In der aktuell vielfach beschworenen und debattierten Krise der Kirche und des christlichen Glaubens werden unterschiedliche Lösungswege vorgeschlagen. Doch das Problem scheint tiefer zu liegen, nämlich in einer geistesgeschichtlichen und globalen Großwetterlage, wie Winfried Maier-Revoredo zu zeigen versucht.
Kirchliche Nabelschau liegt im Trend. Wie viele Artikel im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt beschäftigen sich schon seit vielen Monaten mit der Abkehr vieler Menschen von der Kirche. Die Mitgliedereinbrüche sind dramatisch, und landauf, landab rattern die Hirne derer, die davon aufgewühlt sind und sich Gedanken machen, was hier getan werden kann oder muss. In der Ausgabe 07/2024 war dies das zentrale Thema.
All das zeugt von einer gesunden und offenen Debattenkultur, die uns guttut. Allerdings ist mir auch nicht wohl dabei, dass wir uns als Kirche mittlerweile offenbar vor allem mit uns selbst beschäftigen. Teil meiner Erfahrung als Pfarrer war leider auch, dass nicht nur die Pfarrer*innen, sondern auch die zuständigen Gremien dermaßen in Anspruch genommen werden von Pfarrplänen, Strukturdebatten, Veränderung der Parochiegrenzen und Zuständigkeiten, Gemeindefusionen und vielem anderen mehr, dass für andere Dinge, nicht zuletzt für inhaltliche Diskussionen, oft schlichtweg keine Luft mehr war. Ich wünsche mir, dass die Verantwortlichen in unseren Gemeinden irgendwann einmal wieder zum Atemholen kommen. Die ständige Nabelschau wird, wie ich fürchte, den Abwärtstrend eher noch beschleunigen.
Unverständliche Theologie?
Die Grundthese einer ganzen Serie von Artikeln in der genannten Nummer des Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatts war, dass man theologisch andere Wege als bisher beschreiten müsse, dass das Problem also in der Verpackung unserer Botschaft liegt. Die einen meinen, ganz neue Wege beschreiten und sich von den überalterten Weltbildern der Bibel verabschieden zu müssen; andere meinen, gerade in der Rückbesinnung auf Entwürfe der Vergangenheit (z.B. Schleiermacher) bzw. der Distanzierung vom Zeitgeist und der Rückbesinnung auf das „Eigentliche“ unserer Botschaft läge das Heil.
Auch mir haben unverständliche Sätze und Dogmen und eine meiner Lebenswelt fremde Kirchensprache den Zugang zum Glauben lange verwehrt. Schon von Jugend auf hat sich etwas in mir dagegen gesperrt, dass Kirchen sich an die Jungfrauengeburt klammern und die Bedeutung von Jesu Tod, ja seine Bedeutung überhaupt in Kategorien eines schon vor 2000 Jahren vergangenen jüdischen Opferkults auszudrücken versuchen. Insofern unterstütze ich prinzipiell jeden Versuch, die christliche Botschaft in der Sprache und den Bildern auszusagen, die Menschen von heute verstehen. Natürlich stellt sich dann immer die Frage, welche Relevanz biblische Aussagen mit ihren eben oft veralteten Bildern dann noch für uns haben, namentlich für uns Protestanten, die sich auf die Bibel als Grundlage berufen.
Unfähiges Bodenpersonal?
Neben der These, das abbrechende Interesse an der Kirche liege an einer unverständlichen Theologie, gibt es noch eine andere, der landauf, landab eifrig gefrönt wird: dass es an unserem Erscheinungsbild liegt, d.h. vor allem an den kirchlichen Amtsträgern, den Geistlichen und vor allem natürlich an den Kirchenleitungen. Da ist es dann immer wohlfeil, auf die Bischöfe und Oberkirchenräte und natürlich den Papst zu verweisen als den Sündenböcken der gegenwärtigen Entwicklung; wie oft habe ich in meinem Leben Witze gehört nach dem Motto: Gott ist ja ganz o.k., aber sein Bodenpersonal …! Da hat der Redende immer die Lacher auf seiner Seite.
