Die Räume, in denen wir uns derzeit bewegen – ob in den Kirchen in unserem Teil der Erde, ob in unserer Gesellschaft oder im weltweiten Horizont – sind durch Gefahr, durch Abbrüche und drohenden Identitätsverlust gekennzeichnet. Es sind Räume radikalen Wandels. Michael Lipps fragt, was uns in diesen Zeiten Orientierung und Selbstsicherheit geben kann.
Wir können keinen Schritt bewusst tun, ohne zu wissen, warum.
Wenn wir den Grund vergessen haben, bleiben wir stehen.
Erst wenn wir wieder wissen, was wir wollten, gehen wir weiter.
Wir müssen, um handeln zu können,
verstehen, was wir wollen und tun. Peter Bieri1
Es geht, ob wir wollen oder nicht, in unserem Leben, in unserem Lieben, im Arbeiten immer um Veränderung. Alles wandelt sich, ist in Veränderung begriffen.2 Die Räume, in denen wir uns derzeit bewegen – ob in den Kirchen in unserem Teil der Erde, ob in unserer Gesellschaft oder im weltweiten Horizont – sind durch Gefahr, durch Abbrüche und drohenden Identitätsverlust gekennzeichnet. Es sind zugleich Räume des Möglichen, des noch nicht Gelebten: Da warten Mutanwandlungen und Experimentelles, da spicken manchmal auch schon Innovatives und Altbewährtes neuinterpretiert hervor. Werte und Wichtigkeit in meinem Leben, in unserem Zusammenleben, in meinem Arbeiten wollen hinterfragt werden, oft unter enormem innerem und äußerem Druck. „Wir müssen, um handeln zu können, verstehen, was wir wollen und tun“ – oder wir erleben uns als Getriebene.3 Erst wenn wir um unsere Wünsche und unsere Motivationen wissen, unsere Enttäuschungen artikulieren, unsere Absichten klären, wenn wir teilen, was uns schmerzt, was uns freut, fühlen wir uns erfrischt, richten wir uns auf.
Selbstfürsorge
Selbstfürsorge (self care), Psychohygiene, Selbstmanagement – Begriffe, die dafür stehen, auf mich zu achten, in gutem Kontakt zu mir und auch zu anderen zu sein. Insbesondere der Begriff des Selbstmanagements weist auf meine Verantwortlichkeit in der Selbstfürsorge hin: Wie nehme ich Verantwortung für mich, mein Leben, meine Beziehungen wahr? Was benötige ich, um einen guten Stand, einen aufrechten Gang zu haben?
Welch ein Glück, dass wir auf zunehmende Arbeitsverdichtung, auf den Bedeutungsverlust der Kirchen mit wachsender Sensibilität auf die gesundheitlichen, die sozialen, die gesellschaftlichen Schattenseiten neoliberalen Wirtschaftens antworten, wenn auch oft in einem Last-Minute-Modus. Es sind in unserem Berufsfeld nicht erst die möglichen drei Tage im Jahr zur Salutogenese für Pfarrerinnen und Pfarrer, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, zu nennen,4 es ist vor allem die Möglichkeit, alltagsbegleitend Supervision zu erhalten: Was in unserer Kirche inzwischen als selbstverständlich gilt, ist in vergleichbaren Professionen bei weitem nicht Standard, nicht in Kliniken, nicht in Schulen, nicht bei Gerichten.
In der Seelsorge und in Supervisionen kommt mir häufig entgegen, was seit der Antike zur Idee vom guten Leben gehört: sich um sich selbst kümmern, die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen, Wünsche ernstnehmen, eigene Grenzen anerkennen, sich abgrenzen. All dies kennen wir aus Ratgebern, die sich mit Psychohygiene beschäftigen, die drohende Kollapse abzuwenden suchen; wir kennen es aus der Burnout-Prophylaxe.
Sorgen – Stärken – Selbstleiten
Sorgen – mit den entsprechenden Wortverbindungen, allen voran die Seelsorge – ist hier ein an erster Stelle und gerne gebrauchtes Wort. Gleichwohl scheue ich mich, in den Kontext eines gelingenden Für- und Miteinanders den Begriff „sorgen“ als Leitwort zu nehmen. Wenn wir von „sorgen“ sprechen, denken wir zuallererst an eine Art Passiv: Es geht darum, dass jemand geschützt werden muss. Es geht darum zu hegen, zu pflegen, zu betreuen. In der Beratungstätigkeit wird dadurch das Gefälle, das in asymmetrischen Beziehungen eh vorhanden ist, leicht verstärkt. Da kann sich, wider alles bessere Wissen, Paternalistisches einschleichen – wo doch Kooperation, ein Miteinanderwirken gefragt ist. Dennoch, dass sich jemand um mich kümmert, dass ich mich um mich, um einen Andern sorgen darf und kann, gehört zu den Essentials unseres Seins.
