Im vergangenen Mai habe ich nach einer Vorsorgeuntersuchung eine Brustkrebsdiagnose bekommen. Zu meinem Glück ist der Tumor in einem sehr frühen Stadium entdeckt worden, er hatte noch nicht gestreut. An Operationen und Strahlentherapie bin ich dennoch nicht vorbeigekommen. In dieser Zeit zwischen Diagnose und Abschluss der Strahlentherapie habe ich die interessante Erfahrung gemacht, als Seelsorge-„Profi“ und Ausbildende im Bereich Seelsorge in die Rolle der Patientin schlüpfen zu müssen. Ich habe eine unfreiwillige „Fortbildung“ absolviert, deren Ergebnisse ich als Impuls für die Praxis gerne teilen möchte, da mich selbst mein eigenes Fühlen und Denken als Patientin überrascht hat.
Die mündige Kranke
Nach meiner Diagnose hat sich mein behandelnder Arzt sehr viel Zeit genommen, um mich über meine Form der Brustkrebserkrankung aufzuklären. Was ich vorher nicht gewusst habe: Es gibt eine Vielzahl von Formen und Behandlungsmöglichkeiten. Mich hat diese ausführliche Aufklärung zunächst genervt. Ich wollte „das Teil“ einfach loswerden und habe nicht eingesehen, warum ich mich diesen Informationen aussetzen muss. Schnell operiert und gut, habe ich gedacht. Erst später (und nachdem mir klar geworden ist, dass bei einer Krebserkrankung kaum etwas „schnell“ geht) habe ich begriffen: Ich bin durch diese Einführung zur mündigen Patientin geworden, die mit fundierten Informationen (und das ist etwas ganz anderes als „Dr. Google“) ins Gespräch mit den Ärztinnen und Ärzten kommen kann. Diese entscheiden dann nicht über mich und über meinen weiteren Therapieverlauf, sondern mit mir. Meine Haltung zu meiner Therapie hat sich dadurch positiv verändert.
Mein Impuls an Seelsorger*innen: Ermutigt die Frauen, solche Informationen aktiv nachzufragen. Bietet, wenn möglich, nötig und gewünscht, Begleitung zu Informationsgesprächen an.
Jede Kranke ist ein Individuum
Das klingt banal, wird aber leicht vergessen. Natürlich gibt es signifikante Merkmale bei Erkrankungen. Ich selbst habe über „Seelsorge an KHK-Patienten“ promoviert, weil mir Gemeinsamkeiten aufgefallen sind, die ich wissenschaftlich untersucht habe. Schwierig wird die Angelegenheit, wenn ich ein Raster an Patientinnen anlege, ohne dabei so flexibel zu sein, mit Ausnahmen zu rechnen und mir nicht die Mühe mache, auf das Individuum zu sehen. Ich erliege dann der Illusion, ich wüsste schon alles über die Patientin, noch bevor sie den Mund aufgemacht hat. Das Wissen über eine Krankheit und ihre Auswirkungen auf die Betroffenen kann helfen. Es verstellt jedoch den Blick auf das einzigartige Individuum, wenn ich aus Unsicherheit an der Theorie klebe und mich nicht dem Erleben des Menschen vor mir aussetzen mag.
„Das war sicher ein Schock für Dich!“
Diese freundlich und einfühlsam gemeinten Worte habe ich sehr oft gehört. In der Literatur wird auf den Schock als übliche Erstreaktion verwiesen. Ich hatte aber keinen Schock. Ich bin Wissenschaftlerin und kenne Statistiken. Bei 70.000 diagnostizierten Brustkrebserkrankungen jedes (!) Jahr allein in Deutschland habe ich mir schon vor meiner Diagnose häufiger realistisch überlegt, dass es auch mich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit treffen kann, obwohl bei mir keine Risikofaktoren vorgelegen haben. Ich kenne auch andere Betroffene, die nicht geschockt bei ihrer Diagnose gewesen sind. Mein Vorschlag: „War es ein Schock für Dich?“ Eine kleine Änderung, die einlädt, über die konkrete Erfahrung zu sprechen. So muss ich als Patientin nicht mit einer Abwehr starten: „Nein, war es nicht.“
Überhaupt: Frag einfach, wie es dem besonderen Menschen vor dir gerade in diesem Augenblick konkret geht. Mich hat wirklich erstaunt, wie viele Menschen mir in Gesprächen Deutungen meines Zustands angeboten haben. Häufig ging es mir aber anders als von ihnen vorgeschlagen. Oder auch ein bisschen anders: „Das ist sicher schwer für Deinen Glauben.“ Ich persönlich habe jedoch nie mit Gott gehadert und gefragt „Warum ich?“ Es ist anstrengend, sich von solchen Angeboten abgrenzen zu müssen. Eine offene Frage erleichtert vieles. Hilfreich habe ich es allerdings gefunden, wenn Menschen sich mit mir auf die Suche begeben haben, wie es mir gerade in diesem Moment geht. Das war nämlich selbst für mich nicht unbedingt sofort erkennbar und spürbar. Ich habe mich oft mühsam durch ein Gestrüpp meiner Emotionen und Gedanken hindurchbewegt und bin dankbar gewesen, wenn sich jemand die Mühe gegeben hat, mich dabei zu begleiten. Erstaunt war ich über ein erstes grundlegendes Gefühl: Ich war traurig über den Verlust der so selbstverständlich erscheinenden Gewissheit, gesund zu sein. Ich habe gebraucht, um das zu erkennen und zu akzeptieren. Es war ein Verlust an Leichtigkeit im Leben.