Natürlich ist manches ein Ärgernis, was wir bei Kirchenleitungen wahrnehmen; für mich als Protestanten ist es nicht zuletzt die Reformunwilligkeit und ökumenische Blockade (etwa im gemeinsamen Abendmahl) des Vatikans oder der Umgang mit dem Thema Missbrauch in beiden deutschen Großkirchen. Aber zu glauben, wenn all dies nicht wäre, wenn auf dem Papststuhl nur ein Johannes XXIII. säße, dann wären all die Katholiken bisher nicht ausgetreten, und wenn wir auch evangelischerseits nur bessere Pfarrer und eine bessere Kirchenleitung hätten, würden die Menschen heute mit Glaubensbegeisterung unsere Kirchen füllen, halte ich für eine Illusion. Abgesehen davon, dass solche Aussagen dem positiven Wirken vieler Geistlicher nicht gerecht werden, können solche Faktoren den Unmut und die Kirchendistanz allenfalls verstärken oder im positiven Fall lindern, mehr nicht.
Geistesgeschichtliche Großwetterlage
Die genannten Erklärungsversuche greifen m.E. zu kurz. Wir machen uns etwas vor, wenn wir meinen, mit einer etwas andersgearteten Theologie oder mit cooleren Vertretern die Menschen wieder für die Kirche und den christlichen Glauben begeistern zu können. Die Krise sitzt tiefer. Sie ist Teil eines schon während der gesamten Neuzeit andauernden geschichtlichen Prozesses, in dem der Mensch sich mehr und mehr von Gott emanzipiert und selbst in den Mittelpunkt gerückt hat. Dieser begann mit der Renaissance, in dessen Kunst nun viel mehr der Mensch in den Mittelpunkt rückte als in der Kunst des Mittelalters. Er erfuhr seine Fortsetzung mit der Reformation, die das eigene Gewissen, und danach in der Aufklärung, die die eigene Vernunft zur obersten Instanz erklärte. So war es gewissermaßen die Kehrseite einiger positiver Entwicklungen, hinter die wir ja nicht zurückgehen wollen, den Menschen und das eigene Ich immer mehr in den Mittelpunkt zu rücken. Die Aufklärung geriet dabei automatisch vor allem mit der katholischen Kirche aneinander. Die Industrialisierung und Verstädterung des 19. Jh. taten ein Übriges, und auch das 20. Jh. mit seinen atheistischen und oft totalitären Ideologien und politischen Kräften. Im Osten Deutschlands haben über 50 Jahre Hitlerzeit und Kommunismus tiefe Schneisen geschlagen.
Es ist dieser jahrhundertelange Prozess der Säkularisierung, der Emanzipation des Menschen von Gott und seinem Versuch der Selbsterlösung, den wir auch heute mit den Kirchenaustritten massiv zu spüren bekommen. Diesen Prozess können wir nicht einfach umkehren mit ein paar Gemeindeprojekten, neuen Strukturen oder einer etwas anders gearteten Theologie. Auch der wütende Blick auf die Kirchenleitungen als Sündenböcke hilft letzten Endes nicht, auch wenn manches an ihnen kritisiert werden kann. Bonhoeffer sah prophetisch voraus, dass wir einer religionslosen Zeit entgegengehen. Seine Frage war, wie man in einer religionslosen Zeit von Gott reden kann. Kann man das überhaupt? Leider kam er nicht mehr dazu, dies näher auszuführen. Nach ihm haben Leute wie Harvey Cox dieses Thema aufgegriffen. Es ist also durchaus nicht neu.
Alt gewordener und junger Glaube
Inwieweit ist diese Entwicklung den Betroffenen selbst bewusst? Da bin ich sehr vorsichtig und fürchte deshalb, dass auch all die Umfragen, die Kirchenleitungen landauf, landab in Auftrag geben, um die „Wünsche“ der „Kunden“ zu ermitteln, nur sehr begrenzt helfen. Um den tieferen Gründen der Austritte auf die Spur zu kommen, müsste man bei den Befragten ja ein hohes Maß an Bewusstsein und Reflexion der eigenen Entfremdung von der Kirche voraussetzen. Die Ergebnisse solcher Umfragen besagen dann in der Regel, dass man die Gottesdienste „moderner“ gestalten sollte und dergleichen. Dies ist sicherlich hilfreich, aber letztlich eben doch Symptombekämpfung.
