Keine andere Religion beruft sich mit solcher Konsequenz auf wörtlich gefasste, schriftlich niedergelegte Offenbarungsdokumente wie das Judentum, das Christentum und der Islam. Und in keiner anderen Religion hat die Berufung auf ein „heiliges“ Buch als Offenbarungsquelle Gottes andere Vergegenwärtigungen des Heiligen so sehr verdrängt wie im Judentum, Christentum und Islam. Insbesondere zu Bildern haben diese drei Religionen ein kritisches Verhältnis, wenngleich Differenzierungen angebracht sind – nicht nur im Blick auf das Christentum.*
Judentum, Christentum und Islam, die auch historisch einander verwandt sind, zeichnen sich gemeinsam dadurch besonders aus, dass in ihnen die Überlieferung „heiliger Texte“ eine große, ja entscheidende Rolle spielt, die Präsenz von Kultbildern hingegen nur eine untergeordnete bzw. gar keine Bedeutung hat. In einem ersten Teil meines Aufsatzes, der historisch orientiert ist, möchte ich die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam im Blick darauf charakterisieren, welche Rolle Kultbilder in ihnen spielen und wie der Bilderkult von einem Kult um das Wort als Quelle der Offenbarung abgelöst bzw. immer wieder überlagert wurde, bis hin zur Verehrung eines heiligen Buches. Mit „Bild“ meine ich dabei das „Verehrungs“- oder „Anbetungsbild“. Unter „Buch“ verstehe eine festgelegte Sammlung, einen „Kodex heiliger Schriften“. Freilich, Bild und Buch, Kultbild und Heilige Schrift haben zunächst einmal ganz unterschiedliche Funktionen im Leben der Religionen.
Ein Kultbild dient dazu, die Anbetung göttlicher Mächte sinnenfällig zu machen, der Anbetung sozusagen einen sinnlich fassbaren Gegenstand darzubieten. Demgegenüber ist das heilige Buch vor allem Offenbarungsquelle, Dokument göttlicher Wahrheit und göttlichen Willens. Doch wie das heilige Buch seinen Lesern und Hörern die Gewissheit vermittelt, dass Gott „da“ ist, nämlich in seinem geoffenbarten Wort, so will auch das Kultbild die Präsenz göttlicher Mächte verdeutlichen, ja garantieren. Und umgekehrt erfährt im Lauf der Zeit – das zeigt jedenfalls die Geschichte von Judentum, Christentum und Islam – auch das heilige Buch selbst eine religiöse Verehrung und Wertschätzung, wie sie in anderen Religionen Kultbildern oder Kultgegenständen zukommt. Diese Verehrung soll dann Thema des zweiten Teils sein.
Bild und Buch, Kultbild und Heilige Schrift fallen also tatsächlich nicht so sehr auseinander, wie es zunächst den Anschein haben mag. Und der Mangel an Kultbildern oder gar ihre Verweigerung steht durchaus in einem Zusammenhang mit der zentralen Bedeutung der heiligen Bücher in Judentum, Christentum und Islam. Diesen Zusammenhang innerhalb dieser drei religiösen Systeme in ihrem geschichtlichen Wandel aufzuzeigen, aber auch die synchrone Perspektive auf verwandte Entwicklungen zwischen den drei Systemen ist das Anliegen meiner Darstellung.
Der Umgang mit Kultbildern im Judentum
Die Wurzeln des jüdischen Glaubens liegen in zwei Traditionen, die bis auf den heutigen Tag gefeiert werden und in den Schriften der hebräischen Bibel festgehalten sind: die Exodusüberlieferung und die Sinaitradition. „Exodus“ bedeutet wörtlich „Ausweg“ oder „Herausgang“ und meint die Befreiung Israels aus der Knechtschaft in Ägypten – dargestellt in aller Ausführlichkeit und Dramatik in den ersten 15 Kapiteln des 2. Mosebuchs (griech./lat.: „Exodus“, hebr.: „Schemoth“ = „Namen“, nach den Anfangsworten „(Und dies sind die) Namen – 2. Mos. 1,1).
Die Sinaitradition beginnt in Kap. 19 desselben Buches und erzählt die Offenbarung, die Mose auf dem Berg Sinai empfing, angefangen mit den Zehn Geboten (2. Mos. 20) über alle Gesetze ethischer und kultischer Art bis zum Ende des 3. Mosebuchs. In diesen Kapiteln ist das sog. „mosaische Gesetz“ niedergelegt, das den Grundstock der Offenbarung des göttlichen Willens an das Volk Israel bildet. Es ist die Tora im engeren Sinne, die „Weisung“, das „Gesetz“, gegenüber der „Tora“ in einem weiteren Sinne: die fünf Mosebücher insgesamt als „Tora“, dem ersten Teil des jüdischen „Tanach“.
