Das biblische Bilderverbot aus dem Dekalog hat – recht verstanden – eine wichtige orientierende Funktion im Blick auf die Ausgestaltung des je eigenen Gottesglaubens. Andreas Rössler über Wege und Abwege im Umgang mit dem Gebot „Du sollst dir kein Bildnis machen“.

 

Das ursprüngliche zweite Gebot des Dekalogs hat das Bilderverbot zum Inhalt.

Das ursprüngliche erste Gebot des Dekalogs (Ex. 20,2-3; Dtn. 5,6-7) wird fortgeführt im ursprünglichen zweiten Gebot (Ex. 20,4-6; Dtn. 5,8-10). Diese Zählung praktizieren die Juden und die reformierten Protestanten. Im zweiten Gebot wird verboten, (a) sich ein „Gottesbild“ zu machen, ein „Abbild“, also (so die Luther-Übersetzung) ein „Bildnis“ (päsäl) oder „Gleichnis“ (themunah) von Gott, und (b) sich vor diesem auch noch „niederzuwerfen“, es also „anzubeten“, und ihm zu „dienen“.

Dieses strikte biblische „Bilderverbot“ richtet sich zunächst gegen die außer-israelitischen Religionen der damaligen Zeit, etwa den Baalskult, wo solche Götterbilder angefertigt wurden und in ihnen die Kraft der entsprechenden Gottheiten gespürt wurde. Dagegen sagt der Dekalog: Die Götterbilder sind Götzenbilder!

Die Gläubigen der anderen Religionen wollten mit diesen Götterbildern und ihrer Verehrung Macht über die jeweiligen Gottheiten gewinnen.1 (a) Sie sollten ihnen Wohlbefinden und Glück garantieren, den sesshaft gewordenen Nomaden etwa Fruchtbarkeit für Ackerbau und Viehzucht. (b) Diese dem Eigennutz dienende Anbetung schlägt alsbald dahin um, dass man nicht mehr Macht über diese Götterbilder zu gewinnen sucht bzw. über die Gottheiten, für die sie stehen, sondern dass man selbst ganz von ihnen in Beschlag genommen wird. Beim Tanz ums Goldene Kalb (Ex. 32,1-6) etwa wird auf einmal Gut und Geld angebetet. Daran hängt man sein Herz. Davon ist man in Beschlag genommen. Und: „Woran du nun dein Herz hängst und dich darauf verlässt, das ist eigentlich dein Gott“.2 (c) Eine weitere Phase ist dann, die Macht, die man an Gottheiten, an Götterbilder bzw. Götzenbilder abgegeben hat, wieder teilweise zurückzugewinnen, indem man an dieser Macht zum eigenen Nutzen Anteil gewinnt.

Das erste und das zweite Gebot des Dekalogs haben eine ethische sowie eine theologische Dimension, die sich erst im Lauf der Zeit voll entwickelt haben: (a) Ethisch geht es darum, ganz allein dem Gebot Gottes zu folgen, das sich in Liebe, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit konzentriert (etwa Jes. 5,18-23). Damit werden etwa die Fruchtbarkeitskulte der kanaanäischen Baals-Religion mit ihrer Tempelprostitution verworfen. Oder auch Menschenopfer. (b) Theologisch ist im Bilderverbot die Unbegreiflichkeit und Verborgenheit Gottes angelegt. Gott ist unvorstellbar. Er ist ganz anders.

Das Zeitbedingte weitet sich aus ins Universale:

(a) Am Anfang steht (zusammen mit dem Polytheismus) der Henotheismus, die Monolatrie: Wir folgen allein unseremGott JHWH. Er ist stärker als die anderen Gottheiten. Immerhin werden diese nicht ganz ausgeschlossen. Das ermöglicht es auch, Charakteristika von diesen in das eigene Gottesverständnis einzufügen. Der (ursprünglich midianitische) Wüstengott JHWH, der die nomadischen Israeliten ins Gelobte Land führt, wird zum Schöpfer der Erde, der den sesshaft gewordenen Israeliten auch Ackerbau und Viehzucht wie die menschliche Furchtbarkeit gewährt und garantiert.

(b) Bei den Propheten Israels führt der Henotheismus weiter zum Monotheismus. Danach gibt es überhaupt nur den einen, allumfassenden Gott. Auch wenn er als der ganz Andere rätselhaft bleibt (etwa Jes. 55,8-11), ist er doch in Bildern vorstellbar (etwa „Vater“ in Ps. 103,13 oder „Mutter“ in Jes. 66,13).