Eine andere, weniger genannte Seite ist mir ebenso wichtig, liegt mir oft sogar näher. Im Unterschied zum „Sorgen“ sehe ich darin ein Aktivierendes. Das ist der Begriff des „Stärkens“. Ich möchte ihn komplementär zu dem des „Sorgens“ verstehen. Stärken heißt: jemanden darin unterstützten, sich zu stabilisieren, zu kräftigen, zu erfrischen, sich aufzurichten. Verschüttete Zugänge zu Ressourcen werden freigelegt, Fähigkeiten können wieder genutzt werden, neue werden erworben. In welchen Beratungsformaten auch immer: es geht darum, den Andern, die Andere in seiner, in ihrer Bedürftigkeit zu sehen, ernst zu nehmen, sich zu kümmern. Vor allem aber geht es darum, den Andern, die Andere in seinen, in ihren Möglichkeiten zu stärken, die eigene Kraft (wieder) zu spüren – die Körperspannung hilft im Sich-Halten und im Sich-Bewegen, die Stimmung bessert sich, der Gang wird leichter. Die angemessene Intervention in der Beratung ist dann nicht oder eben nicht nur: „Was brauchen Sie?“ Mit ihr sind wir nahe an den Bedürfnissen und den Wünschen. Es gilt bei dieser Fragerichtung allerdings aufzupassen, dass wir das genannte Gefälle nicht verstärken. Wir könnten die Erwartung wecken, dass wir, was gebraucht wird, auch geben können. Deshalb halte ich es für angemessen zu prüfen, wo das Stärken das Prae hat: „Wie kann ich Sie unterstützen?“5 ist dann die angemessene Frage.
In der Themenzentrierten Interaktion sprechen wir von der notwendigen Einübung in Selbstleitung. Darin lebt ein emanzipatorischer Impuls: Leite dich selbst. „Sieh nach innen, sieh nach außen und lerne dich selbst bestmöglich zu entscheiden.“6 Oder, wenn es selbstreflexiv ist, wenn es um mich geht: Ich schaue nach innen, höre auf das Gewirr der Stimmen in mir, schaue nach außen, und entscheide dann über den nächsten Schritt. Zum einen also: „Wie sorge ich für mich?“ Zum andern: „Was stärkt mich, wie kann ich mich stärken?“ Oder eben, wenn es um andere geht, „Wie kann ich Sie unterstützen?“ Im Sorgen und Stärken liegt ein Schlüssel für Lebensfreude und Energie. So entsteht Selbstbewusstsein: ein Bewusstsein der Interdependenz – von Angewiesensein, von Abhängigkeit, von Verbundenheit.
Balancieren – ein rechtes Maß finden
Im mich selbst und andere Stärken geht es um das rechte Maß, darum, mein Maß zu finden. Das Maß finden gehört zur Kunst des Balancierens. Balancieren heißt: Wie es ein Zuviel gibt, so gibt es auch ein Zuwenig. Etwa zu viele Aufgaben oder zu wenig. Zu viel Zeit mit Kindern oder Enkelkindern (und damit zu wenig Zeit mit Peers oder für die Aufgaben, die anstehen) oder zu wenig Zeit mit ihnen. Stimmt das Gleichgewicht? Genügend Ausgleich? Gibt es eine Störung des Gleichgewichts? Zu viel Aktivität? Zu wenig Ruhe?
Das angemessene, das für das Zusammenspiel, das im Miteinander gültige Maß wird jede und jeder für sich finden müssen. Regelungen für alle, etwa was den Umfang einer Agenda, was Arbeitszeiten angeht, sind hilfreich, mögen Orientierung geben. Sie werden die Aufgabe nicht ersetzen, das meinen Überzeugungen, meinen Neigungen, den Aufgaben, die ich für wichtig erachte, der Situation, in der ich mich befinde Entsprechende, das meinen Kräften Gemäße zu finden, zu erproben, zu leben. Freiräume und Handlungsspielräume aufzuspüren, zu entdecken, zu erfinden. Im Balancieren geht es um Veränderung, um Entwicklung, ganz besonders in „liminalen Schwellenräumen“7.