M.E. ist es eine Wunschvorstellung, wenn wir glauben, es liege nur an der Verpackung, und die Menschen wären in Deutschland und im restlichen Europa immer noch ungebrochen religiös; sie würden nur Anstoß an der bestehenden Institution Kirche nehmen. Wie oft habe ich in meiner Pfarrerslaufbahn von gerade eben Ausgetretenen gehört: „Gelt, Herr Pfarrer, ich kann doch auch außerhalb der Kirche Christ sein!“ Da gab es dann manchmal heftige Diskussionen, wenn die Eltern eines zu taufenden Kindes jemanden zum Paten wollten, der ausgetreten war.
Die Wirklichkeit sieht aber nach meiner Beobachtung so aus, dass die Religiosität an sich stark zurückgegangen ist bei uns. Der Glauben, der Hunger nach Gott, die Begeisterung, das „Faszinosum“ des Höheren ist uns vergangen. Wer das nicht glaubt, der möge sich einige Zeit in Länder des globalen Südens begeben und den frischen Wind verspüren, der dort in vielen Ländern die Christenheit durchweht. Ich habe dies u.a. in Tansania, in Myanmar und unter Evangelischen in Perú erlebt. Der Unterschied zu unserem eigenen Land ist unübersehbar. Dort erlebe ich Begeisterung – im wahrsten Sinne des Wortes! – und eine Selbstverständlichkeit, seinen Glauben zu bezeugen und über ihn zu reden, und selbstverständlich geht man auf Mission, d.h., versucht man den Glauben auch bislang Unerreichten zu vermitteln – nicht als berufliche Missionar, sondern als ganz normales Kirchenmitglied. Hier dagegen wollen wir in Glaubensdingen lieber in Ruhe gelassen werden und erklären deshalb auch Mission für überflüssig oder veraltet, gern unter Berufung auf die moderne Toleranz, nach der ja jeder und jede glauben darf, was er oder sie will. Schon dieser Unterschied ist für mich einer der gewichtigen Gründe, zu hoffen, dass der globale Süden dem Westen nicht in allem nacheifert, sondern umgekehrt uns neues Leben einhaucht – vielleicht auch durch christliche Migranten, die zu uns kommen?
Einige Beobachtungen aus dem globalen Süden
Der beschriebene Unterschied hängt natürlich mit mehreren Faktoren zusammen; u.a. lebt in den Menschen in vielen Regionen des globalen Südens noch eine ganzheitliche Sicht auf die Welt und das eigene Leben, die nicht auseinanderfällt in eine säkulare und eine spirituelle Sphäre. Wenn wir krank werden, forschen wir wissenschaftlich nach den Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten; in Afrika steht Krankheit auch immer in einem spirituellen Zusammenhang, und man bittet deshalb auch immer spirituelle Kräfte um Hilfe. Oft wird ein Bedürfnis nach Gemeinschaft in christlichen Gemeinden verwirklicht, das wir hier in unserer individualisierten Welt nicht (mehr) haben. In manchen Ländern wie in Myanmar ist die Erinnerung auch noch lebendig, wie sich das Leben durch die Annahme des christlichen Glaubens veränderte, dass Kopfjagd und Blutfehden ein Ende nahmen und man nun gefahrlos sein Dorf verlassen konnte, weil man im Bewohner eines anderen Dorfes seinen Nächsten und nicht mehr seinen Feind erkannte. Bei uns sind solche Erinnerungen, sofern jemals vorhanden, natürlich längst verblasst; mit dem Christentum verbinden wir hier eher eine kirchliche Institution, die uns ärgert, weil sie uns alles und jedes vorschreiben will.