(c) Heutzutage ist der Monotheismus in den (schon in der Bibel angelegten) Panentheismus auszuweiten, d.h. dass Gott uns von allen Seiten umgibt, uns trägt, unendlich über uns, aber auch nahe bei uns, ja in uns ist.3 Vgl. Luther: „Nichts ist so groß, Gott ist noch größer. Nichts ist so klein, Gott ist noch kleiner.“4 Damit ist Gott nicht „da droben“ und wir wären eben „hier unten“, sondern er ist eine andere Dimension als die Welt, die sich ihm verdankt. Er ist die Tiefendimension, die Tiefe der Welt, ihr Geheimnis. Er ist in der Welt in verborgener Weise wirksam, und auch in uns (wie auch immer), und wir sind von ihm gehalten.

 

Götzendienst heute: Irdisches wird verabsolutiert und Absolutes wird relativiert.

Götzendienst (Idolatrie) heute (und eigentlich schon seit eh und je) äußert sich in einer doppelten Bewegung, nämlich von unten nach oben und von oben nach unten: (a) Einerseits wird Irdisches verabsolutiert, und (b) andererseits wird Absolutes degradiert, relativiert, verharmlost. Es handelt sich in beiden Fällen um eine Auswechslung, eine Vertauschung des Göttlichen und des Weltlichen, des Schöpfers und des Geschöpfes.5

Vergötterung des Irdischen

Die Verabsolutierung von Irdischem führt zu Ideologien: Da wird eine Nation oder ein Volkstum absolut gesetzt, oder eine politische Theorie oder Weltanschauung. Man strebt nach Reichtum (wie im Tanz ums Goldene Kalb, Ex. 32,1-6) oder nach Macht. Das sind dann unsere Idole, unsere Götzen. Nach Johannes Calvin ist das menschliche Herz eine Götzenfabrik: „Der Menschengeist ist zu allen Zeiten sozusagen eine Werkstatt von Götzenbildern gewesen.“6 Da kann es auch sein, dass man einen anderen Menschen vergöttert, vielleicht sogar einen, der einem sehr nahe steht.

Bei diesem Vergötterungsprozess ist zu fragen, ob wir jeweils nur eine einzige Sache zu etwas Absolutem machen, oder ob wir nicht auch mehrere mehr oder weniger absolute Instanzen haben können. Ich vermute Letzteres. Es ist sicher auch so, dass manche solcher Götzen schwerwiegender und manche harmloser sind. Etwa den eigenen Ehepartner für sich absolut zu setzen, ist harmloser, als sich mit Haut und Haaren einem brutalen, Menschen verachtenden Diktator zu verschreiben. Die strengen Wissenschaften und die Vernunft absolut zu setzen, ist harmloser, als ein bestimmtes Volk unerbittlich zu hassen, was dann in der Konsequenz bis zum Völkermord führen kann.

Kann es auch sein, dass jemand überhaupt nichts so hochschätzt? Vielleicht aber dann doch noch sich selbst! So ganz wird die Götzenfabrik kaum zum Stillstand kommen können. Und wenn anscheinend oder eher scheinbar doch, dann stellt sich immer noch die Frage: Gibt es überhaupt verbindliche Werte? Ist da etwas, wovon wir unbedingt gefordert sind, ob es uns passt oder nicht? Gibt es so etwas wie ein wahrhaft ­Unbedingtes?

Degradierung des Göttlichen

Wie man Irdisches, Weltliches, Vergängliches absolut setzen kann und sich dann zum Sklaven der eigenen Idole macht, so kann der Vergötterungsprozess auch umgekehrt laufen, also dass man das wahrhaft Unbedingte oder Göttliche, den Urgrund, die Tiefe, das Geheimnis von allem Geschaffenen ins Irdische, Weltliche zieht und es damit entmächtigt, degradiert, depotenziert und verharmlost. Da wird dann die Kraft, der sich alles verdankt und die allein die Erfüllung schaffen kann, das „mysterium tremendum et fascinans“7, das als schaudervoll empfundene und das anziehende Geheimnis des Heiligen, zu einem Teil der Welt und schließlich zur bloßen Dekoration. Man „lässt Gott einen guten Mann sein“. Gott wird etwa wie früher zum Teil in der bildenden Kunst, als ein „alter Mann mit Bart“ vorgestellt. Nicht zuletzt gegen derartige Verharmlosungen wendet sich das ursprüngliche dritte Gebot („Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen“, Ex. 20,7), sowie die erste Bitte im Vaterunser („Geheiligt werde dein Name“; Mt. 6,9b). Gott darf nicht zu einem Stück Welt neben der von ihm geschaffenen Welt werden.

