Jetzt hat die hessische Landeskirche also ab Januar 2025 eine Kirchenpräsidentin … Als ich im Sommer 1967 Abitur machte, wollte ich eigentlich Theologie studieren und Pfarrer werden (das generische Maskulinum galt noch). Aber es gab ein Kirchengesetz, das Pfarrerinnen der EKHN ausdrücklich untersagte zu heiraten, ein auf Frauen beschränktes Zölibat. Also nichts für mich. Als dieses Kirchen(un)recht dann aufgehoben wurde, begann ich mit dem Theologiestudium.
Meine Geschichte mit der EKHN fing allerdings schon kurz nach meiner Geburt an. Am 1. Advent 1948 wurde ich in der Emmaus-Kirche in Frankfurt getauft von Pfarrer Petzold, den seine Gemeinde für den Einsatz in Krieg und Trümmern mit dem liebevollen Titel „unser Dorfhirte“ ehrte. Mein Vater war als sog. Nicht-Theologe für, in und mit der Kirche tätig. Ich war im evangelischen Kindergarten bei Tante Doris und im Kindergottesdienst bei Fräulein (so nannte man sie damals) Hoos. Ich hatte eine phantastische Religionslehrerin an der Herderschule, eine überaus anregende und konfrontative Konfirmandenzeit in der Lutherkirche und eine ziemlich unkonventionelle Studienzeit mit anderen 68ern in Hamburg und Heidelberg. Letzteres übrigens mit einem für mich „Werk-Studentin“ sehr hilfreichen jährlichen Bücherstipendium der EKHN.
Meine Zeit als Pfarramtskandidatin im Predigerseminar Friedberg verlief recht stürmisch. Aber die EKHN brauchte damals dringend Pfarrpersonal; das half beim Finden von Kompromissen. Und unter der klugen und sensiblen Anleitung meines Lehrpfarrers konnten dann meine Konflikte mit dem Ausbildungsreferat der EKHN eine gute Lösung finden. Am 1. Advent 1975 wurde ich in Offenbach ordiniert. Nun war ich also evangelische Pfarrerin mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten. Und: ich war verheiratet und Mutter einer wunderbaren Tochter.
25 Jahre später, zum 1. Advent 2000 bin ich aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Das war damals und ist auch heute noch ein eher ungewöhnlicher Schritt, weil ganz handfest mit dem Verlust von Privilegien und Sicherheiten verbunden. Wie es dazu kam, ist eine andere Geschichte. Ich habe nicht vor, wieder Mitglied der evangelischen Kirche zu werden. Aber 25 Jahre nach meinem Kirchenaustritt ist die Zeit gekommen, „meiner“ EKHN zu danken. Die Wahl der ersten Kirchenpräsidentin scheint mir ein guter Zeitpunkt zu sein. Auch möchte ich auf keinen Fall sterben, ohne meine Dankbarkeit niedergeschrieben zu haben. Drei ganz unterschiedliche Bereiche sind mir dabei wichtig.
Dankbarkeit für Orte, an denen ich gearbeitet habe – im Auftrag der EKHN
Eine deutsche Gemeinde in Edinburgh Anfang der 1970er
Nach meinem 2. Theologischen Examen ermöglichte mir die Kirchenleitung der EKHN ein Spezialpraktikum als Vikarin in der deutschen Gemeinde in Edinburgh. Dieses Jahr in Schottland hat mein Leben entscheidend geprägt. Die Gemeinde dort bestand damals aus Menschen, die der Krieg hierher verschlagen hatte: ehemalige Kriegsgefangene, Bräute schottischer Soldaten. Die wirtschaftliche Lage war 1974 in Schottland wesentlich schlechter als in Deutschland. Ich weiß noch, wie merkwürdig ich es fand, dass wir alle zum Kaffeetrinken nach dem Gottesdienst Zucker und Milch selbst mitbringen mussten, weil beides rationiert war. Ich (Berufsanfängerin) hatte monatlich mehr Einkommen als die meisten Gemeindeglieder.