Der „Name“ Gottes
Eine ganze Reihe von biblischen Erzählungen aus dem Exodus-Buch führen uns die Unfassbarkeit Gottes in Kultbildern vor Augen. Da ist etwa die Selbstoffenbarung an Mose im Bild des brennenden, aber nicht verbrennenden „Dornbusches“ – ein Bild, das sich nicht einfach kultisch rekonstruieren lässt so wie etwa eine Statue oder selbst ein Urelement wie Wasser oder Feuer. Da ist der Name Gottes JHWH, das „Tetragramm“ – eigentlich unaussprechlich. Seine Aussprache wäre nur durch Einfügen von Vokalen möglich, die hierfür aber nicht überliefert sind, da sich den Juden die Aussprache des heiligen Gottesnamens JHWH verbietet. So setzten die späteren Schreiber (Masoreten) unter und über die Konsonantenfolge JHWH die Vokalzeichen des hebräischen Wortes für „Herr“ („Adonai“), das oft als Umschreibung für den Gottesnamen gebraucht wird.
Der Name Gottes (JHWH) leitet sich möglicherweise von dem hebräischen „Sein“ ab. So bietet die Erzählung von Mose am Dornbusch selbst die Erklärung des Gottesnamens: „Ich-bin-der-ich-bin“ oder „Ich-bin-da“ – und zwar in meinem Namen bin ich unter euch präsent.
Weitere Beispiele für die Unfassbarkeit Gottes in Kultbildern sind die Wolken- und Feuersäule, die das Volk Israel begleiten; auch der Streit um das sogenannte „Goldene Kalb“ sowie die Bundeslade verdeutlichen die Bildlosigkeit des JHWH-Kultes.
Kultbilder im alten Israel
Gewiss hat es auch im alten Israel Kultbilder gegeben, etwa in der Königszeit. Die Schriften der hebräischen Bibel führen uns jedoch stets den Kampf gegen die kultische Vergegenständlichung Gottes in einem Bild vor Augen und zeigen in der Tendenz die für den vorderorientalischen Raum einzigartige Situation einer Religion ohne Kultbild auf. Es gibt auch keine Textstelle, die uns begründet annehmen lässt, JHWH sei jemals in Gestalt eines Kultbildes verehrt worden, wenngleich es kultische Gegenstände zur Verdeutlichung seiner Nähe oder seines Wirkens gab. Zu ihnen zählt beispielsweise die Bundeslade. Über ihre ursprüngliche Bedeutung und Funktion hat man viel spekuliert: War sie ein tragbarer Thron? Ein Kriegspalladium des „Herrn der Heerscharen“? Wie dem auch sei, die Bundeslade enthielt jedenfalls kein Götterstandbild. Sie war allenfalls der „Schemel der Füße des Höchsten“. In späterer Überlieferung verstand man sie als Kasten, in dem die Tafeln des heiligen Bundes Gottes mit Israel aufbewahrt waren, daher auch „Bundes-Lade“. Doch Bundeslade und Tafeln sind verschwunden. Sie sollen im Allerheiligsten des ersten Jerusalemer Tempels gestanden haben, der im Jahre 587 v. Chr. von den Babyloniern unter Nebukadnezar zerstört wurde. Der später errichtete und zu Zeiten Jesu noch existierende zweite Tempel hatte zwar auch ein Allerheiligstes, doch dieser Raum war nachweislich leer.
Auch die Überlieferung des Tempels und seiner Erbauung und Einweihung bezeugt nochmals die Besonderheit des israelitisch-jüdischen Gottesglaubens – das Fehlen eines Kultbildes. So bezeichnet Salomos Tempelweihgebet den Tempel als Wohnstatt des Namens Gottes (vgl. 1. Kön. 8,12ff).
Das Bilderverbot und prophetische Kritik
Die Bildlosigkeit des israelitisch-jüdischen Gottesglaubens findet ihre prägnante Begründung in den ersten zwei (bis drei) Geboten des Dekalogs: Hier wird die Ausschließlichkeit Gottes, des Befreiers aus der ägyptischen Knechtschaft, die Unmöglichkeit eines Kultbildes und die Heiligkeit seines Namens betont und zur Grundlage aller weiteren Religionsausübung gemacht. Zwar gab es auch Opferfeiern und priesterliche Dienste am Heiligtum, doch mehr und mehr stand die Beachtung des göttlichen Willens, so wie er im Wort Gottes vernehmbar und niedergeschrieben war, im Vordergrund. Mehr und mehr gewann die erzählende Erinnerung und Vergegenwärtigung der Heilstaten Gottes Bedeutung.