Liminalität
Liminalität beschreibt zunächst den Übergang von einer Phase menschlichen Lebens in die nächste – wir haben als Pfarrerinnen und Pfarrer viel Erfahrung in ihrer rituellen Gestaltung. Das πάντα ῥεῖ Heraklits erleben wir heute durch die Globalisierung, durch den Raubbau an der Natur in einer bis in unsere Generationen hinein nicht vorstellbaren, menschenverursachten Weise, gleichwohl es schon immer ein Kennzeichen der Schöpfung ist. Leben heißt Veränderung, heute mehr denn je: „Wirtschaft, Finanzen und Informationen werden heute vorwiegend als in permanenter Wandlung verstanden. Die Gesellschaft als solche ist unterwegs; und Liminalität ist nun zum zentralen Denkbild, zum vorherrschenden Zustand der heutigen Weltkultur geworden, und hat die feste Struktur an den Rand gedrängt.“ Liminalität, ausgelöst durch den drohenden Klimakollaps und die Corona-Erfahrungen bei uns, durch politische und wirtschaftliche Verwerfungen, prägt Biographien, wirkt bis in die persönlich auszutragenden Krisen hinein. Was sollte für unsere Kirche anders gelten als für die Gesellschaft? Und für uns selbst?
Unterwegssein und dynamische Balance
Unterwegssein ist eine der Metaphern für Liminalität – irgendwo zwischen Aufbruch und Ankommen. Der Schwellenraum ist, als eine Übergangs- oder Zwischenphase, gekennzeichnet durch Unsicherheiten. Alte Ordnungen, alte Konzepte tragen nicht mehr. Abschiede, Trennungen sind angesagt. Der Schmerz will expressiv gelebt werden. Eine Übergangsphase ist gekennzeichnet von Resignation, von Fluchtimpulsen und Depression, von Ratlosigkeit und Sinnsuche. Es kommt darauf an zu lernen, Unsicherheit auszuhalten.8
In diesem Raum grundlegender Veränderung entsteht im Ende ein Neues, ein Anderes. Wovon müssen wir uns lösen, damit Hoffnung neue Nahrung bekommt? Liminalität fordert, nach dem Sich-Einfinden im Fragmentarischen des Lebens, ein Einschwingen in das Fluide, in das Prozesshafte, in das Vergehen und das Werden. Das ist das Potenzial des liminalen Raums: In der Gefahr wächst auch ein Gefühl, ein Hindenken an das Mögliche. Der liminale Raum ist eben auch gekennzeichnet durch die Lust am Experimentellen, dem Wagnis von Innovation, ja, durch trial and error, getragen von Neugierde und Staunen, von Wagemut und Demut.
Im liminalen Raum ist Balancieren besonders anspruchsvoll. Hilfreich finde ich den Begriff der Dynamischen Balance. Dynamische Balance ist ein Fachbegriff der Themenzentrierten Interaktion (TZI). Mein Fokus liegt hier nicht auf seiner Bedeutung für die Methode der TZI, sondern – im Balancieren der Pole, der Schwingungen des Lebendigen – in seiner Bedeutung für Persönlichkeitsentwicklung und Alltagsgestaltung. Dynamische Balance hat mit Statischem nichts im Sinn, der Ausgleich lebt gewissermaßen vom Ungleichgewicht. Die einzelnen Pole wollen Beachtung, wollen durchlebt werden. Den Dysbalancen verdanken wir das Ekstatische, die Lust am Außer-sich-Sein, aber auch den Strudel von Angst und Gefahr. So werden wir uns ihnen nicht auf Dauer extensiv hingeben, wir werden immer wieder den Ausgleich suchen.
Ich entfalte einige Inspirationen aus der TZI, lege dann mit Blick auf das Konzept des Ubuntu eine afrikanische Perspektive dazu und frage, ausgehend von Henning Luthers Überlegungen zu „Identität und Fragment“, nach dem Stärkenden im Alltag.
Das Chairpersonpostulat der TZI: „Leite dich selbst“
Die Themenzentrierte Interaktion (TZI) ist ein von Ruth C. Cohn begründetes, frühes systemisches, wertegebundenes Konzept. Es zielt auf ein ganzheitliches Arbeiten – im Lehren und Miteinander-Lernen, im Führen und Leiten, in der Beratung. Weiterentwickelt im Ruth-Cohn-Institute for TCI International9 werden in jüngster Zeit der gesellschaftstherapeutische Anspruch und das gesellschaftspolitische Potenzial der TZI neu entdeckt.10 Grundlegend ist das Denken in Gegensatzeinheiten. Das kommt vor allem im ersten der drei Axiome zum Ausdruck: „Der Mensch ist … gleicherweise autonom und interdependent. Die Autonomie des Einzelnen ist umso größer, je mehr er sich seiner Interdependenz mit allen und allem bewusstwird.“11
Im Zusammenhang dieses Beitrags hebe ich auf das sog. Chairpersonpostulat ab. In einer kurzen Fassung heißt es: „Sei deine eigene Chairperson. Sei dir deiner inneren Gegebenheiten, deiner Geschichte und deiner Umwelt bewusst. Nimm jede Situation als Angebot für deine Entscheidungen. Nimm und gib, wie du es verantwortlich für dich selbst und andere willst und weder der Natur noch anderen Lebewesen schadet.“12 – Leite dich selbst.
