen (strategischer Sinnhorizont)?
Wie gestalten wir am besten die Zusammenarbeit im Alltag und was bedeuten die strategischen und normativen Orientierungen für unsere Arbeitsstrukturen und -prozesse (operativer Sinnhorizont)?
Auch die Frage, wohin es gehen soll, stellt sich: Wo wollen wir in drei, in fünf, in zehn Jahren sein, und wie wollen wir dann sein (Vision)?
Man kann diese Fragen nicht nicht beantworten. Sie werden explizit beantwortet durch mündliche Übereinkünfte, Leitbilder und Konzepte, und implizit durch Handeln, Sprechen und Sein.
Normativer, strategischer und operativer Sinnhorizont dienen nach Innen der Selbstvergewisserung, Integration und Koordination. Nach Außen helfen sie beim Navigieren und können Menschen inspirieren und begeistern. Sie sind nicht die Summe individueller Glaubensüberzeugungen, sondern umreißen Selbstverständnis und Politik der Gemeinde, der Region, des Kirchenkreises, der Landeskirche.
Bei der Arbeit an den Sinnhorizonten sagen nicht Theolog*innen, wie es richtig ist, sondern Vertreter aller Professionen arbeiten gemeinsam an einem Orientierungsrahmen. Dabei lassen sich Theolog*innen auf finanzielle und juristische Aspekte ein, Pädagog*innen, Kirchenmusiker*innen, Jurist*innen, Verwaltungs- und Finanzfachleute reflektieren theologisch-ekklesiologische Fragen ihrer Kirche und theologisch-ekklesiologische Implikationen ihrer pädagogischen, sozialarbeiterischen, kirchenmusikalischen, finanz-, verwaltungswissenschaftlichen und juristischen Perspektive.15 Es geht nicht um theologische Dominierung, Harmonisierung oder Überkleisterung nichttheologischer Rationalitäten – womit deren Potential verspielt wäre –, sondern um die Beantwortung normativer, strategischer und operativer Fragen im Gespräch der verschiedenen Professionen und ihrer Rationalitäten miteinander und mit je konkreten Situationen und Kontexten.
3. In Christus bleiben. Multirationale Kompetenz entwickeln (vgl. Röm. 6,11; Gal. 3,26-28)
Multiprofessionelle Zusammenarbeit erfordert multirationale Kompetenz. Dabei spielen neben den genannten leitungskonzeptionellen auch sachliche, soziale, personale, methodische und personalenwicklerische Aspekte eine Rolle.16
Multirationalität anerkennen
In der Sache gilt es, Multirationalität als Faktum anzuerkennen und als Ressource zu nutzen. Monorationale Ausblendung anderer Rationalitäten führt zu sachlich suboptimalen Entscheidungen und Konzepten. Theologen, die finanzielle Aspekte ausblenden, handeln verantwortungslos. Pädagogen, Kirchenmusikerinnen, Juristen, Finanz- und Verwaltungsverantwortliche, die die theologischen und ekklesiologischen Implikationen ihres Denkens und Handelns nicht reflektieren, erschweren es ihrer Kirche, ihrer Bestimmung nachzukommen.
Gelebte eigene und fremde Rationalitäten reflektieren
Multirationale Zusammenarbeit verlangt von allen Beteiligten eine kritische Reflexion des Beitrags ihrer eigenen Rationalität zur Lösung der zu bearbeitenden Fragestellungen und Probleme. Und ebenso bedarf es der Bereitschaft, sich auf die je andere Rationalität in einer Weise einzulassen, die ihr gerecht wird. Die Reflexion der vorhandenen Rationalitäten kann sich an folgenden Aspekten orientieren:17
▮ Fragestellungen: Welche Fragen stellt sich eine Profession immer wieder? Welche zentralen Fragestellungen prägen ihr Handeln und Entscheiden?
▮ Erfolgsmaßstab: Was versteht eine Rationalität unter Erfolg? Welche Kriterien gelten? Welche Handlungen werden als erfolgskritisch angesehen?
▮ Argumente: Wie begründet eine Profession typischerweise ihr Handeln oder ihre Entscheidungen?
▮ Inkompatibilitäten: Wie müsste jemand handeln oder argumentieren, damit er von seiner Professionsgemeinschaft als „irrational“ angesehen würde? Was wird als wichtig, normal und erstrebenswert bewertet, was als uninteressant, abweichend, problematisch?
▮ Referenzsystem: An welchen Akteuren außerhalb der Organisation orientieren sich Mitarbeitende? Woher „importieren“ sie Erwartungen, Ansprüche und Werthaltungen?
Die Wahrnehmung der Unterschiede der Rationalitäten macht sensibel und kann dazu beitragen, Probleme der Zusammenarbeit nicht vorschnell zu personalisieren.
Mit Vorprägungen umgehen
Multiprofessionelle Teams sind personale und soziale Herausforderungen: Das Verhältnis der Berufsgruppen zueinander ist durch Vorerfahrungen und Vorurteile geprägt. Multiprofessionelle Teams verändern Berufsrollen und stoßen deshalb auf Widerstand.