Besonders deutlich wird dies im Auftreten der Propheten, ebenfalls einer einzigartigen Erscheinung im Vorderen Orient. Die Propheten übten schon bald Kritik an einem Opferkult, der heuchlerisch schien, weil er die ungerechten Verhältnisse in Volk und Gesellschaft unberührt ließ oder zu Lippenbekenntnissen führte. Sie erneuerten die Hinwendung zu einem im Medium des Wortes ergehenden Willen Gottes. So gesehen wird auch verständlich, dass es immer wieder die Propheten waren, die an Kult- und Götterbildern Anstoß nahmen und diese kritisierten (z.B. Elia oder Jesaja (Jes. 44)).
Bereits nach der Zerstörung des ersten Tempels von Jerusalem und der Zerstreuung des jüdischen Volkes in die verschiedensten Gebiete der aufstrebenden Weltreiche (Diaspora) verändert sich die Gestalt des Judentums als Religion. Statt neuer Tempel entstehen Synagogen, also Bethäuser. In ihnen werden Gottesdienste gefeiert, in deren Mittelpunkt die Lesung der Schriften aus der Zeit der Väter und Vorväter und ihre Erklärung für die Gegenwart steht. In dieser Synagogenpraxis ist der christliche Predigtgottesdienst vorgebildet. Zugleich wächst der Bedarf an Gelehrten, die darin unterwiesen sind, die heiligen Texte zu lesen und zu interpretieren. Auf diese Weise entwickelt sich das Rabbinertum als neuer religiöser Stand – statt Priestern leiten nun Gelehrte die religiöse Praxis an.
Ambivalente Bildtradition im Christentum
Das Christentum übernahm eine Reihe von Vorstellung des bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten jüdischen Glaubens. Die christliche Kirche eignete sich später ja nicht nur die hebräische Bibel als ersten Teil ihrer eigenen heiligen Schrift an, sondern berief sich damit zugleich auf viele Glaubensinhalte und -traditionen, die für den jüdischen Glauben charakteristisch sind. So z.B. die Ausschließlichkeit und Unsichtbarkeit (und Unnahbarkeit) Gottes, die Mitteilung seines göttlichen Heilswillens durch sein geoffenbartes Wort, aber auch den Dekalog mit seinen bezeichnenden Geboten, d.h. dem Bilderverbot und dem Heiligungsgebot des göttlichen Namens.
Eucharistische Praxis
Zunächst zeichnet sich auch der christliche Glaube durch das Fehlen eines Kultbildes aus. Stattdessen findet die Erinnerung und Wiederholung des heilvollen Geschehens in Jesus Christus im Abendmahl, der Eucharistie, statt – in den zeichenhaft dargebotenen Elementen Brot und Wein. Sie vergewissern die Gläubigen darin, dass ihnen das durch Jesus Christus geschenkte Heil Gottes so sehr gilt, wie sie vom geteilten Brot essen und aus dem gemeinsamen Kelch trinken. Zwar haben schon bei Paulus Brot und Wein in der Abendmahlsfeier eine besondere Bedeutung und sind nicht einfach mit gewöhnlichem Brot und Wein zu verwechseln. Es wäre jedoch ein gravierendes Missverständnis, wenn man annehmen wollte, die Elemente Brot und Wein seien so etwas wie Kultbilder des anwesenden Gottes. Sie sind Träger der geheimnisvollen Gegenwart Gottes, aber sie sind selbst nicht heilige Gegenstände nach Art der Kultbilder (auch nicht in der römisch-katholischen Tradition). Sie werden verzehrt, nicht verehrt. Sie sind Sakramente, d.h. Zeichen göttlichen, den Menschen zugewandten und zugeteilten Heils.
Kreuz und Ikone
Anders verhält es sich mit dem Kreuz. War das Kreuz anfangs nur ein Erkennungs- und Erinnerungszeichen der frühen Christen und ein Sinnbild für das selbst in Leiden und Tod von Gott geschenkte unzerstörbare und unvergängliche Heil, so geriet es mehr und mehr zu einem „Kultbild“. Diese Entwicklung lässt sich etwa in der Wandlung verfolgen, die aus dem einfachen Kreuzzeichen mit zunehmender Kunstfertigkeit eine Darstellung des Gekreuzigten selbst, ein Kruzifix, werden ließ. Sie zeigt sich aber auch in der besonderen Verehrung, die man dem Kreuz in Liturgie und Gottesdienst zukommen ließ. An manchen Stellen dieser Entwicklungsgeschichte dürfte die empfindliche Grenze zwischen einem einfachen Sinnbild und einem echten Kultbild, d.h. einem gegenständlich fixierten Objekt der Anbetung, überschritten sein.