Wir können natürlich weder die Weltsicht von Menschen des Südens übernehmen noch deren Situation einfach auf unsere übertragen, und ich möchte auch nicht die Christenheit des globalen Südens idealisieren und die unsere hier in Bausch und Bogen schlecht reden. Mir geht es hier darum, dass wir zunächst einmal die Tiefe der Krise begreifen – d.h., das Problem nicht nur beim Erscheinungsbild der Kirche und unserer Theologie, sondern in der zurückgehenden Religiosität überhaupt erkennen.
Dafür sprechen m.E. noch zwei weitere Beobachtungen: Zum einen müssten, wenn die Menschen so ungebrochen religiös wären, aber sich am Erscheinungsbild der etablierten Kirchen stoßen, die neu entstehenden Freikirchen einen Massenzulauf ohnegleichen erleben, wie es ja auch teilweise in Ländern des globalen Südens bei den relativ neuen Pfingstkirchen der Fall ist. Aber bei uns ist das eben nicht so. Auch die Freikirchen bleiben ein Randphänomen unserer Gesellschaft. Zum anderen habe ich in meiner jahrzehntelangen Laufbahn als Pfarrer beobachtet, dass Menschen, die aus der Kirche austraten, sich entgegen anfänglicher Beteuerungen dann meist auch nach und nach vom christlichen Glauben verabschiedeten. Ein Musterbeispiel ist hierfür der frühere Hamburger Pastor Paul Schulz, der 1979 wegen abweichender Gottesvorstellungen aus dem Dienst entlassen wurde, dann aus der Kirche austrat und mittlerweile als atheistischer Publizist hervorgetreten ist – ein Weg, den einschlagen zu wollen er selbst bei seiner Entlassung sicher noch bestritten hätte. So sind Kirchenaustritte weniger ein Phänomen einer gesunden Unzufriedenheit mit dem Erscheinungsbild der Kirche, sondern nachlassender Religiosität und nachlassenden Interesses am christlichen Glauben überhaupt.
„Renaissance der Religion“?
Die vielbeschworene „Renaissance der Religion“ ist deshalb auch nur eine Wunschvorstellung, zumindest was Deutschland und Europa anbelangt. Sie hat sich, wie schon angedeutet, in den letzten Jahrzehnten vollzogen in anderen Kulturkreisen dieser Welt, vornehmlich im globalen Süden. So ist das Christentum, im Gegensatz zu Europa, nicht zuletzt in Afrika im Wachsen begriffen. Ob man Phänomene wie die massiven Versuche Evangelikaler in den USA, auf die Politik Einfluss zu nehmen, hier auch dazu zählen kann, darüber lässt sich sicher trefflich streiten.
Auf jeden Fall ist eine Renaissance der Religion im globalen Süden ja nicht zuletzt in anderen Religionen außerhalb des Christentums zu beobachten, verbunden mit massiven Versuchen, die Politik zu bestimmen oder, anders gesehen, Versuchen der Politik, sich religiös zu legitimieren – in fundamentalistischen, nationalistischen und oft gewaltbereiten Strömungen. Die Rückkehr Khomeinis in den Iran und bald darauf die Ausrufung der Islamischen Republik 1979 kann hier als Startschuss gelten. Darauf traten fast zeitgleich die Taliban, der Hindu-Nationalismus in Indien, der buddhistische Nationalismus in Myanmar oder der radikale Islamismus in Malaysia und Indonesien auf den Plan, um nur einige zu nennen. Auch das Gebaren zumindest eines radikalen Teils jüdischer Siedler auf der Westbank fällt hier darunter.
Die Renaissance der Religion bedeutet in all diesen Ländern die Abkehr von Toleranz und Bejahung der Vielfalt, wie sie noch vor Jahrzehnten dort gelebt wurde. Dies ist eine Renaissance der Religion, die bei uns hierzulande keine Hoffnung weckt, gerade auch dann, wenn sie in Gestalt von Migranten zu uns kommt. Da sind wir hier dann eher bemüht, religiös begründete Ansprüche einzudämmen; es soll eben nicht sein, dass Schülerinnen unter Berufung auf die Religion vom Sportunterricht fernbleiben oder Lehrerinnen im Kopftuch unterrichten (wobei ich hier eher kulturelle Angelegenheiten sehe, die man versucht, religiös zu untermauern). Erst recht, wenn Attentate ganz offensichtlich religiös motiviert sind (wie offenbar in Solingen), dann wirkt dies abstoßend; summa summarum fördern solche Erscheinungsformen der „Renaissance der Religion“ in Deutschland eher noch eine religionsfeindliche Stimmung und eine weitere Abkehr von Religion.