Im Balancieren ist die Selbstleitung ein anspruchsvolles und auch beglückendes Unternehmen. Was die Innenschau, die vielen widerstreitenden inneren Stimmen angeht, können wir bei Friedemann Schulz von Thun, einem Schüler von Ruth Cohn, viel lernen.13 Was so einfach einherkommt, erfordert einen lebenslangen Lern- und Entwicklungsweg. Selbstleitung will geübt werden: „Übe dich, dich selbst und andere wahrzunehmen …“14 Üben erfordert Ausdauer und Kontinuität.
Das Postulat lässt sich vielfach variieren – es gibt keinen festen Kanon und je nach Situation werden wir neue „übende Aufmerksamkeiten“ entwickeln. Wenn ich mit Ausbildungsgruppen in der Telefonseelsorge gearbeitet habe, in der Fortbildung, wenn ich Workshops zur Teambildung leite, in TZI-Ausbildungskursen ist einer der stimulierenden Sätze für die Teilnehmenden: „Ich akzeptiere mich wie ich bin – was meine Wünsche, mich selbst zu ändern, einschließt.“ Das aktiviert, bringt in Bewegung. Im ersten Teil klingt es so banal, dass es in jedem Ratgeber für Lebensgestaltung stehen könnte. Der zweite Teil aber verlockt zum Aufbruch, zu einem lebendigeren, erfüllenderen Leben.
Verlockungen zu einem erfüllteren Leben
Überhaupt: Es geht nie um Ratgeberei, sondern um „Verlockungen zu einem Leben, das noch aussteht und noch nicht versucht wurde.“15 Solche Verlockungen werden ohne die nötige Aufmerksamkeit durch Üben leicht überhört.
Ich füge hier aus der Vielfalt möglicher Übungssätze beispielhaft ein paar wenige an:
▮ Höre auf deine inneren Stimmen, deine verschiedenen Bedürfnisse, Wünsche, Motivationen und Ideen.
▮ Nimm und gib, wie du es verantwortlich für dich und andere willst.
▮ Je mehr du dir eine offene, suchende Haltung bewahrst, umso leichter wird es dir, offen und tolerant mit anderen zu sein.
Es wird deutlich, dass, wenn ich mich auf solche Verlockungen zu üben einlasse, es um eine vertiefte Selbsterfahrung geht, um das In-Kontakt-Kommen mit meinen Prägungen, mit meinen Entwicklungswünschen, oft auch um Entwicklungsnotwendigkeiten. Das für mich Faszinierende daran ist, dass Selbsterfahrung im Sinne der TZI immer zugleich auch Welterfahrung ist: „Autonomie (Eigenständigkeit) wächst mit dem Bewusstsein der Interdependenz (Allverbundenheit).“16 Die TZI hebt auf das Entwicklungspotenzial von Einzelnen und Gemeinschaften ab – und beginnt beim Einzelnen: Je stärker das Ich, desto kraftvoller die Gemeinschaft. Oder, nochmals Ruth Cohn: „Ich erlebe, dass ich umso autonomer bin, je mehr ich mir meiner Interdependenz bewusstwerde, und umso gemeinschaftlicher, je mehr ich mein Eigensein pflege.“17
Ubuntu – ein Geschenk Afrikas an die Welt
In der Vorbereitung einer Besuchsreise nach Südafrika vor ein paar Jahren hat mich eine Kollegin aus Hessen auf ein binationales homiletisches Forschungsprojekt aufmerksam gemacht, dessen Ergebnis in einem Buch sie mir empfahl: „Was die Welt zum Narren hält. Predigt als Torheit“.18 Charles L. Campbell und Johan H. Cilliers, ein Theologe aus Arkansas und ein Theologe aus Südafrika, der eine US-Amerikaner, der andere ein Afrikaaner19, versuchen, „die närrische Praxis des Predigens zu verstehen, zu erklären, zu lehren.“ Sie sagen: „Es ist gut, aus unseren theologischen Sicherheiten herausgerissen zu werden, aus unserer klaren Identität in den Fluss eines liminalen Evangeliums.“20 Beide eint ihr Interesse an einem „liminalen Schwellenraum“, einem „Raum, wo Veränderung, grundlegende Umwandlung stattfinden kann. Dort ist der Geist aktiv, hält die Gläubigen in Bewegung vom Alten zum Neuen. Und endlich sind diese Grenzräume die Räume des Narren.“21