Die Verbindung zur Church of Scotland war herzlich, und ich habe dort Freundschaften geschlossen, die bis heute mein Leben bereichern. Die Pfarrer der schottischen Kirche wurden sehr niedrig bezahlt. Ich habe Pfarrfrauen kennengelernt, die putzen gingen, um die Ausbildung der Kinder zu finanzieren. Das rückte mein kirchliches Weltbild im Hinblick auf Privilegien der deutschen Pfarrerschaft nachdrücklich zurecht. In dieser Zeit habe ich fließend Englisch gelernt, was eine wesentliche Voraussetzung für meine spätere internationale Arbeit war.
Von Edinburgh aus wurden auch andere, kleine deutsche Gemeinden betreut. Wenn ich 250 km auf kleinen Straßen mit Linksverkehr im Dunkeln nach Aberdeen zum Gottesdienst am Weihnachtsabend gefahren bin, dann habe ich die Dankbarkeit der kleinen deutschen Gemeinde für die junge Vikarin deutlich gespürt. Mein Dienst war willkommen! Und als ich an einem Sonntag nicht alle Vorbereitungsunterlagen eingepackt hatte, wurde halt improvisiert … In Glasgow, das damals zu den ärmsten Regionen Europas zählte, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben hautnah erlebt, was Armut mit Menschen und sozialen Beziehungen macht. Das war ein Schock und – auch wenn ich das damals nicht gewusst habe – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu meinem Entschluss, mich mit Gott für die einzusetzen, die niemand will. Ich habe allerdings auch so etwas wie Heimweh mitgenommen – nach den Highlands und Islands und einer ganz eigenen Art von kindness. Die Erfahrungen in Schottland haben mein Leben entscheidend geprägt und verändert. Danke, EKHN!
Soziale Brennpunkte
Mein Vikariat sah mich mitten in einem sozialen Brennpunkt. Um da zu leben und zu arbeiten, musste sich die Tochter aus gutbürgerlichem evangelischem Haus ziemlich schnell von Gewohnheiten, Vorurteilen und Empfindlichkeiten verabschieden. Das war nicht ganz leicht, aber äußerst heilsam. Drogen, Alkohol, Gewalt, Müll, Verwahrlosung – das kannte ich ja nur aus Büchern. Aber ich lernte schnell. Und so konnte ich in Hochhäuser, wo auch die Polizei damals nur im Team aktiv war, ganz allein mit meiner Schachtel Pampers und Babyfood zwar schnaufend, aber unbehelligt die Treppen zum 10. Stock bewältigen, weil der Lift grade mal wieder nicht ging … Ich habe später extreme Armut in vier Kontinenten erlebt und oft kleine praktische Lösungen gefunden. Das habe ich damals eingeübt.
Durch unglückliche Umstände stand ich als Vikarin in einem Jahr dort ganz allein mit 102 Konfirmanden da, heute unvorstellbar! Ich habe es dann irgendwie organisiert und die Erfahrung gemacht, wie sich das anfühlt, komplett überfordert zu sein, aber nicht aufzugeben. Das war mir später häufig sehr nützlich.
Ökumene war für uns Bodenpersonal damals selbstverständlich, weil die soziale und die psychische Not der Menschen im Stadtteil unabhängig von der Konfession für alle gleich war. Der katholische Kollege war ein außergewöhnlicher Mensch von großer Herzenswärme. So hatte ich mir die französischen Arbeiterpriester vorgestellt. Ich habe viel von ihm gelernt und fühle mich heute noch privilegiert, mit ihm zusammengearbeitet zu haben. Ich habe auch sehr gern im katholischen Kirchenchor mitgesungen, nachdem ich eine gewisse Befremdung bei ave verum corpus überwunden hatte. Um keinen Anstoß zu erregen, bin ich nicht zum Empfang der Kommunion gegangen. Es tobte in diesen Jahren der theologische, vielleicht eher kirchenpolitische Streit um das gemeinsame Abendmahl. Das war nicht meine Baustelle, ich fand gemeinsam singen bedeutungsvoller als gemeinsam essen. Aber es fühlt sich gut an, wenn ich hier und heute ganz offiziell und bischöflich zur Heiligen Kommunion „eingeladen“ bin … Jedenfalls habe ich damals einen Respekt für die katholische Tradition entwickelt, der mir bis heute viele gute Erfahrungen ermöglicht.