Mein kranker Leib und ich
Zentraler Bestandteil meines Curriculums in der Ausbildung am Herborner Theologischen Seminar im Fach Seelsorge sind Gedanken des Heidelberger Mediziners und Philosophen Thomas Fuchs, die den Leib in den Fokus stellen. Thomas Fuchs betont, dass der Leib der eigentliche Träger unserer Lebensgeschichte ist. Der Leib ist mehr als ein Körper, den ich bewerte oder optimiere. Mein Leib hatte mich – das habe ich erst nach der Diagnose verstanden – tatsächlich gewarnt. Ich hatte seine Signale nicht verstanden. Nun war es für mich nach der Diagnose und während der Behandlung wichtig, liebevoll und geduldig mit ihm als krankem Leib umzugehen. Das war und ist ein schwerer Prozess.
Eine selbst krebskranke Freundin hat gemeint: „Mir sind inzwischen alle Narben egal – Hauptsache ich lebe!“ Ich habe mein Erleben und mein Bedürfnis anders empfunden. Ich wollte meinen Leib auch als verletzten Leib lieben und schön finden. Ich habe für mich selbst Abschiedsrituale entwickelt. So habe ich Fotos von meiner Brust vor der Operation gemacht, um mich erinnern zu können, wenn sie denn verunstaltet werden sollte. Noch am Tag meiner ersten Operation habe ich auf dem Flur eine junge Frau getröstet (sie hat nicht gewusst, was mein Beruf ist), die ich morgens im Warteraum der zu Operierenden kennengelernt hatte. Sie hat verzweifelt über ihre Narbe geweint und sich verunstaltet gefühlt. Es ist eine Herausforderung für Patientinnen, sich mit einem gewaltsam veränderten Leib zurechtzufinden. Gerade die Brust ist für viele Frauen höchst wichtig. So ist auch bei mir das Thema Scham groß gewesen: Werde ich noch begehrenswert sein?
Nach der Operation habe ich um das Foto meines Tumors aus der Mammographie gebeten und mir eine Plastikmarkierung aufbewahrt, mit der die Bestrahlungsfelder auf meinem Körper markiert worden sind. Diese Erinnerungsstücke sagen mir: Ich habe das überlebt. Und auch: Das hat in einer lebensgefährlichen Zeit zu mir gehört.
Mein Impuls für Seelsorger: Brauchen Frauen Rituale vor oder nach der Operation? Mögen sie mit der Seelsorgerin welche entwickeln? Wie erleben die Kranken ihre Leiblichkeit? Seelsorgende können helfen, dass Frauen einen liebevollen Blick auf die eigene Leiblichkeit bewahren bzw. entdecken, wie sie eine Heimat in ihrem versehrten Leib finden können. Sie können ermutigen: Du darfst eine Sehnsucht nach Schönheit haben! Du darfst auch trauern über den Verlust von Schönheit – selbst im Alter!
„Du kannst gerne anrufen, wenn Du es brauchst!“
Das ist sicher auch nett gemeint, wälzt aber ebenfalls die Verantwortung für den Kontakt auf den Kranken ab. Das Problem bei mir ist gewesen: Ich habe kaum Kraft gehabt, andere Menschen anzurufen. Zugleich hatte ich ein großes Bedürfnis danach, mich zu erzählen. Ich habe sehr darauf gehofft, dass andere sich aus eigenem Antrieb bei mir melden. Denn: jede Nachfrage hat mir außerordentlich gutgetan. Es ist so hilfreich und tröstlich gewesen, das Mitgefühl von Menschen zu spüren. Kein Wunder: Das soziale Netz ist ein zentraler Resilienzfaktor. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis hat leider nicht jeder mein Bedürfnis wahrgenommen oder konnte vielleicht auch nicht darauf eingehen. Offenbar hält es auch nicht jeder aus, sich einer Kranken auszusetzen, vor allem, wenn es sich um Krebs handelt. Da gibt es eine Scheu, etwas Falsches zu sagen. Oder vielleicht auch die Angst davor, dass einem die Krankheit selbst zu sehr auf den Pelz rückt.
Mein Impuls: Meldet euch! Schreibt eine SMS oder eine Nachricht. Und wenn ihr Sorge habt, mit einem Anruf zu nerven: Fragt einfach, wie es gerade geht und ob es jetzt passt. Mühsam ist es, mit der Enttäuschung umzugehen, wenn Menschen, von denen man das erwartet hat, sich nicht melden. Als Seelsorgerin würde ich heute Menschen konkret auf solche Erfahrungen ansprechen und anbieten, gemeinsam zu überlegen, wie das eingeordnet und aufgearbeitet werden kann. Manchmal können solche Erfahrung auch klärend und sinnvoll ent-täuschend sein: Es gibt Beziehungen, bei denen es an der Zeit ist, sich daraus zu verabschieden. In diesem Prozess können Seelsorgende unterstützend wirken.