Beide greifen unter anderem auf das Konzept von Ubuntu zurück.22 In einem Satz zusammengefasst heißt Ubuntu: „I am, because you are.“ Nelson Mandela und Desmond Tutu etwa lebten aus Ubuntu; ihre Lebensthemen waren: Wie können wir zu mehr Gerechtigkeit, Vergebung und Versöhnung finden? Ubuntu ist, so Desmond Tutu, „eines der größten Geschenke Afrikas an die Welt … Was uns Ubuntu lehren will, bringt ein Sprichwort … auf den Punkt: ‚Ein Mensch wird Mensch durch andere Menschen.‘“23 Ubuntu bietet „a corrective hermeneutic for Western salvation theology that focuses on the individual.“24 „The profound truth is, you cannot be human on your own. …Ubuntu says: Not you are human because you think, you are human because you participate in relationship.“25. „We can be human only in fellowship, in community, in koinonia, in peace.26
In der Philosophie des Ubuntu begegnet mir das Konzept der TZI aus einem anderen Kontinent, aus einer anderen Perspektive – doch nicht in der Bewegung vom Ich zum Wir, sondern vom Wir zum Ich. Ruth Cohn kann sagen: „Ich möchte, dass jeder Mensch ganz ‚Ich‘ sagen lernt, weil er nur dann seine Erfüllung finden kann; und in jedem Ich ist bereits das Du und das Wir und die Welt enthalten.“27 In Ubuntu steht das Wir vor dem Ich: Weil wir sind, bin ich.
Akzentuierung des Miteinander
Beiden Ansätzen, sowohl der TZI als auch Ubuntu, ist eine Akzentuierung des Miteinander gemeinsam. Sie unterscheiden sich im Ansatzpunkt. Wir gehen in der Regel davon aus: Wenn die Bedürfnisse und die sich daraus formenden Wünsche des Individuums gesehen und ernstgenommen werden, kann Persönlichkeitsentwicklung geschehen, wirkt das förderlich und bereichernd auf die Gestalt des Wir. In Ubuntu ist die Denkrichtung gerade umgekehrt: Wenn die Bedürfnisse der Gruppe, des Gemeinwesens, der Gesellschaft gesehen und ernstgenommen werden, haben Bedürfnisse und Wünsche der Einzelnen ihren Raum und werden respektiert. Durch Ubuntu angeregt formuliere ich: Indem ich die Bedürfnisse, Wünsche, das Wollen anderer entdecke, komme ich auch meinen Bedürfnissen auf die Spur, gewinnt mein Wünschen, mein Wollen Gestalt. Die Angst, zu kurz zu kommen, verkrümelt sich.28
Auch hier geht es um Komplementarität, nicht um ein Entweder-Oder: Das Konzept von Ubuntu lenkt die Aufmerksamkeit auf das Wir. Zum „Mich und andere stärken“ kommt ein „Einander stärken“. – Uns mit dem Konzept von Ubuntu weiter auseinanderzusetzen, uns von ihm anregen zu lassen, täte der Entwicklung einer erneuerten (kirchen-)politischen Kultur wohl. Die erkenntnisleitende Fragestellung heißt: Was erlangen wir, wenn wir die Vision eines guten Miteinanders nicht nur vom Ich, sondern stärker vom Wir her entwickeln?
Unser Leben – ein Fragment
Mich und andere stärken, einander stärken – das erfordert wieder und wieder den Abschied vom Ideal der Ganzheit und Vollkommenheit. Das Ideal der Vollkommenheit spiegelt sich, allen Erfahrungen von Gebrochenheit und Unvollkommenheit zum Trotz, im Anspruch, in den Erwartungen an uns selbst. Henning Luther wendet sich gegen die Perfektionswünsche, gegen den Zwang, dass das Leben in sich stimmig und rund sei. Wenn wir darüber nachdenken, wie wir einander stärken können, werden wir uns nicht der Suggestion hingeben, dass Wachsen und Reifen zur in sich stimmigen Persönlichkeit führt. Da würde dann alles passen. Die stimmige Persönlichkeit wäre in der Lage, was immer im Miteinander an Störungen, Konflikten und Krisen entsteht, zu bewältigen. Doch auch wenn „alles passt“, bleibt Leben komplex, unvollkommen und widersprüchlich.