Unter dem Eindruck dieser Herausforderung besinnen sich dann manche hierzulande auf die „deutsche Leitkultur“ und die Rettung des „christlichen Abendlandes“. Die Chance, dies inhaltlich zu füllen und auch zu leben, die Chance, dass die beschriebene Herausforderung wieder zum Erwachen eines positiven religiösen Interesses hierzulande führen könnte, sehe ich bislang noch nicht verwirklicht.
Gestiegener Lebensstandard als Ursache?
Ich kann hier nur beschreiben. Ich versuche nicht, all diese Phänomene zu erklären. Mag sein, dass die wachsende Säkularisierung neben den erwähnten Faktoren auch mit dem gestiegenen Lebensstandard zusammenhängt. Wohlhabende Menschen, das ist meine Beobachtung, erfahren eine Abhängigkeit von Gott weniger als bedürftige. Es ist kein Zufall, dass in Südkorea im Zuge wachsenden Wohlstandes nun auch eine Säkularisierung voranschreitet. Aber ich habe, wie gesagt, keine umfassende Erklärung für dieses Phänomen. Ich versuche nur, meine Wahrnehmung zu beschreiben. Ich führe diese Dinge hier auch nicht aus, um zur Kapitulation aufzurufen. Was wir tun können, sollen wir tun. Aber es hilft nicht, wenn wir bei verkürzten Sichtweisen stehen bleiben, uns an falschen Stellen abarbeiten und uns auf vermeintliche Sündenböcke einschießen; dies ist bequem, aber nicht zielführend.
Erneuerte Theologie und erneuerte Kirche
Es gibt Bereiche, in denen wir diese Entwicklung vielleicht nicht umkehren, aber doch deutlich abmildern können. Dazu gehört, dem stimme ich zu, das Feld der Theologie; wie gesagt, bin auch ich der Meinung, dass Glaube heute anders gesagt werden muss – nicht ihn in seinem Kern verändernd und dem Zeitgeist anpassend – christlicher Glaube muss oft geradezu ein Protest sein! –, aber so, dass Menschen von heute ihn verstehen. Das ist eine immense theologische Arbeit, und es wird dabei auch immer wieder Meinungsverschiedenheiten geben, was denn nun den eigentlichen Kern bildet und was die Variablen, die man verändern und der neuen Zeit anpassen kann. Auch hier mangelt es an Vorstößen nicht. Klaus-Peter Jörns etwa hat mit seinem Buch „Notwendige Abschiede“ einen solchen Versuch gewagt.
M.E. müsste auch das Glaubensbekenntnis neu formuliert werden. Da wird einerseits eine Jungfrauengeburt festgeklopft, während andererseits das gesamte Leben Jesu fehlt, von dem uns die Evangelien ausführlich berichten. Dieses Thema zeigt freilich auch die Größe der Aufgabe – wer kann einen solchen Prozess moderieren? Theologie wird heute großenteils als Ärgernis wahrgenommen, wenn sie z.B. dafür herhalten muss, die Verweigerung der Abendmahlsgemeinschaft zu rechtfertigen, mit Argumenten, die heute kaum noch jemand nachvollziehen kann. Theologie muss aber eine öffentlich wahrnehmbare positive Funktion übernehmen.
Das zweite Feld ist unser kirchliches Erscheinungsbild und sind natürlich auch die Repräsentanten unserer Kirche. Das Erscheinungsbild unserer breiten Großkirchen hier in Deutschland – und nicht nur hier – hat in den letzten Jahren massiv gelitten, nicht zuletzt durch die bekannt gewordenen Missbrauchsfälle und den Umgang kirchenleitender Personen mit denselben. Hier wurde viel Vertrauen zerstört. Und natürlich leben wir auch in einer Zeit, in der solche Dinge begierig von der Presse aufgegriffen werden. Ich bin hier der Meinung, dass diese Ereignisse nicht die Ursache sind für Kirchendistanz, eine solche aber verstärken. Wo die kirchliche Bindung ohnehin nur noch am seidenen Faden hing, haben die Missbrauchsfälle ihr den Rest gegeben.