Diese Verweltlichung Gottes mag häufig einfach schlechte, naive Theologie sein, in der Gott als eine Person nebenanderen Personen vorgestellt wird, statt mit Martin Buber als „absolute Person“8, als Grund alles Personseins und damit als transpersonal. Eine solche Degradierung Gottes führt dazu, dass Gott nicht mehr verstanden wird „als das, was uns unbedingt angeht“ (Paul Tillich),9 und dass er damit für unser tägliches Leben keine Rolle mehr spielt, sondern allenfalls als ein schmückendes Beiwerk fungiert.

Eine solche Degradierung Gottes ist ein erheblicher Beitrag zur gegenwärtigen Säkularisierung und zu wachsender religiöser Gleichgültigkeit. Ein Gott, vor dem wir nicht mehr erschrecken und ehrfürchtig sind, von dem wir uns nicht mehr ganz und gar gefordert und geliebt wissen, ist nicht mehr von alltagstauglicher Bedeutung. Man wird und mag ihn vergessen.

In ähnliche Richtung geht der Versuch, Gott zum Garanten unseres Glücks machen zu wollen, wie man sich in der Zeit des Dekalogs und davor der Gottheit zum eigenen Vorteil bemächtigen wollte. Da ist Gott verstanden als der, der zu meinem eigenen, ganz persönlichen Vorteil eingreifen soll, der für mich intervenieren soll, wenn es mir schlecht geht. Er soll dann unter Umständen auch die von ihm selbst geschaffenen Naturordnungen zu meinen Gunsten außer Kraft setzen. Auch solches Ansinnen10 ist ein Beitrag zur gegenwärtigen Säkularisierung.

 

„Protestantisches Prinzip“: Auch „Religiöses“ darf nicht verabsolutiert werden.

Wir können, mit Tillich, „Religion im engeren Sinn“ und „Religion im weiteren Sinn“ unterscheiden.11 In der Religion im weiteren Sinn geht es um das Ganze, das Woher und Wohin von allem, um die Frage „Warum ist überhaupt etwas? Warum ist nicht nichts?“12 und eine Antwort darauf. Es geht „um das, was uns unbedingt angeht“.13 Religion im weiteren Sinn gehört zum Menschsein, auch wenn man die Bemühung um das Ganze, um die Sinnfrage, wenigstens vorübergehend oder für längere Zeit beiseiteschieben und verdrängen kann. Zur Religion im engeren Sinn gehört all das, wo sich Menschen zusammentun und sich um spezifische Antworten auf die religiöse Grundfrage scharen. Da kommt es zu kultischen Aktivitäten, zu Überlieferungen, zu heiligen Orten und Gemeinschaften mit Priesterschaften und Propheten, zu Offenbarungen und heiligen Texten.

Absolutsetzung der Kirche und der Bibel

Gerade in der Religion im engeren Sinn – im Christentum in der Kirche und allem, was damit zusammenhängt –, kommt es zu Tendenzen der Idolatrie, der Vergötterung, und zwar nicht zuletzt weil es hier um existenziell, lebenspraktisch höchst wichtige Dinge geht. Der Protestantismus hat von Anfang an vor kirchlichen Verabsolutierungen gewarnt. Eine unfehlbare Kirche kann es für evangelisches Christentum nicht geben, unbeschadet aller Verabsolutierungstendenzen, die alsbald auch in den reformatorischen Kirchen in der Praxis nicht ganz ausbleiben sollten. Aber im Protestantismus gilt grundsätzlich: eine unfehlbare Kirche, eine Kirche, die im Glauben nicht irren kann und die die Wahrheit für sich gepachtet hat, ist abwegig. So redet Tillich vom „protestantischen Prinzip“.14 Er redet synonym aber auch von der „prophetischen Kritik“,15 weil diese Ablehnung von religiösen Verabsolutierungen schon bei den Propheten Israels mit allem Nachdruck vertreten wird und weil sie im Christentum nicht nur im Protestantismus zu finden ist.