In ganz ähnlicher Weise ist die Ikonografie der Ostkirchen (Orthodoxie) zu sehen. Grundsätzlich hält auch die orthodoxe Tradition an der Nichtdarstellbarkeit Gottes fest. Darstellbar ist allenfalls der Mensch gewordene Christus, und zwar gerade wegen seiner Menschlichkeit. Von hier aus ergibt sich eine Hierarchie der Bilder, die mit dem Urbild Gottes und göttlichen Lebens beginnt und mit den Kultbildern der Ikonen und der Liturgie des orthodoxen Gottesdienstes endet.
Jesus Christus ist das wahre Abbild (griech. „eikon“) Gottes. Die Ikone wiederum – sofern sie die formalen und stilistischen Kriterien der Ikonenmalerei erfüllt – ist das wahre Abbild Jesu Christi (und seines Lebens). Ganz entsprechend wird die Liturgie des orthodoxen Gottesdienstes zum Abbild des himmlischen und ewigen Gottesdienstes als seinem Urbild. Und die Eucharistiefeier wird zum Abbild des ewigen Heilsgeschehens Gottes in seiner Mitteilung an den Menschen. Nach orthodoxer Auffassung wird im Abbild das Urbild vergegenwärtigt – unter der Voraussetzung, dass diese Vergegenwärtigung nicht Werk des Menschen sein kann und nicht in seiner Macht steht, sondern sich nur durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes ereignet.
Darstellungen der Trinität
Noch deutlicher zeigt sich die Hinwendung zur bildhaften Vergegenwärtigung Gottes im orthodoxen Umgang mit der Darstellung der Trinität. Da sich – streng genommen – nur die menschgewordene Seite der göttlichen Dreieinigkeit, also Christus, der Darstellung öffnet, blieb der orthodoxen Tradition die Darstellung des dreieinen Gottes und damit des Kerns der christlichen wie orthodoxen Gottesauffassung versagt. Dieses offenkundige Problem konnte gelöst werden, als man in Rubljows Darstellung des Besuchs der drei Engel bei Abraham im Hain Mamre die für die orthodoxe Tradition schlechthin gültige Darstellung der Trinität fand. Da das Bild eine biblische Szene aus dem Begegnungsraum göttlich-menschlicher Wirklichkeit zeigt, schien der Gefahr einer (verbotenen) Darstellung des Nichtdarstellbaren zugleich ein Riegel vorgeschoben.
Die erwähnten Beispiele zeigen uns, wie die strenge Bildlosigkeit des jüdischen Jahwe-Glaubens in der christlichen Tradition zugunsten einer größeren Offenheit gegenüber Kultbildern wieder zurückgenommen oder jedenfalls relativiert wurde. Mochte die theologische Begründung hierfür auch differenziert sein, so kann man doch sagen, dass die breite Masse des Kirchenvolkes der Bilderfreundlichkeit eher vorbehaltlos zugetan war.
Dies hat freilich oftmals auch den Hintergrund, dass die Mehrheit der Gläubigen des Lesens und Schreibens nicht mächtig war und deshalb in den bildlichen Darstellungen zugleich die Inhalte ihres Glaubens vorgeführt und veranschaulicht sah. Deshalb wird man differenzieren müssen: Die bildliche Darstellung biblischer Szenen und legendarischer Überlieferungen der Heiligen, wie sie sich in vielen Darstellungen von Altartafeln, aber auch in Kirchenschiffausmalungen findet, war weniger Kultbild als Gedächtnishilfe und Verkündigung. Sie war die „Biblia pauperum“, die heilige Schrift der Armen und des Lesens Unkundigen.
Dennoch bestand die Gefahr der Verwechslung der Darstellungen mit dem Dargestellten, und von daher sind die Bestrebungen in der Kirchengeschichte erklärbar, die Macht der Bilder einzugrenzen und zurückzudrängen – so im 8. Jh. im berühmten sog. „byzantinischen Bilderstreit“, bei dem die beiden Parteien der Bilderverehrer und der Bilderstürmer heftig aufeinander prallten, ebenso bei den Bilderstürmern der Reformationszeit, die in teilweise barbarischer Weise Altäre und Bildstöcke aus den Kirchen verbannten, sowie in der konsequenten Bilderlosigkeit der Versammlungsräume reformierter Kirchen und der meisten Freikirchen.