Kirchenleitenden Personen wird auch oft vorgeworfen, entweder an veralteten Positionen festzuhalten (was im Falle des Vatikan und konservativer Bischöfe sicherlich richtig ist) oder aber auch, verschwommen und undeutlich zu bleiben. So beklagen manche z.B., dass die EKD zur Aufrüstung der Bundeswehr und in der Friedensfrage nie klar Stellung bezogen hat (s. die Schaukelformel vom „Friedensdienst mit und ohne Waffen“). Warum diese fehlende Eindeutigkeit?
Ambivalenzen der Modernisierung
Klaus-Peter Jörns hat mit seinem erwähnten Buch, mit dem er neue theologische Wege zu beschreiten versucht, eine breite Diskussion losgetreten und viel Widerspruch erfahren, weil er für manche an einem Grundelement ihres Glaubens rüttelte, dem Verständnis von Jesu Tod als Sühnopfer. Diese Erfahrung zeigt, ebenso wie viele andere, dass Christen weltweit und eben auch in unserem Land auf die beschriebene Krise ganz unterschiedlich reagieren: die einen tatsächlich so, wie viele Autor*innen in der erwähnten Ausgabe des Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatts, indem sie versuchen, neue theologische Wege zu beschreiten. Aber es gibt auch die anderen, die davon überhaupt nichts halten, die solches als Verrat empfinden und umso trotziger an „bewährten“ Paradigmen festhalten – selbst, wenn sie sie nicht hundertprozentig verstehen. Jede Abänderung, Modernisierung bringt für sie etwas ins Wanken.
Es ist kein Zufall, dass die Infragestellung des christlichen Glaubens durch moderne Forschung und Naturwissenschaften im 19. Jh. die Entstehung des Fundamentalismus seit dem Anfang des 20. Jh. hervorgebracht hat. Evangelikale und pietistische Gruppierungen haben sich hierzulande für eine zeit- und geschichtslose Perspektive des christlichen Glaubens verkämpft – auch in ökumenischen Weltbünden wie dem Ökumenischen Rat der Kirchen. So verschieden sind wir eben – innerhalb des Katholizismus und auch innerhalb des Protestantismus. Für die einen öffnet sich endlich eine Tür, wenn der Tod Jesu anders als in Kategorien eines antiken Opferrituals beschrieben wird; für die anderen geben wir damit etwas Entscheidendes am christlichen Glauben auf. Und Letztere stehen nicht allein. Ihre fundamentalistische Haltung ist im globalen Süden, namentlich in Afrika, weit verbreitet, wie die Diskussion um die Homosexualität gezeigt hat. Es ist weniger ein liberales als ein fundamentalistisches Christentum, das im globalen Süden im Wachstum begriffen ist. Liberale Haltungen scheinen weniger die Tendenz zu haben, sich zu verbreiten. Zudem bildeten in meiner Zeit als Pfarrer nicht selten Menschen aus eben solch konservativ-evangelikalen Kreisen die treuesten und engagiertesten Stützen in der Gemeinde. All dies verbietet es, sie einfach als Zurückgebliebene abzutun.