Henning Luther deutet das Bild vom Leben als Fragment in zweifacher Hinsicht.29 Da sind zum einen die „Fragmente aus Vergangenheit“, „Überreste eines zerstörten, aber ehemals Ganzen“, das Fragment als Torso also, als Ruine. In jeder Phase unseres Lebens gibt es immer auch Bruch, Trennung, Verlust. Das ist der Normalfall des Lebens. Wir erleben das in Krisen von Seelsorgesuchenden, vielfach durch den Globe bedingt, in chronifizierten Krisen, hier im Unterschied zum als normal Erlebten dramatischer, drängender. Zum andern sind da die „Fragmente aus Zukunft“ – „die unvollendet gebliebenen Werke, die ihre endgültige Gestalt nicht – noch nicht – gefunden haben“. „Fragmente … weisen über sich hinaus. … Fragmente lassen Ganzheit suchen, die sie selbst aber nicht bieten und finden lassen.“
Wir sind als Einzelne nie unbeschädigt, vollkommen. Wir sind auf ein Du angelegt, wir sind für das Miteinander geschaffen. Jedes Gespräch, jede Begegnung fordert uns heraus, stellt uns in Frage. „Wir sind nur wir selbst, insofern wir verletzlich und offen sind für andere.“ Die Vorstellung von einem stimmigen Leben, in sich ruhend und rund, hieße, dass wir unser Angewiesensein auf andere leugnen, dass wir uns Andern gegenüber verschließen, dass wir uns „besonders gegenüber dem fortdauernden Leiden auf und an dieser Welt“ verschließen. Empathie ist nur möglich, wo wir uns der Brüchigkeit unseres eigenen Lebens stellen. Das Bild vom Leben als Fragment hat immer auch eine soziale Dimension: Dein Geschick ist mir nicht gleichgültig, das Geschick der Erde ist mir nicht gleichgültig. Ich lasse mich anrühren, bleibe berührbar.
Fluide und fragile Identität
Viera Pirker erweitert Henning Luthers Metapher vom Leben als Fragment durch den „Gedanken der fluiden und fragilen Identität“. So verstärkt sie „die prozessualen Aspekte der Identität …“30 Das regt dazu an, Luthers Metapher vom Leben als Fragment nicht allzu statisch zu sehen. Pirker verflüssigt, übersetzt ganz im Sinne der Notwendigkeit von Gestaltungen im liminalen Schwellenraum, Luthers Metapher in Bewegung. Identität, überhaupt das Leben prozesshaft zu verstehen führt zu mehr Beweglichkeit, vertraut den Entwicklungsmöglichkeiten. Hier gewinnt die Metapher des Unterwegsseins im liminalen Raum an Leichtigkeit, an Möglichkeiten, an Hoffnung: „Das Fragile trägt die Brüchigkeit und Bruchempfindlichkeit der menschlichen Existenz in sich, ist aber nicht – wie das Fragment – unwiederholbar gebrochen oder niemals vollendet. Identität befindet sich in fluider Bewegung und ist darin mit einer subjektiven Elastizität ausgestattet; sie changiert zwischen Wandel und Stabilität.“31
Unser Leben bleibt fragil – und zugleich voll Hoffnung. „Schmerz und Sehnsucht sind einander verschwistert.“32 In dem, worauf wir hoffen, können wir wie beim andern ganz bei uns selbst sein. So werden wir als Seelsorgende, als Beratende zu Stellvertreterinnen und Stellvertretern der Hoffnung. Wir hoffen mit dem Gegenüber, wir hoffen für ihn – und bisweilen auch an seiner Stelle. Dabei laufen in der Begegnung unausgesprochen immer auch Fragen nach mir selbst mit, nach der eigenen Motivation und der eigenen Sicht von Leben und Welt. Es ist gut, sich diese mitlaufenden Fragen bewusst zu machen: Wie steht es um mich selbst? Wie balanciere ich? Welche Hoffnung trägt und beflügelt mich? Wann und wo beschleicht mich Resignation? Wovon löse ich mich? Wofür engagiere ich mich?
Drei Schlussbemerkungen
1. Mich stärken, andere im Entwickeln ihrer Stärken unterstützen, einander stärken, das wird helfen, auf die Beine zu kommen, dem Leben standzuhalten, es zu gestalten. Die kontinuierliche Selbstreflexion will gepflegt werden – in Supervisionen, in Kursen, per mutuum colloquium, im Selbstgespräch, in Balintgruppen, in der kollegialen Intervision – wir können viele Möglichkeiten entdecken und nutzen.