Radikale Bildlosigkeit im Islam
Als letztes erschien der Islam auf der Bühne der großen Weltreligionen und er erlebte gleich in den ersten Jahrzehnten seiner Begründung eine enorme Stärkung und Ausbreitung. Zentral für den muslimischen Glauben ist die Betonung der Ausschließlichkeit und Einzigkeit und Einzigartigkeit Gottes, wie dies der erste der „fünf Pfeiler“ des Islam, das Bekenntnis zu dem Einen Gott, zum Ausdruck bringt. Der Glaube an die Erhabenheit des einen Gottes ist das Herzstück des Islam. Die Bezeichnung „Allah“ bedeutet wörtlich der „Erhabene“ und bekräftigt die Majestät Gottes. Sie fungiert zugleich als Allgemeinbezeichnung für „Gott“. In arabischer Sprache heißt auch der Gott des AT oder NT schlicht „Allah“, womit eine zumindest sprachliche Anknüpfung der muslimischen Gottesvorstellung an den Gott der Bibel möglich ist.
Strenger Monotheismus
Will man den Glauben und die Verehrung eines einzigen, über allem erhabenen Gottes als „Monotheismus“ bezeichnen, nämlich den Glauben an einen einzigen Gott, neben dem keine anderen Gottheiten Platz haben, so muss man wohl sagen, dass der Islam eine besonders strenge Form des Monotheismus darstellt.
Der Name „Islam“ kommt aus dem Arabischen und meint „Gehorsam“ oder „Unterwerfung“ unter den Willen Gottes. Dieser Wille Gottes ist nach muslimischer Auffassung in seiner endgültigen Gestalt im Koran, dem heiligen Buch der Muslime, geoffenbart. Der Islam lässt sich von daher als eine bruderschaftliche Organisation verstehen, die für die Erneuerung des Monotheismus und die Durchsetzung des als allein wahr erachteten Ein-Gott-Glaubens kämpft. Seine Geschichte ist mit der Person Mohammeds unlösbar verknüpft.
Mohammed (geb. 570 n. Chr.) war der Sohn einer angesehenen Familie aus Mekka, einem Wallfahrtszentrum der heidnischen arabischen Stämme. In Mekka waren eine Vielzahl von Heiligtümern versammelten, allen voran die „Kaaba“, ein quaderförmiger Schrein, der damals zahlreiche Götzenbilder und auch einen heiligen Stein, einen schwarzen Meteoriten, barg. Mohammeds Familie gehörte zu den Wächtern der Kaaba. Dies bot Mohammed bereits in seiner Jugend ausreichend Gelegenheit, das Pilgerwesen in Mekka zu studieren und die religiösen Überzeugungen und Bräuche kennenzulernen.
In Mekka wohnten allerdings auch arabische Juden und Christen. Mohammed fühlte sich von der Klarheit und Strenge ihrer Glaubensüberzeugungen mehr und mehr angezogen und lehnte die Vielgötterei der arabisch-heidnischen Beduinenstämme bald ganz ab. Der Legende nach soll Mohammed zu dieser Zeit die Offenbarung des Koran empfangen haben, als er sich zu Gebets- und Fastenzeiten in die Wüste zurückzog. Gott (Allah) habe ihn dabei in seiner reinen Erhabenheit angesprochen und zum Sprachrohr eines neuen und konsequenten Glaubens an die Allmacht und Gnade Gottes gemacht. In der Tradition früherer Propheten habe er ihn berufen, den Gottesglauben zu erneuern und zu festigen.
Die weitere Geschichte folgt erbitterten Kämpfen gegen die Machthaber Mekkas, die Mohammeds Absichten verständlicherweise feindlich gegenüberstehen. Mohammed kann sich nach Jahren des Exils und Kampfes durchsetzen und schließlich in Mekka sein Reformwerk beginnen.
Der Islam als religiöse Reformbewegung?
So gesehen lassen sich die Anfänge des Islam als eine Reformbewegung jüdisch-christlicher Überlieferung verstehen. Der Anschluss an Traditionen der hebräischen und christlichen Bibel ist offensichtlich und wird im Koran bewusst gesucht. Dennoch weicht Mohammeds Lehre an entscheidenden Stellen vom Judentum und Christentum ab. Die bisherigen Offenbarungen Gottes gelten ihm als überholungs- und ergänzungsbedürftig. Insbesondere die Rolle Jesu als Christus erscheint Mohammed kritikwürdig. Er stellt daher Jesus auf eine Stufe mit den Propheten des „Alten Bundes“ und lehnt seine Messianität wie Gottessohnschaft ab. Die Vorstellung göttlicher Menschwerdung in Jesus hält Mohammed für gotteslästerlich. Sie widerspricht dem Glauben an die absolute Erhabenheit und Unberührbarkeit Allahs. Für den Islam ist die Trennung von Gott und Mensch so strikt und konsequent, dass eine „Mischgestalt“ wie Jesus Christus unverständlich und skandalös wirken muss.