Kirchliche Mitarbeitende, allen voran Pfarrer*innen, sind qua bisheriger Struktur geprägt von parochialem und auch funktionalem Einzelkämpfertum. Für sie stellt sich die Frage: Will ich multiprofessionelle Zusammenarbeit? Bin ich bereit, den Dienst zu teilen, nicht die einzige zu sein, auf Augenhöhe mit anderen Berufsgruppen zu arbeiten? Nichttheolog*innen müssen sich fragen: Bin ich bereit, mich auf Fragen nach (theologischen) Sinn- und Werthorizonten einzulassen?
Für die Zusammenarbeit hilfreich ist die Wahrnehmung von und der Umgang mit impliziten Zuschreibungen:
▮ Eigene Einstellungen zu anderen Berufen beobachten.
▮ Stereotypen hinterfragen („Pfarrer, Kirchenmusiker … sind immer …“).
▮ Legitime Einschränkungen anerkennen: Je stärker die Spezialisierung und Professionalisierung, desto ausgeprägter die Rationalität und ihre prägende und einengende Wirkung.
▮ Eigene Zuordnung von Phänomenen zu bestimmten Rationalitäten mit anderen teilen und so reflektieren.
▮ Eigene Handlungsmuster explizit machen (erklären, warum ich auf eine bestimmte Weise Dinge tue, Situationen interpretiere, Entscheidungen fälle).
▮ Urteile vermeiden und ein weites Herz zu haben, weil Rationalitäten auch mit Identität zu tun haben.
▮ Unterscheiden zwischen Rationalitäten auf der einen, Interessenskonflikten und Meinungsverschiedenheiten auf der anderen Seite.
▮ Gemeinsame Handlungsmuster suchen.
Neue Formate und Praktiken des Arbeitens entwickeln
Die unterschiedlichen Logiken multiprofessioneller Teams brauchen methodische Scharniere, Formate praktischen Arbeitens, die alle einbinden und dafür sorgen, dass die Rationalitäten zum Zuge kommen. Methoden der Entscheidungsfindung wie systemisches Konsensieren oder Geistliche Unterscheidung, Methoden prozesshaften Arbeitens wie z.B. agiles Projektmanagement helfen, die Potentiale der neuen Personaleinsatzstruktur „Multiprofessionelles Team“ für eine sich erneuernde Kirche zur Geltung zu bringen.
Aus-, Fort- und Weiterbildung multiprofessionell ausrichten
Multiprofessionelle Zusammenarbeit wird gefördert durch berufsgruppenübergreifende Aus-, Fort- und Weiterbildung, wo sich Teilnehmende sowohl persönlich als auch hinsichtlich ihrer Professionsrationalitäten bewusst kennenlernen können. In Praxis-Projekten können komplexe Fragestellungen, Herausforderungen und Aufgaben gemeinsam bearbeitet und der Umgang mit multiplen Rationalitäten eingeübt werden. Mehrfachqualifikationen durch ergänzende Studiengänge oder Weiterbildungen fördern die „Mehrsprachigkeit“ kirchlicher Mitarbeitender.18
4. Multiprofessionelle Teams – Selbstgestaltungsfähigkeit im Sinne des kirchlichen Auftrags wiedererlangen
Zusammenfassend: Der Begriff „Multiprofessionelle Teams“ wird untauglich, wenn er auf jede Gruppe bezogen wird, in der Menschen mit unterschiedlichen Berufen zusammensitzen (z.B. Presbyterien) oder wenn Pädagog*innen theologisch zugerüstet werden und mit Theolog*innen zusammen de facto als Pfarrer*innen arbeiten.
Der Begriff „Multiprofessionelle Teams“ gewinnt Prägnanz, wenn er auf die Arbeits- und Entscheidungsorganisation bezogen wird. Die Arbeit wird nicht mehr von Einzelnen in ihrer Berufsrolle monorational erledigt, sondern von verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Qualifikationen in einem Team. Entscheidungen werden nicht mehr in einem dualen oder konsekutiv-linearen Verfahren, sondern polyperspektivisch und reziprok verfertigt. – So gesehen sind multiprofessionelle Teams ein Element einer sich erneuernden landeskirchlichen Organisation. Ihr Anlass mag der Pfarrer*innenrückgang sein, ihre Chance liegt in neuer (Selbst-)Gestaltungsfähigkeit im Sinne des Auftrags der Kirche – zur organisationalen Ermöglichung allgemein-priesterlichen Engagements im weiten Horizont des Narrativs des dreifaltigen, neuschaffenden Gottes.
Anmerkungen
* Der Artikel wurde verfasst auf Anfrage des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, Hannover. Erstveröffentlichung in: Hofmeister/Lämmlin/Luckardt/Schendel/Sendler-Koschel (Hg.), Zusammen schaffen wir es! Multi- und interprofessionelles Arbeiten in Kirche und Diakonie (SI-Diskurse Bd. 3), Leipzig 2022, 267-280.