Diese Jahre im Vikariat waren auch aus einem Grund für mich wichtig, der andern vielleicht banal erscheinen mag: Ich konnte eine Arbeit machen, die ich unbedingt machen wollte, für die ich ausgebildet war – und wurde noch dafür bezahlt! Das heißt, mein Lebensunterhalt war gesichert, ohne mein Zutun, einfach so! Wie es sich anfühlt, diese Sicherheit nicht mehr zu haben und ohne sie ein Herzensanliegen zu verwirklichen, erfuhr ich dann später und bin heute froh, dass ich meine Privilegierung schon damals so ehrlich gewürdigt habe. Danke EKHN!
Gottesdienst mit Tieren
Mit einer Großstadtsozialisation in ein 1200-Seelen-Dorf zu ziehen, bringt eine Menge Herausforderungen mit sich. Einiges davon konnte ich gut bewältigen, anderes nur langsam und mit Mühe. Mein Mann hatte die Pfarrstelle inne, ich war nun ganz altmodisch „nur“ noch die Pfarrfrau und hatte dadurch die Freiheit, meine eigenen Schwerpunkte zu setzen. Diese Möglichkeit, mich in der Institution Kirche als ordinierte Pfarrerin einzubringen, ihre Möglichkeiten zu nutzen, ohne die Verwaltung bewältigen zu müssen, war für mich ein Glücksfall mit Stolpersteinen.
Im Dorf kam es auf die „richtige“ Kommunikation an. Die Resonanzmöglichkeiten waren vielfältig, aber wie immer unverfügbar; es gab Bedingungen, die ich erst erforschen musste. Die Kinder wuchsen in einem großen alten Haus mit riesigem Garten auf, das wir uns „privat“ niemals hätten leisten können. Sie waren sicher aufgehoben in der sozialen Kontrolle des Dorfes, die manchmal von mir als Bürde erlebt wurde, aber in Krisen eine enorme Hilfe war. Viele Tiere lebten mit uns und prägten meinen Alltag und meine Theologie. Ochs und Esel, Gans und Ziege, Hund und Katze, Schwein und Pferd, Huhn und Taube wirkten mit im Weihnachtspiel am Heiligen Abend und waren die Stars im ersten (heftig umstrittenen) ZDF-Gottesdienst mit Tieren.
Ich habe in Vertretung meines Mannes auch Gottesdienste gefeiert, an Sterbebetten gesessen, Bibelkreise geleitet und Beerdigungen gehalten. In 22 Jahren kommt da – auch ehrenamtlich – einiges zusammen an unvergesslichen Erlebnissen mit Menschen. Es gab Auseinandersetzungen – der Selbstmörder darf nicht auf unserem Friedhof beerdigt werden! Es gab Vertrauen: „Frau Pfarrer, jetzt wo Sie da sind, kann ich gut sterben …“ Es gab die kleinen Zeichen der Liebe – die Frau Pfarrer isst keine Metzel-Suppe vom Schlachten, aber gern ein Stück Kuchen mit viel Zuckerguss …
Die Dorfkirche stammt aus dem 12. Jh. und wurde zu Beginn des 18. Jh. umgebaut. Dieser Kirchenraum hat mich vom ersten Tag an fasziniert und mein Leben entscheidend geprägt. Hier habe ich Gottes Wort (so wie ich es verstand) gepredigt, ich habe das Abendmahl empfangen und ausgeteilt, ich habe die Kirche geputzt und jeden Sonntag den Altar mit Blumen geschmückt. Ich habe mit evangelischen und katholischen Christen zusammen die Kirchenbänke neu