Ebenso hart geht Mohammed mit der christlichen Trinitätsvorstellung ins Gericht. Sie widerspricht seiner Auffassung nach der strengen Einheit und Einzigkeit Allahs. Bis auf den heutigen Tag erleben wir in muslimisch-christlichen Gesprächen hier ein großes Verständigungsproblem. Muslime sind geneigt, den christlichen Glauben wegen seiner Trinitätslehre als Drei-Götter-Glaube und damit als eine Form von irrigem Polytheismus zu verwerfen.
Der Islam ist sich seiner späten Erscheinung in der Religionsgeschichte durchaus bewusst und begreift sie als notwendige Korrektur an den bis dahin entstandenen Fehlformen heidnischen wie jüdischen und christlichen Gottesglaubens. Er behauptet Endgültigkeit für die prophetische Vermittlerrolle Mohammeds und das von ihm in treuem Gehorsam gegen das göttliche Diktat aufgezeichnete Grundlagendokument allen wahren Glaubens – den Koran.
Objekte von kultischem Rang
Aufgrund seiner konsequenten Zuneigung zu einem abstrakten, nur im Wort vermittelten Monotheismus sowie des von Mohammed tief empfundenen Gräuels am Fetisch- und Götzenglauben seiner Zeitgenossen in Mekka gelangt der Islam zu einem generellen Verbot bildlicher Darstellungen Gottes wie auch seines größten Propheten Mohammed – ein Verbot, das die Geschichte des Islam mit erstaunlicher Zielgerichtetheit festgehalten hat. Allerdings ist zu bemerken, dass Mohammed bei aller Vernichtung der Fetisch- und Götzenbilder Mekkas den schwarzen Stein der Kaaba verschont hat. Seine Motive hierfür waren mehr politischer als religiöser Art, wollte er doch an einem die arabischen Stämme einigenden Symbol und Zentrum festhalten. Diese Entscheidung hat sich nicht nur als äußerst hellsichtig erwiesen, sondern überdies zu einer enormen kultischen Konzentration im Islam geführt – immerhin gehört die Pilgerfahrt nach Mekka zu den fünf „Pfeilern“ des Islam.
Auch die Satansstatue in Mekka, freilich nur eine unanschauliche Stele, und die kultische Praxis ihrer Steinigung gehört – wenngleich von ihrem kultischen Wert her rein negativ aufgeladen – in jenen Grenzbereich, wo der Islam seiner strengen Ablehnung von Kultbildern offenbar nachgibt.
An die Stelle bildlicher Darstellungen Gottes treten – entsprechend der Wortgebundenheit der muslimischen Offenbarung – die 99 Namen Allahs, die sein Wesen für den Menschen enthüllen. Die arabische Schriftkultur führt zu einer vollendeten kalligrafischen Präsentation dieser geoffenbarten Namen Gottes und ersetzt damit auch ästhetisch die oftmals für notwendig gehaltenen Bilder. Diese der abstrakten Gestaltung zugewandte Kunstform von der Kalligrafie hin zum reinen Ornament lässt sich insbesondere im Moscheenbau und in der handschriftlichen Überlieferung des Koran beobachten und bewundern.
Religiöse Verehrung „Heiliger Schriften“ in Judentum, Christentum und Islam
Bereits im ersten Teil habe ich auf die nachhaltigen Veränderungen in der religiösen Gestalt des Judentums hingewiesen, die sich mit der Situation der jüdischen Diaspora ergaben. Die Abwesenheit bzw. Unverfügbarkeit eines Tempelkultes in den – vom Jerusalemer Zentralheiligtum aus gesehen – weit entlegenen jüdischen Siedlungsgebieten innerhalb der antiken Großreiche (Assyrien, Babylonien, Persien, Griechenland, Imperium Romanum) förderte die synagogale Torafrömmigkeit.
Synagogale Torafrömmigkeit
Die Tora (im Sinne der fünf Bücher Moses) stand stets im hohen, unangefochtenen Ansehen einer zentralen Offenbarungsschrift göttlichen Willens. Daneben kannte das Judentum über Jahrhunderte hinweg eine Reihe bedeutsamer, auch als „heilig“ erachteter Schriften (etwa bestimmte Prophetenbücher wie Jesaja oder Jeremia). Der „Kanon“ heiliger Schriften hatte jedoch einen offenen Rand.