Vielfalt als Problem und Herausforderung
Unsere Kirchenleitungen sind die Vertreter und die Hirten aller Mitglieder – der einen wie der anderen, also der nach Veränderung Drängenden und der sich am „Bewährten“ Festklammernden. Sie müssen versuchen, beiden Seiten gerecht zu werden. Dies stellt sie immer wieder in eine Zerreißprobe, um die sie nicht zu beneiden sind und wo wohlfeile Lästerungen ungerecht werden können. Die Kirchenleitungen haben die Aufgabe, das Schiff durch diese schwierige Zeit zu steuern. Oft scheint es fast unmöglich, dabei allen gerecht zu werden. Entscheiden sie sich für eine der beiden Seiten, riskieren sie die Massenabwanderung der anderen. Die Zögerlichkeit und Uneindeutigkeit, die wir gern an unseren Kirchenleitungen kritisieren, ist in Wirklichkeit unser Problem als Mitglieder: unsere Uneinigkeit oder, um es positiv zu sagen, unsere Vielfalt. In der Friedensdiskussion sind wir eben auch als Christen seit Beginn der Bundesrepublik tief gespalten. Und ebenso in der Frage, wie wir auf die zeitgenössischen Herausforderungen und auf die Kirchenaustritte reagieren sollen.
Ich persönlich gehöre eher zu denen, die hier Neues brauchen, möchte aber auch die verstehen und nicht verurteilen, bei denen das anders ist. Mit ähnlichen Problemen hat auch die katholische Schwesterkirche zu kämpfen; hier im Westen verkämpfen sich Kirchenmitglieder für Reformen, ja können sich oft ihr Verbleiben in ihrer Kirche überhaupt nur unter veränderten Bedingungen vorstellen; von Katholiken aus Polen, Indien oder den Philippinen höre ich dagegen, dass man dort den Kopf schüttelt z.B. über unsere Reformbewegung „Synodaler Weg“. Der Papst ist um die Herkulesaufgabe, das alles zusammenzuhalten, nicht zu beneiden. In Deutschland und unserer westlichen Welt freilich dürfte sein Machtgebaren – „ihr könnt wollen, was ihr wollt; am Ende entscheide doch ich“ – den Kirchenverdruss noch verstärken. Aber darüber müssten unsere katholischen Geschwister Auskunft geben.
Bei alldem spiegelt unsere Vielfalt ja auch die Vielfalt unserer Sache wider, schon die Bandbreite biblischer Aussagen, in denen wir eben ganz unterschiedliche Akzente in christologischen, ekklesiologischen und anderen Aussagen finden. Sowohl Anhänger einer kongregationalistischen, presbyterialen als auch bischöflichen Kirchenauffassung können dafür Anhaltspunkte im NT finden. Jesus ist der Weg zum Vater und dann auch wieder selbst Herr und Gott. Die Väter der Kanonbildung hatten das weite Herz, dies alles zuzulassen. Haben wir es auch? Unsere Gründungsväter sind hier nicht immer mit gutem Beispiel vorangegangen. Luther und Zwingli zerstritten sich über der Frage, ob Jesus leibhaftig gegenwärtig ist im Abendmahl oder ob es sich um ein Erinnerungsmahl handelt. Dabei konnten sich beide auf biblische Worte berufen: Luther auf das „Dies ist mein Leib“ und Zwingli auf das „Dies tut zu meinem Gedächtnis.“ Für mich ist heute unbegreiflich, wie diese beiden großen Schriftsachverständigen dies nicht erkennen konnten und engstirnig und rechthaberisch darauf beharrten, nur selbst in der Erkenntnis der Wahrheit zu sein. Haben wir heute ein weiteres Herz?
Das Problem der Einheit der Christen
Und damit bin ich bei dem dritten Feld, auf dem wir dem Negativtrend gegensteuern können und das mit den beiden anderen zusammenhängt. Das Erscheinungsbild der Kirche wird eben nicht nur davon bestimmt, wie gut ihre Repräsentanten nach außen aufzutreten vermögen und wie verständlich unsere Theologie ist, sondern auch davon, inwieweit wir ein zerstrittenes oder ein einiges Bild abgeben. Um derer willen, die neue Aussagen brauchen, um noch glauben zu können, muss die einer Kirchenleitung nicht unterstehende Theologie neue Perspektiven aufzeigen und Mut machen, Wege in die Zukunft einzuschlagen. Dabei kann es sich aber nur um ein Angebot handeln an die, die solche neuen Wege brauchen.