gestrichen und jedes Jahr zum 1. Advent die italienische Barock-Krippe in einer großen Landschaft aufgestellt. Hier wurden unsere Kinder getauft und konfirmiert. Hier habe ich Sakro-Pop von Pit Janssens gehört und den Landfrauen beim feierlichen Rundtanz zugeschaut. Hier wurde das Evangelium im oberhessischen Dialekt verlesen und hier hat mein Vater am Karfreitag gepredigt, weil mein Mann und ich damit Schwierigkeiten hatten. In diese bescheidene bäuerliche Kirche habe ich mich geflüchtet, wenn es schwierig war mit dem Leben. In diese Kirche habe ich die Tiere als geliebte Kinder des Schöpfergottes eingeladen und damit ein Zeichen gesetzt, das nicht wieder aus der kirchlichen Welt entfernt werden konnte. Ohne diese Kirche mit der stillen Anwesenheit von Christenmenschen aus acht Jahrhunderten vor meiner Zeit wäre mein Leben ganz anders verlaufen, freudloser und ärmer. Und ohne die Jahrzehnte im Pfarrhaus auf dem Land hätte ich das, was dann kam, nicht leisten und nicht verkraften können. Danke EKHN!
Dankbarkeit für Menschen in Führungspositionen der EKHN
Tiere und Kirche
Eine Führungsposition in der EKHN zu bekleiden war in den letzten Jahrzehnten des 20. Jh. nicht einfach. Kirchen- und gesellschaftspolitisch standen sich Überzeugungen unversöhnlich gegenüber. Pfarrer im Talar führten Friedensdemonstrationen an. Pfarrer predigten in der Hüttendorf-Kirche der Startbahn-West-Gegner. Vikare waren Mitglieder in der DKP. Die Liste ließe sich fortsetzen. Dieser konfliktreichen Gemengelage fügten mein Mann und ich nun noch eine besondere Variante hinzu: die Tier-Rechte. Tiere und Kirche, das passte weder theologisch, noch seelsorgerlich, noch kirchenpolitisch zusammen. Es war die absolute No-Go Zone. Tiere im Sakralraum, Tiere im ZDF-Gottesdienst, mein offener Brief an den Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, eine BILD-Zeitungsüberschrift „Gott liebt auch dich, Schwein Julchen“ und vieles andere …
Das war auch für die Kirchengemeinde nicht einfach. Das Dorf wurde durch uns deutschlandweit bekannt und manche Gemeindeglieder fanden das überhaupt nicht gut. So wurden wir dann einmal im Jahr zu Propst Grün eingeladen, und diese Gespräche waren jedes Mal für mich ein Lernfortschritt: was geht und was nicht? Hier begegnete ich nicht dem Dienstvorgesetzten, der uns zur Ordnung rief. Der Propst von Oberhessen hat in uns zwei engagierte junge Pfarrer gesehen, die er anleiten und begleiten, aber nicht frustrieren wollte. Und genau das hat seine Autorität für uns ausgemacht. Einen Satz von ihm habe ich für mein Leben behalten: „Sie können vieles machen in einer Gemeinde der EKHN, aber vergessen Sie nie: der Priester muss den Propheten tragen.“ Das buchstabiere ich heute noch aus, weil es nicht nur in der Kirche gilt, sondern auch in der brutalen Welt des globalen Handels mit den „Nutz“-Tieren. Danke, Propst Grün! Danke EKHN!