Freundlichkeit als Trost und die dünnhäutige Kranke
Als Patientin habe ich mich über das für mich sonst übliche Maß hinaus als bedürftig nach Freundlichkeit und als empfindlich erlebt. Die allermeisten Schwestern und Pfleger und auch die Ärztinnen und Ärzte waren freundlich und engagiert. Jede Kränkung durch unfreundliches, unsensibles Verhalten hat mir schwer zugesetzt. Ich habe ich mich in solchen Situationen anfangs als zu schwach und auch zu ängstlich erlebt, um mich zu wehren. Dabei bin ich sonst selbstbewusst und kann für meine Interessen eintreten. Daraus entstand die Erfahrung einer doppelten Kränkung. Mein Mann hat mich dann – soweit möglich – zu Untersuchungen begleitet, um mich zu schützen und zu unterstützen. Er hat unangemessenes Verhalten benannt. Es ist für mich nicht ganz leicht gewesen, diese Hilfe anzunehmen und damit zuzugeben, dass ich zu schwach bin, um für mich selbst zu sorgen.
Im weiteren Verlauf der Behandlung habe ich wieder Kräfte gesammelt und Verantwortlichen geschildert, wenn ich ein Verhalten unangebracht oder sogar schädlich für meinen Heilungsprozess erlebt habe. Das war sowohl für mich wichtig als auch im Interesse anderer Patientinnen. Manchen Ärztinnen und Ärzten ist leider nicht bewusst, wie verheerend eine unsensible Kommunikation auf den Krankheitsverlauf wirken kann. Umgekehrt fördert eine hilfreiche Kommunikation spürbar den Heilungsprozess.
Ich finde es eine wichtige Aufgabe von Seelsorgenden, Frauen behutsam und sensibel zu ermutigen, kränkende Erfahrungen anzusprechen. Sie können auch anbieten, dass sie solche Erlebnisse stellvertretend für die Betroffene konstruktiv im Sinne eines Qualitätsmanagements in die Teambesprechungen im Krankenhaus einbringen.
Meine Mit-Patientinnen habe ich als unterstützende Schicksalsgemeinschaft erlebt. Da hat es ermutigende Worte gegeben, wenn eine Frau zur OP abgeholt wurde oder Gespräche auf dem Flur oder im Krankenzimmer danach, so wie ich es oben geschildert habe. Ich habe mich gefragt, ob ich als Krankenhausseelsorgerin nicht regelmäßig zu früher Stunde auf der Station vorbeischauen würde, um den auf die OP wartenden Frauen einen freundlichen Gruß und ein Segenswort zu schenken. Die Hinweise auf die Möglichkeit von Krankenhausseelsorge lagen überall aus, aber die Kraft zum aktiven Zugehen hat nicht jede Frau. Ich weiß, dass die Kolleginnen und Kollegen einen straffen Zeitplan haben. Ein kurzer persönlicher Segensgruß an die zu Operierenden wäre jedoch eine tröstliche Geste.
Spiritualität als Ressource
Ich bin ein gläubiger Mensch. Zu meinem Erstaunen habe ich weniger um Heilung gebetet denn darum, dass meine behandelnden Ärztinnen und Ärzte die richtigen und guten Wege mit mir gehen. Über alles Maß hinaus hat mich die Zusage von Menschen gestärkt, dass sie für mich beten würden. Ich habe das Gefühl: Diese Gebete haben mich getragen, auch durch Zeiten, in denen ich selbst nicht beten konnte. Ich persönlich wollte Gott nicht durch unverschämte Bitten auf den Heiligen Geist gehen, schließlich geht es anderen schlechter als mir. Ich hätte es besser wissen müssen, Stichwort: „Der bittende Freund“. Aber Wissen und Vermögen gehen nicht immer Hand in Hand.
Emotional überwältigt haben mich sehr oft die Lieder im Gottesdienst. Mir kamen erlösende Tränen bei Liedern von Paul Gerhardt. Die Liedzeile aus eg+ 31 „Ob du in das Tal hinabgehst oder Berge vor dir stehn, mögest du den nächsten Schritt in seinem Segen gehen“ hat mich tief bewegt. Musik ist eine grandiose Ressource! Ich meine, es ist eine gute Idee, wenn Pfarrer*innen, Prädikant*innen und Kirchenmusiker*innen in der Vorbereitung von Gottesdiensten daran denken, dass in ihren Gottesdiensten mit hoher Wahrscheinlichkeit mindestens ein kranker Mensch sitzt, und sie überlegen, ob es eine (das reicht ja schon!) Liedzeile gibt, die diese Menschen ansprechen könnte.
„Lassen Sie uns an Ihren Erkenntnissen teilhaben!“ haben mich Vikar*innen gebeten, als ich ihnen von meiner Erkrankung und meiner unfreiwilligen „Fortbildung“ berichtet habe. Das sei hiermit geschehen.
▬ Angela Rinn
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2025