1 Vgl. Wolfgang Lück, Praxis: Kirchengemeinde, Stuttgart u.a. 1978.
2 Vgl. Dieter Aschenbrenner/Gottfried Buttler, Die Kirche braucht andere Mitarbeiter. Vom Universaldilettanten zum Spezialisten. Analysen, Thesen und Materialien zum Berufsbild und zur Ausbildung des kirchlichen Mitarbeiters im Gemeindedienst, Stuttgart 1970. Dieter Aschenbrenner/Karl Foitzik (Hg.), Plädoyer für theologisch-pädagogische Mitarbeiter in der Kirche, München 1981.
3 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017.
4 Um dies zu betonen, spricht die EKvW generell von interprofessionellen Teams: https://ipt.ekvw.de/. Zur Begrifflichkeit: Gunter Schendel, Multiprofessionalität und mehr. Multiprofessionelle Teams in der evangelischen Kirche – Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven, SI Kompakt Nr. 3/2020, 3ff.
5 Thomas Hirsch-Hüffel, Die Zukunft des Gottesdienstes beginnt jetzt, Göttingen 2021, 189.
6 Vgl. Reckwitz, a.a.O. (wie Anm. 3), 196ff, 201ff.
7 Desintegrierende Tendenzen verschiedener Professionen und Rationalitäten werden bereits 1982 in der EKD-Denkschrift „Zusammenhang von Leben, Glauben und Lernen. Empfehlungen zur Gemeindepädagogik“ benannt. Neue Mitarbeitende fühlten sich ihren Fachbereichen und Verbänden „… weit stärker verbunden als der örtlichen Gemeinde und ihrer Arbeit. Wir stehen vor einem Dilemma: Einerseits zeugt diese Entfaltung und Differenzierung von der Bereitschaft der Gemeinden und Kirchen, sich auf die Herausforderungen unserer Zeit einzulassen und auf die Not der Menschen einzugehen. Andererseits haben sich viele Mitarbeitergruppen und Arbeitsfelder verselbständigt, die eigentlich einzelne Aufgaben stellvertretend für die Gesamtgemeinde, aber in ihrem Auftrag und aus dem gemeinsamen Glauben heraus erfüllen sollten. … Vielen Mitarbeitern, die für ihr Arbeitsfeld fachlich ausgebildet sind, fällt es schwer, die übergreifende gemeinsame Aufgabe zu sehen und ihren Auftrag aus dem Evangelium zu begründen und auf die Gemeinde zu beziehen.“ (zitiert nach: Kirchenamt der EKD, Denkschriften, Bd. 4/1, Gütersloh 1987, 218f). Wolfgang Steck spricht von der „doppelten sozialen Verankerung“ der Professionen. Mitarbeitende seien „gleichzeitig den ideellen Grundsätzen der religiösen Organisation wie den pragmatischen Eigengesetzlichkeiten professionellen Berufshandelns verpflichtet.“ (Ders., Praktische Theologie Bd. 1, Stuttgart 2000, 427)
8 Eine Variante des dualen Entscheidungstrichters ist die konsekutiv-lineare Anordnung von Sachfunktionen im Gestaltungsprozess, die zu bürokratischen Deformationen theologisch und ekklesiologisch motivierter Konzepte führen kann; vgl. Steffen Schramm, Kirche als Organisation gestalten, Berlin 2015, 621f.
9 Eigene Darstellung nach Alfred Jäger, Konzepte der Kirchenleitung für die Zukunft, Gütersloh 1993, 150.
10 Vgl. Schramm, Kirche als Organisation gestalten (wie Anm. 8), 622-630.
11 Johannes Rüegg-Stürm/Simon Grand, Das St. Galler Management-Modell, Bern 32017, 178.
12 Vgl. Schramm, Kirche als Organisation gestalten (wie Anm. 8), 630-681. Zur Frage integrativer Strukturen a.a.O., 658f.
13 Dietrich Ritschl, Gotteserkenntnis durch Wiedererkennen (1994), in: Ders., Bildsprache und Argumente. Theologische Aufsätze, Neukirchen-Vluyn 2008, 5-15, 7f.
14 Gerd Theißen, Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus, Gütersloh 2012, 263.
15 Das Pfarrer*innen- und Gemeindebild von Jurist*innen z.B. ist gestalterisch höchst wirksam und bedarf deshalb der Reflexion. Diese kann nicht nur unter juristischen oder kirchenrechtlichen Gesichtspunkten erfolgen, sie muss auch systematisch- und praktisch-theologische, kirchentheoretische und kybernetische Aspekte einbeziehen. Es bedarf einer „integrierten“ Betrachtung.
16 Vgl. dazu auch: Steffen Schramm, Engagierte für die Gestaltwerdung des Leibes Christi, in: Peter Burkowski u.a., Familienorientierung in der Kirche groß machen. Evangelische Arbeitgeber*innen zwischen Innovation und Tradition, Leipzig 2022, 104-126.
17 Vgl. Kuno Schedler/Johannes Rüegg-Stürm (Hg.), Multirationales Management. Der erfolgreiche Umgang mit widersprüchlichen Anforderungen an die Organisation, Bern 2013, 50.
18 Hendrik Höver, Wirksam entscheiden. Handbuch für Führungskräfte in der Sozialwirtschaft, Stuttgart 2018, 180f.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2025