Das Wort „Kanon“ stammt aus dem Hebräischen und bedeutet ursprünglich „Rohr“. Gemeint ist damit eine Art Maßstab im ganz wörtlichen Sinne, der zur Bemessung angelegt werden konnte. Diese Bezeichnung und Funktion des Kanons wurde im übertragenen Sinn auf den Umfang und die genaue Abgrenzung „heiliger“ und für den Glauben und die religiöse Praxis verbindlich erachteter Texte angewandt. Dabei war der Kanon jüdischer heiliger Schriften bis zum Ende des 1. Jh. n. Chr. offen. Erst die Art und Weise, in der das Christentum und die frühe Kirche sich auf die hebräische Bibel beriefen und dann auch Schriften daraus als für den christlichen Glauben kanonisch erklärten, machte eine abgeschlossene jüdische Kanonbildung notwendig (um 100 n. Chr.).
Das Judentum hat aber auch in den nachfolgenden Jahrhunderten seinen Sinn für die geschichtliche Wandlung und Weiterentwicklung von Glauben und Lebenspraxis bewahrt. Deshalb hat es weitere Aktualisierungen zugelassen und auch mit Verbindlichkeit versehen. Hieraus entstanden zunächst die Tradition der „Mischna“ als Auslegung zur hebräischen Bibel, insbesondere der Tora, dann die „Gemara“. „Mischna“ und „Gemara“ sind zusammengefasst im „Talmud“, der von den jüdischen Lehrinstanzen in „palästinischer“ und „babylonischer“ Fassung niedergelegt wird. Der Talmud enthält Ausführungsbestimmungen für die zahlreichen Gebote und Gesetze (die „Halacha“), aber auch Erzählungen über das Leben der als Vorbilder zu verstehenden Rabbis (die „Haggada“). Darin zeigt sich eine besondere Geschichtsbewusstheit der jüdischen Religion, verbunden mit einer spezifisch ausgebildeten hermeneutischen Praxis.
Was Torafrömmigkeit bedeutet, wird etwa erkennbar an der „Lust am Gesetz Gottes“, von der der Ps. 1 spricht, der als Vorrede zum Buch der Psalmen aufgefasst werden kann. Das Torastudium ist Mittelpunkt privater und öffentlicher (synagogaler) Religionsausübung. Die Torakunde wird zum Gegenstand der Erziehung, insbesondere im religiösen Bereich. Als Abschluss solcher Torakunde wird für die männlichen Juden im Jugendalter die „Bar Mizwa“ („Sohn des Gesetzes“) gefeiert, bei der die persönliche Reife festlich begangen wird, die sich junge Männer im Umgang mit der Tora erworben haben; inzwischen hat sich diese Praxis auch gleichberechtigt im Blick auf Mädchen („Bat Mizwa“) eingebürgert.
Andere Details bezeugen die Besonderheit im Umgang mit den für heilig erachteten Schriften, z.B. die „Unantastbarkeit“ der Bücher bzw. Buchrollen, die beim Lesen in den Synagogengottesdiensten nicht mit den Händen berührt werden. Vielmehr leitet ein Zeigestab das Auge auf den Zeilen. Die Bücher werden in einem speziellen Toraschrein aufbewahrt und verhüllt. Wenn sie abgenutzt sind, werden sie nicht entsorgt, sondern „bestattet“. Dieser Sitte der „Beerdigung“ heiliger Bücher verdankt die moderne Archäologie manch wertvollen Fund aus der Zeit des antiken Judentums, z.B. die berühmten Qumran-Rollen.
Sola scriptura und pietistisches Bibelstudium
Das Christentum knüpfte – wie bereits erwähnt – an die jüdische Praxis des Lesens im Wort Gottes und Hörens vom Wort Gottes an, aber auch an die Praxis des Redens über das Wort Gottes in privater und gottesdienstlicher Frömmigkeit. Die frühen innerkirchlichen Auseinandersetzungen um die rechte Lehre christlichen Glaubens (ab dem beginnenden 2. Jh.) machten Verständigungen über den Umfang und die Grenze der als verbindlich (kanonisch) anzusehenden „heiligen Schriften“ notwendig. In diesem Zusammenhang ging es insbesondere um die Bedeutung der Schriften des sogenannten „Alten Bundes“ (lat. testamentum) für das Christentum. (Die Texte des ntl. Kanons wurden im Wesentlichen im Verlauf des 2. Jh. festgelegt. In Einzelfällen dauerte der Prozess bis ins 4. Jh. an.)
Mit Jesus Christus ist das Opferwesen endgültig abgelöst. An seine Stelle tritt die Hingabe Gottes an den Menschen in seinem heilschaffenden Wort. Der Altar verändert somit seine Funktion und wird in der Reformationszeit zum Tisch der „Wohltaten Gottes“, nämlich Wort und Sakrament (Abendmahl).
Aber auch die Liturgie des römisch-katholischen Gottesdienstes stellt die Evangelienlesung als Kundgabe eines „heiligen Textes“ in besonderer Weise heraus, wenn etwa bei der Lesung Ministranten den Lektor vom Altar zum Ambo begleiten und die Lesung selbst feierlich beleuchten.