2. Wenn wir uns die Vorstellung der Liminalität zu eigen machen, wird deutlich, wie wichtig in Zeiten multipler Krisen Unterbrechungen sind, etwa im Gebet, im Wandern, in der Musik. Unterbrechungen geben der Geistesgegenwart eine Chance. Unterbrechungen tun auch der Organisation Kirche gut. Die alte monastische Formel der Kontemplation und Aktion verlangt gegenwärtig mehr als sonst eine Dysbalance bei der Kontemplation – gegen das Erleben von Getriebensein, gegen das Müssen eine Haltung zu leben, die dem Kommenlassen und damit dem Intuitiven Raum gibt. Das hat Auswirkungen auf die Gestaltung der täglichen Agenda, das hat Auswirkungen auf die Fortbildungslandschaft unserer Kirche: So wichtig fachbezogene, arbeitsfeldbezogene kurze Module sind – Lernen und Veränderung will Zeit haben. Alltäglich im Wechsel von Arbeiten und Ruhen. In Zeiten der Retraite, in Exerzitien, in der Geistlichen Begleitung. In Bildungsurlaubswochen.
3. Das Fragmenthafte, das Fragile, das Fluide unseres Lebens, unseres Liebens, unseres Arbeitens in den Blick nehmen, es im Blick haben, uns damit befreunden. Es käme darauf an, sich das Gebrochene, das dem Fragment eignet, ebenso wie das Fragile und das Fluide zu eigen zu machen. Das eröffnet Perspektiven. Es bringt mehr Beweglichkeit und Lebendigkeit in die Alltage, mindert Frustrationen, macht uns offener für Künftiges – lässt uns der eigenen Berufung, in unserem Engagement gewisser und gelassener sein.
Anmerkungen
1 Peter Bieri, Wie wollen wir leben? © 2011, 35 – Der vorliegende Beitrag ist in den Badischen Pfarrvereinsblättern 7/2024 unter dem Titel „In einer Zeit des Umbruchs: Mich selbst und andere stärken“ erschienen; hier liegt er nun in einer überarbeiteten Fassung vor.
2 Eine meiner Brecht’schen Lieblingszeilen ist: „Alles wandelt sich. Neu beginnen / kannst du mit dem letzten Atemzug. / Aber was geschehen ist, ist geschehen …“ Bertolt Brecht in: Gesammelte Werke Bd. 10, 888.
3 Ich danke meinem alten Freund und Weggefährten Werner Lurk für sein umsichtiges Lektorat.
4 UrlRVO vom 13.3.2014, GVBl der Evangelischen Landekirche in Baden, 130, §4 Abs. 2.
5 Es ist die vielzitierte jesuanische Frage: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ (Lk. 18,41 par.).
6 Aus: Klärendes Interview von Irene Klein mit Ruth C. Cohn. HUB, UA, NL Cohn Nr. 11, Bl 146-156, hier: 148 – Nachlass, Quellendatei bearbeitet von Michaela Scharer.
7 Ich übernehme einen Terminus, auf den ich bei Campbell/Cilliers aufmerksam geworden bin. In: Charles Campbell/Johan Cilliers, Was die Welt zum Narren hält. Predigt als Torheit, © 2015, 41ff, und folge hier weitgehend ihren Überlegungen zu „liminalen Schwellenräumen“. In der Aufnahme der Vorstellung von Liminalität als Grenz- und Schwellenphasen beziehen sie sich auf Forschungen von Arnold von Gennep, Victor Turner u.a.
8 Recht anschaulich: Kim de Wildt, Unser heutiges Zeitalter: ein liminales Zeitalter? In: Ta katoptrizomena, Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik, Heft 90/2014 – https://www.theomag.de/90/kdw1.htm, aufgerufen am 14.08.2024.
9 Das Institut ist nach der Gründerin der TZI benannt – www.ruth-cohn-institute.org. Ruth C. Cohn (1912-2010), deutsche Jüdin aus Berlin, 1933 in die Schweiz geflohen, später nach USA emigriert, 1968 erstmals wieder in Deutschland, von Haus aus Psychoanalytikerin.
10 Eine gut lesbare, aktuelle Einführung in die TZI: Matthias Scharer in Zusammenarbeit mit Michaela Scharer, Vielheit couragiert leben. Die politische Kraft der Themenzentrierten Interaktion heute, 2019.
11 Alfred Farau/Ruth C. Cohn, Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven, 1984, 357. – „Je mehr ich der Eigengesetzlichkeit der je eigenen Perspektiven gewahr werde, umso besser kann ich Verbindungen zu den anderen Perspektiven knüpfen. Je mehr ich mir der Interdependenz der Perspektiven bewusst bin, umso mehr kann ich der Eigendynamik der je eigenen Perspektiven gerecht werden.“ Helmut Reiser, Psychoanaltisch-systemische Pädagogik. Erziehung auf der Grundlage der Themenzentrierten Interaktion, 2006, 58.