Wie gesagt, die Kirche als Institution und als Gemeinschaft ist in Gefahr, sich selbst zu verabsolutieren. Und dem muss entgegengehalten werden, dass sie immer fehlbar ist und ein „corpus permixtum“ (ein gemischter Leib), mit Verfehlungen, mit Sünde durchsetzt.16 Wo sich die Kirche selbst verabsolutiert, erhebt sie Machtansprüche, was zur Unterdrückung Andersdenkender und manchmal sogar zu deren Ausrottung führen kann, wie die unglaublichen Grausamkeiten wie Folter und Scheiterhaufen im Mittelalter bis in die Neuzeit hinein zeigen.

Eine weitere Tendenz zur Verabsolutierung findet sich beim Gebrauch der Bibel, falls diese in fundamentalistischer Weise als verbalinspiriert verstanden wird. Eben damit machen Christen ihre Botschaft gegenüber den ihre Vernunft gebrauchenden Menschen unglaubwürdig. Schon Spiritualisten der Reformationszeit wie Sebastian Franck warnen davor, die Bibel als „papierenen Papst“ zu benutzen. Heute redet man da von „Bibliolatrie“.

Tendenzen zur Vergötterung gab es schon in der Alten Kirche im Blick auf Maria, die Mutter Jesu, die – auf der Linie der Artemis – zur Himmelskönigin hochstilisiert worden ist, und die den Titel „Mutter Gottes“ bekam.17

Die „Gottheit“ Jesu

Und wie ist es mit Jesus von Nazareth? Er, der im NT unter anderem den Titel „Sohn Gottes“ bekommen hat, wurde teilweise auch als „Gott“ verstanden, übrigens kaum im NT selbst.18 Wie soll man dann aber die Nachfolge Jesu praktizieren? Einem „über die Erde wandelnden Gott“ kann man als Mensch ja wohl nicht nachfolgen. Jesus als „Gott“ zu verstehen, das macht den christlichen Glauben bei den der Vernunft verpflichteten Wissenschaften unglaubwürdig. Es lässt eigentlich auch keinen Raum für einen Dialog des Christentums mit den anderen Religionen, weil sich ein so verstandenes Christentum als Hüterin der alleinigen, der einzigen Wahrheit versteht.

Vor allem aber wird auch hier etwas aus der Welt, nämlich ein Mensch, verabsolutiert, was der Hoheit des einen allumfassenden und immer größeren Gottes widerspricht. In Mk. 10,18 sagt Jesus zu jemandem, der ihn „guter Meister“ nennt: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein“ (vgl. auch Joh. 17,3). Wenn dann im NT der Christus oder Logos als bei der Schöpfung anwesend apostrophiert wird (so Joh. 1,1-13 und im Christushymnus Kol. 1,15-20), dann ist hier nicht der Mensch Jesus als solcher gemeint, sondern der ewige Christus als das Prinzip der Zuwendung Gottes zu seiner Welt, und dieser ewige Christus (im AT die „Weisheit“ als die Schöpfungsmittlerin, so Spr. 8,22-36 und Weish. 7,22-8,1) hat sich in Menschen offenbart, zentral und einzigartig in Jesus von Nazareth (Joh. 1,14). Wo immer der „Geist Jesu“ (Albert Schweitzer)19 wirksam ist, da ist eben der ewige Christus am Werk.

Tillich hat in diesem Sinn das Kreuz Jesu interpretiert: Jesus habe sich in seinem Kreuzestod an den Christus aufgeopfert und nichts für sich selbst beansprucht.20 Dieser etwas gewöhnungsbedürftige Gedanke erinnert an den Christushymnus Phil. 2,5-11, wonach Jesus der Christus auf alle Selbstbehauptung verzichtet und „Knechtsgestalt“ angenommen hat.

Bei alledem geht es darum, die Gottheit des allumfassenden Gottes, des Urgrundes und Ziels von allem, nicht anzutasten.

 

Das Denken und Reden von und zu Gott ist immer bildlich-gleichnishaft.

Das biblische Bilderverbot hat in radikalen Flügeln der reformatorischen Bewegung zu Bilderstürmerei (Ikonoklasmus) geführt, obwohl die Bilder zu biblischen Geschichten in mittelalterlichen Kirchen ein Weg gewesen sind, als „Biblia pauperum“ (Bibel der Armen) des Lebens und Schreibens unkundigen Leuten die frohe Botschaft zu öffnen. Diese Bilderstürmerei war ein Missverständnis des zweiten Gebots und wurde von Luther21 entschieden abgelehnt.