Abschließend will ich auf die Besonderheit des privaten Bibelstudiums hinweisen, das im Zeitalter des Pietismus seine Bedeutung für die Frömmigkeitspraxis gewann. Auch die pietistische „Stunde“, die Versammlung zur gemeinsamen Bibellektüre, gibt dem Umgang mit „heiligen Texten“ eine typische und auch eigenwillige Form: am Brüdertisch wird die Bibel als zentrales Offenbarungsdokument göttlichen Willens ausgelegt, indem ihr die Deutungen und Lesehilfen der Väter des Glaubens und der in der „Stunde“ am Tisch versammelten Brüder zur Seite gestellt werden.
Ein Kanon der Kanone
Der Islam steht mit seiner besonderen Betonung und Verehrung einer „heiligen“ Schrift, nämlich des Koran, ganz im Zeichen der älteren Religionen Judentum und Christentum, auf die und deren Offenbarungsdokumente er sich ja auch ausdrücklich beruft. Allerdings versteht sich der Koran mehr in der Tradition des prophetischen Lehrbuchs, das die endgültige Interpretation und Deutung der in Judentum und Christentum angeblich bis zur Unkenntlichkeit überdeckten Offenbarung Gottes normiert. Der Koran ist somit eine Art „Kanon der Kanone“. Sein Charakter als Lehrbuch oder Rechtskodex im Sinne der Kodifizierung rechten Glaubens und frommen Tuns wird schon daran deutlich, dass er seine 114 Suren nicht in einer chronologischen Reihenfolge, sondern der Länge nach sortiert darbietet. Der Koran ist kein „Geschichtsbuch“. Viel eher gleicht er einem Traktat, einer Abhandlung.
Der Koran ist der Kernbestand muslimischer Frömmigkeitspraxis. Dass er unter den „fünf Pfeilern“ des Islam selbst nicht genannt wird, hängt damit zusammen, dass er die Voraussetzung dieser „fünf Pfeiler“, im Bild gesprochen: ihr Fundament, ist. Als endgültige Offenbarung des Willens Gottes gibt er die Grundlage für die wesentlichen Bestimmungsmerkmale muslimischer Frömmigkeitspraxis ab.
Koranlesungen und -predigten gehören zum Kernbestand des muslimischen Gottesdienstes, dem Freitagsgebet in der Moschee. Zugleich wird das Koranstudium in Koranschulen gelehrt und in speziellem Unterricht vermittelt. Ein besonderes Problem stellt dabei die grundsätzliche Unübersetzbarkeit des Koran dar. Als authentisches göttliches Offenbarungsdokument, das dem Propheten Mohammed in arabischer Sprache diktiert wurde, haftet die Gültigkeit seiner Aussagen an der (arabischen) Ursprache. Diese Auffassung geht über die uns geläufige Problematik, dass Übersetzungen immer auch Deutungen sind, weit hinaus: Gott selbst (Allah) hat sich an den Wortlaut des arabischen Urtextes gebunden. So – und nur so – ist sein Wille zu verstehen. Natürlich musste ein weltweit sich ausbreitender Islam auch der Sprachbezogenheit außerarabischer Kulturräume entsprechen. Diese Anpassung wird über eigens autorisierte Übersetzungen geleistet, die jedoch selbst keinen Offenbarungswert abgesehen vom arabischen Urtext haben – eine Auffassung, die sich von der christlichen Missionspraxis und ihrem Umgang mit der Bibel deutlich unterscheidet.
Der Islam geht in der Verehrung des Schriftmaterials weiter als das Judentum. Er betont die Heiligkeit des Buchstabens als Träger der Mitteilung göttlichen Willens und kennt in der Bestattung bzw. Verbrennung seines „liturgisch“ ausgedienten Schriftenbestands einen ähnlichen Respekt vor dem heiligen Buch als solchem.
Theologisch zeigt sich beim muslimischen Umgang mit dem Koran eine Nähe zur christlichen Inkarnationsvorstellung: nicht Jesus als der fleischgewordene „Logos“ (Wort) Gottes, sondern der sozusagen übermenschliche, vom Himmel her diktierte Koran wird zur innerweltlichen „Inkarnation“ (Verkörperung) Allahs und seines Willens. Mit dem weitgehenden Fehlen historischer Kritik steht der Islam damit mehr als Judentum und Christentum in der Gefahr, zu einem „logozentrischen Fundamentalismus“ zu tendieren.
Anmerkung
* Überarbeiteter Vortrag, ursprünglich gehalten im Rahmen der Kunstausstellung „ÜberSchrift“ in Stetten im Remstal, 2004.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2025