Theologisch eingeklagte Tierrechte
Zu einem erheblichen Konflikt mit der Kirchenleitung kam es, als ich die damals sehr einflussreiche Hoechst AG in Frankfurt öffentlich zur Rede stellte. Zusammen mit Peter Janssens lud ich am Sonntag Misericordias Domini (der Sonntag vom Guten Hirten!) am 18. April 1986 zu einem Gottesdienst ein unter der Überschrift „Hoechst, erbarme dich!“ Es ging um die halbe Million „Versuchs“-Tiere, die jedes Jahr in den Experimenten des Pharmakonzerns „verbraucht“ wurden. Der Aufruhr, den diese Ankündigung verursachte, war beachtlich und der Druck auf mich auch. Dieser Gottesdienst konnte nur stattfinden, weil drei Pfarrer mich unterstützt haben. Alle drei teilten meine theologische Überzeugung im Hinblick auf Tiere nicht. Aber sie waren davon überzeugt, dass es mir ernst war mit meinem Anliegen, und dass ich das Recht haben müsste, mich im kirchlichen Raum öffentlich zu äußern, auch wenn dem „Multi“ das nicht passte. Das hatte für sie etwas mit „protestantischer Identität“ zu tun. Pfarrer Christian Müller machte von seinem Kanzelrecht für die Kirche in Alt-Höchst Gebrauch und erteilte mir Dimissoriale für den Gottesdienst. Der Dekan des Dekanates Höchst, Hans Blum, setzte sich für mich ein. Und Pfarrer Heinz-Günther Gasche, damals Geschäftsführer des Diakonischen Werks der EKHN, war – so sehe ich das heute – mein großer Beschützer in Darmstadt.
Die Kirchenleitung distanzierte sich öffentlich, aber der Gottesdienst fand statt. Und es wurde anschließend ein „runder Tisch“ gebildet mit Angestellten der Hoechst AG und Frankfurter Pfarrern, wo es jahrelang einvernehmlich und respektvoll um Tiere und andere Themen ging. Damals habe ich meinen ersten öffentlichen Auftritt für die Tiere durchgestanden – und ich hatte richtig Angst, auch vor der Presse. Aber ich war eben auch freundlich begleitet, gut beraten und effizient beschützt. So habe ich Sicherheit im Auftreten geübt und gewonnen. Viel gefährlicheres würde folgen, aber das wusste ich damals ja nicht. Danke Christian Müller! Danke Hans Blum! Danke Heinz-Günther Gasche! Danke EKHN!
Dankbarkeit für die unsichtbare Kirche hinter der EKHN
Innerhalb der Kirche „protestantisch“ sein
Die EKHN ist berühmt oder auch berüchtigt als eine politisch wache und kritische Kirche, was sich unter anderem darin zeigt, dass der Kirchenleitung von Anfang an kein Bischof, sondern ein Kirchenpräsident vorstand. Der erste in dieser Reihe von Amtsträgern, Martin Niemöller, ist heute noch bekannt für seine Frage: Was würde Jesus dazu sagen? Und die Antworten, die er darauf fand, waren originell und fast immer höchst umstritten …
In dieser Kirche war im 20. Jh. vieles möglich, wurde vieles geduldet, was anderswo in der EKD auf keinen Fall ging. Und so habe ich hier den Mut gefunden, mich meines eigenen Verstandes zu bedienen, meine eigene Theologie zu denken, meine persönlichen Prioritäten in Verkündigung und Seelsorge zu setzen und mit all dem „protestantisch“ innerhalb der Kirche zu sein. Ich habe hier echte Erfahrungen mit Toleranz und Resonanz, aber auch mit Grenzen gemacht, Erfahrungen, die hingewiesen haben auf die unsichtbare ecclesia semper reformanda hinter einer Organisation, die mit Konflikten umgehen konnte. Danke EKHN!
Getragen und geborgen in kirchlicher Tradition
Durch das Alltagsleben im Pfarrhaus habe ich das Kirchenjahr schätzen gelernt. Die immer wiederkehrenden Festtage teilten das Jahr ein, die Rituale von Taufe, Trauung, Beerdigung waren per Agende festgelegt. Das Standbein der Liturgie war die Basis für das Spielbein der Predigt. Kultur gibt Sicherheit, kirchliche Kultur genauso wie weltliche. Für mich war es eher unwichtig, ob die liturgische Sprache altmodisch war oder die biblischen Lesungen immer wieder zuerst Zeugnisse der kulturellen Evolution der Menschheit und dann erst Aussagen über Gott. Das Wichtige war hier die Wiederholung, der Wiedererkennungseffekt – nicht nur bei der Gemeinde, auch bei mir selbst. Da war etwas, das war unabhängig von meiner Tagesform und von aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Und das schenkte mir eine große Freiheit für die Predigt und die Sicherheit, dass meine Predigtideen getragen wurden und geborgen waren in vielen hundert Jahren kirchlicher Tradition. Danke EKHN!