Dass diese und die anderen, die gerne an den altbewährten Wegen festhalten möchten, sich nicht gegenseitig verurteilen und das Christsein absprechen, ist eine der großen Herausforderungen unserer gegenwärtigen Christenheit in Deutschland und weltweit. Streit, gegenseitige Verurteilungen und Nicht-Ertragen-Können, sowohl zwischen den Kirchen als auch innerhalb der Konfessionen, tragen eben auch zu einem abstoßenden Bild der Christenheit bei. Ständiger öffentlicher Zank schadet nicht nur der Ampel in Berlin. Sich gegenseitig das Kirchesein oder gar das Christsein abzusprechen, gemeinsame Abendmahlsfeiern zu verhindern und dergleichen lässt viele Menschen den Kopf schütteln. „Dass sie alle eins seien … auf dass die Welt glaube“ (Joh. 17,21) – haben wir das, besonders eben auch die zweite Hälfte, wirklich verstanden? Evangelikale, die sofort den Status Confessionis ausrufen und Andersdenkende zur „Hure Babel“ erklären; Katholiken, die (fast) allen anderen das Kirchesein absprechen; Kirchenvertreter des Südens, die Kirchen des Nordens verurteilen, Beziehungen zu ihnen abbrechen und die Einheit konfessioneller Weltbünde sprengen, weil sie Homosexuelle ordinieren? Ich fürchte, dass diese Rechthaberei den Abwärtstrend nur verstärkt. Umgekehrt: wo Gemeinsames möglich ist wie bei ökumenischen Schülergottesdiensten, ökumenischen Kirchentagen oder wenn man Bischöfe gemeinsamen ins Heilige Land pilgern sieht, wirkt das heilsam auf die Menschen.
Natürlich gibt es Extremfälle, wo ein klares Bekenntnis und Abgrenzungen nötig sind – zu Luthers Zeiten gegenüber dem Ablasswesen, später bei der Bekennenden Kirche gegenüber den Deutschen Christen oder heute, wenn Kyrill Putins Angriffskrieg segnet. Wann was angesagt ist, darüber wird man immer wieder trefflich streiten können – der Wille zur Einheit oder die Gabe, Geister zu unterscheiden (auch hier findet sich beides in der Bibel!).
M.E. wird der Status Confessionis oft zu schnell ausgerufen, weil Engstirnigkeit und Rechthaberei größer sind als die Bereitschaft, die Position des Gegenübers ernst zu nehmen, und weil Profilneurose mit Bekennermut verwechselt wird. Haben wir das nötig? Es ist immer wieder eine ganz eigene Mischung aus Arroganz und Unsicherheit, die zu dieser Unduldsamkeit führt. Neues bringt ja vielleicht mein bisheriges Gebäude ins Wanken, an dem ich mich immer festgehalten habe.
Werden wir weiterhin mit aus dem Zusammenhang gerissenen Schriftzitaten aufeinander eindreschen oder machen wir es besser als unsere Vorgänger Luther und Zwingli? Sind wir in der Lage, anzuerkennen, dass auch unser Gegenüber sich auf dem Boden der Schrift bewegt? Sind wir in der Lage, uns mit einer Vielfalt des Christentums anzufreunden (die ja auch etwas Schönes und Lebendiges hat!)? Was wir brauchen ist also nicht nur eine zeitgemäßere Theologie und ein moderneres Erscheinungsbild nach außen, sondern auch das weite Herz der Väter des Kanons (ich gehe davon aus, dass er leider ausschließlich von Männern festgelegt wurde).
Auch wenn diese Anliegen nicht den Kern des Problems – die Säkularisierung – berühren, so kann doch eine gute Performance auf allen drei Gebieten den Trend zumindest erheblich abschwächen. Umkehren kann sie ihn wohl kaum. Dennoch bin ich nicht pessimistisch und glaube auch nicht, dass sich unsere Kirche unwiderruflich in einem Abwärtssog befindet, denn die Zukunft liegt nicht in unseren Händen, sondern in den Händen des Herrn dieser Kirche. Dafür, dass der Trend der Säkularisierung umgekehrt werden kann, ist wirklich ein neues Pfingsten notwendig, um das wir Tag für Tag beten und dem wir uns, wo es sich ereignet, zur Verfügung stellen sollten.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2025