12 Ruth C. Cohn, Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. Von der Behandlung einzelner zu einer Pädagogik für alle, © 1975, 121 – hier in einer leicht modifizierten, aktualisierten Fassung. Einen breiten Bekanntheitsgrad hat das 2., das sog. Störungspostulat erlangt: „Beachte Hindernisse auf deinem Weg, deine eigenen und die von anderen. Störungen nehmen sich Vorrang.“
13 Zugleich als Einführung in die wieder und wieder einzuübende demokratische Kunst des Dialogs: Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun, Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik, © 2020.
14 Farau/Cohn, Gelebte Geschichte, 359.
15 Fulbert Steffensky, Feier des Lebens. Spiritualität im Alltag, ©1984, 113.
16 Ruth C. Cohn, Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion, 120.
17 Farau/Cohn, Gelebte Geschichte, 375.
18 Campbell/Cilliers – s. Anm. 8.
19 Afrikaaner: Die Nachfahren europäischer Einwanderer, deren Muttersprache afrikaans ist, werden als Afrikaaner oder als Afrika(a)nder bezeichnet.
20 Ebd., XII und X.
21 Ebd., 41. – „Liminal zu leben, auf der Grenze, ist sicher nicht bequem; und dennoch ist der Ort an der Grenze verheißungsvoll.“ Alexander Deeg, Leben auf der Grenze. Die Externität christlicher Identität und die Sprachgestalt kirchlicher Gottesrede. In: Identität. Biblische und theologische Erkundungen (BThS 30), hrsg. v. Alexander Deeg, Stefan Heuser und Arne Manzeschke, 2007, 277-300.
22 Im September 2022 begegnet mir das Konzept von Ubuntu in Karlsruhe wieder, in einem Workshop der 11. Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe: Healing together, der Verwundbarkeit durch storytelling begegnen – darum geht es in dem von Fulata Lusungu Moyo, einer Theologin aus Malawi, geleiteten Workshop.
23 Mungi Ngomane, I am because you are, Ubuntu – 14 südafrikanische Lektionen für ein Leben in Verbundenheit, 2019, Vorwort, 8.
24 Michael Battle, Reconciliation. The Ubuntu Theology of Desmond Tutu, Cleveland (Ohio) 1997, 5.
25 https://www.youtube.com/watch?v=0wZtfqZ271w – aufgerufen am 01.05.2024.
26 Desmond Tutu, Nobel Lecture, Dezember 1984: https://www.nobelprize.org/prizes/peace/1984/tutu/lecture/, aufgerufen am 16.08.2024.
27 Farau/Cohn, Gelebte Geschichte, 372.
28 Zum Weiterlesen: Wilhelm Gräb, The ubuntu-theology of Desmond Tutu: A theological interplay between religious pluralism and the universal validity of human rights, 2017 – https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/95281?show=full, aufgerufen am 16.08.2024.
29 Zum Folgenden s. WzM 43 (1991), 262-273, und Henning Luther, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen. In: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, © 1992, 160ff. Henning Luther greift mit dem Begriff des Fragments Gedanken auf, die in der Tradition vielfach zu finden sind, u.a. bei Paulus in 1. Kor. 13,12b oder auch bei Paul Tillich: „Das Elend des Menschen liegt in dem fragmentarischen Charakter seines Lebens und seiner Erkenntnis, die Größe des Menschen liegt in seiner Fähigkeit zu wissen, dass das Sein fragmentarisch und rätselhaft ist.“ In: In der Tiefe ist Wahrheit. Religiöse Reden 1. Folge, 9. Aufl. 1985, Nachdruck 1987, 106.
30 Viera Pirker, fluide und fragil. Identität als Grundoption zeitsensibler Pastoralpsychologie, 2013, 366.
31 Ebd.
32 Henning Luther, Schmerz und Sehnsucht. Praktische Theologie in der Mehrdeutigkeit des Alltags. In: Ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, 1992, 239-256, hier: 250. – So auch Fulbert Steffensky: „Und doch gibt es den Schmerz, den ich nicht verlernen will und der mich nicht bannen soll. Es ist der Schmerz darüber, was man im Leben verraten hat und was man dem Leben schuldig geblieben ist. So will ich die Reue nicht verlernen über alle Verletzungen, die ich Menschen, Gott und mir selbst zugefügt habe.“ In: Fulbert Steffensky, Fassen, was nicht zu fassen ist. Vortragsmanuskript, 19. Süddeutsche Hospiztage, 4. bis 6. Juli 2018 in Hohenheim, S. 2 – https://www.ev-akademie-boll.de › 06_Service › 02_Online-Dokumente, aufgerufen am 27.04.2024.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2025