So viel wundervolle Musik und Dichtung
Und ganz besonders dankbar bin ich der EKHN für das Gesangbuch mit seinem hessischen Anhang. Wenn ich heute nur ein Buch auf die berühmte einsame Insel mitnehmen dürfte, würde ich das EG wählen. In diesen Liedern ist so viel Gottvertrauen, so viel Ringen und Fragen, so viel wundervolle Musik und Dichtung verborgen, dass ein Leben kaum ausreicht, das zu würdigen. Natürlich ist die Sprache häufig veraltet, die Theologie vielfach (für die Moderne) problematisch. Aber das spielt keine Rolle, wenn ich die Biographien der Dichter und Komponisten anschaue, die schweren Zeiten, die sie zu bestehen hatten, und wie sie trotzdem an diesem Gott der Bibel und seinem gescheiterten Messias festgehalten haben. Und ihn auch noch lobten! Sie waren kreativ, die Alten, und ihr Segen wirkt heute noch, wenn ich mein Herz dafür aufmache. Danke EKHN!
Eine NGO für Tierschutz
Als Pfarrerin auf Lebenszeit brachte mich meine Arbeit für die Tiere in einen ständigen Loyalitätskonflikt mit der Amtskirche, in der es für meine Theologie und für mein Engagement keinen Raum gibt, der ich aber als Kirchenbeamtin auch ohne Besoldung verpflichtet war. Diesen Konflikt habe ich dann durch Kirchenaustritt gelöst. Das war ein unschöner Vorgang, ändert aber nichts an meiner Dankbarkeit. Ich habe eine große internationale Tierschutz-Organisation gegründet. Wir waren auf vier Kontinenten unterwegs mit den „Nutz“-Tieren auf den LKWs, in Schiffen, in Schlachthäusern, Sammelstationen und Tiermärkten. Konfrontiert mit der Brutalität der Fleischindustrie war das für mich psychisch extrem belastend und häufig auch lebensgefährlich. Aber genau das war nun mal mein Auftrag eines Gottes, der Menschen beruft und anders nicht zu haben ist. Ohne meine theologische Ausbildung, mein Kirchentraining, meine Pfarramtserfahrung hätte ich diese NGO nicht gründen, leiten und das Elend der Tiere und Menschen nicht aushalten können.
Und: ich hatte ja mein Gesangbuch immer dabei! Zehn Jahre habe ich Laudes und Vesper gebetet, wenn auch oft nicht abends und morgens und unter den unmöglichsten Umständen, mit blutverschmierten Turnschuhen im Flugzeug, in der allerletzten schmutzigen Absteige am Ende der Welt oder im Auto mit grade mal wieder zerschnittenen Reifen. Ohne die Disziplin der Tagzeitengebete wäre ich ziemlich schnell mit Burnout in einer Klinik gelandet. Ich habe viele Reden in Ministerien, Ausschüssen, Botschaften, Landwirtschaftsgremien gehalten, und eigentlich waren es immer Predigten, denn das hatte ich gelernt und trainiert. Es geht sehr gut auch ohne Kanzel und ohne Bibeltext. Eine Mitarbeiterin hat nach einem sehr schlimmen Einsatz auf einem osteuropäischen Tiermarkt zu mir gesagt: I have no faith, but I have faith in your faith … Und in diesem Glauben bleibe ich dankbar verbunden mit der EKHN und der unsichtbaren Kirche hinter ihr.
Hinweise:
www.animals-angels.de
www.animalmemorial.org
https://www.youtube.com/watch?v=gmk7WMqCz7Y&feature=youtu.be.
▬ Christa Blanke-Weckbach
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2025