Schließlich sind alle Vorstellungen, die wir uns von Gott machen, menschliche (anthropomorphe) Vorstellungen. Die alles, was ist, erst ermöglichende und umfassende Urkraft des Daseins ist unfassbar. Wenn wir über sie nachdenken, sie uns vorstellen, sie bezeugen, von ihr reden und sie im Gebet ansprechen, dann geht das nur in Bildern, in Gleichnissen, in Symbolen und Mythen.

Der griechische Philosoph Xenophanes (um 580-478 v. Chr.) schrieb in diesem Sinn: „Hätten die Rinder und Rosse und Löwen Hände wie Menschen, könnten sie malen wie diese und Werke der Kunst sich erschaffen, alsdann malten die Rosse gleich Rossen, gleich Rindern die Rinder auch die Bilder der Götter, und je nach dem eigenen Aussehen würden die leibliche Form sie ihrer Götter gestalten.“22 Der Hintergrund ist die Unfassbarkeit Gottes. So heißt es im Tempelweihe-Gebet König Salomos: „Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen“ (1. Kön. 8,27). Paulus schreibt in dem von ihm zitierten „Hohen Lied der Liebe“: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht“ (1. Kor. 13,12). Jesus redet vor allem in Gleichnissen von Gott, seiner Herrschaft und seinem Verhältnis zu den Menschen.

Auch im Umfeld des Dekalogs und seines ursprünglichen zweiten Gebots ist Gott vorgestellt als Schöpfer, Herr, König, Richter, Gesetzgeber, Vater, Feldherr usw. Diese Vorstellungen sind sprachlicher Art, können aber auch in gemalte bzw. künstlerische Bilder umgesetzt werden. Manche Vorstellungen sind recht handfest und erdverbunden, andere, wie „Geist“, sind recht sublim. Grundsätzlich wird von den Menschen als Personen Gott als Person vorgestellt, ausgestattet mit Freiheit, Geist, Bewusstsein und Willen. Aber man muss sich bewusst sein, dass Gott als Grund alles menschlichen Personseins nicht weniger als Person ist, sondern unendlich viel mehr.

Wir produzieren, ja wir „erfinden“ unsere Vorstellungen, unsere Bilder, unsere Gleichnisse von Gott. So behauptet der Philosoph Ludwig Feuerbach in Umkehrung von Gen. 1,21 in der biblischen Schöpfungsgeschichte: „Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.“23 Danach ist das menschliche Herz nicht nur, wie es Calvin formulierte, eine „Götzenfabrik“, sondern grundsätzlich eine „Gottesfabrik“, genauer: eine Gottesbilder-Fabrik.

Erfundene und gefundene Gottesbilder

Und dann stellt sich die Frage nach der Beliebigkeit, der Willkür unserer Gottesbilder, oder nach ihrer Berechtigung, ja Notwendigkeit. Was wir da „erfunden“ haben, könnten wir ja hier und dort eigentlich „gefunden“ und entdeckt haben, auf Grund unserer Lebenserfahrungen und unseres ehrlichen, gewissenhaften Nachdenkens. Da spielt mancherlei mit: unser Gewissen, das uns zeigt, was gut und was böse ist; ein Gespür dafür, was unserem Leben einen Sinn gibt und was uns glücklich sein lässt. Wir werden getroffen von Begegnungen, die unserem Leben eine Wende geben. Auch von Schicksalsschlägen, die uns erst richtig und ganz hart zur Ernsthaftigkeit führen. Und dann von Wunderbarem, von einem Geheimnis, das uns anrührt und uns einen bleibenden Sinn ahnen lässt. Solche Transzendenzerfahrungen sind nicht nur individuell. Wir teilen sie auch mit anderen, und da werden sie vertieft und zugleich erweitert. Und schließlich gibt es ganz urtümliche und ursprüngliche Transzendenzerfahrungen, die uns erzählt oder von weither überliefert werden, mündlich oder schriftlich, und die uns einleuchten. Von ihnen ist die Bibel voll.

Das führt dann zu eigener Gewissheit. Diese wiederum lässt uns die allerdings menschlich entstandenen und geformten Gottesvorstellungen aussortieren, zwischen solchen unterscheiden, die für uns hilfreich sind und verbindlich werden, und solchen, die bloß Stroh sind, die man vergessen kann, oder die sogar in ihren Auswirkungen gefährlich werden, etwa die von einem unerbittlich strafenden Gott oder von einem Gott, der bestimmte Völker und Rassen erwählt, andere dagegen grundsätzlich verwirft.

Zur Unterscheidung zwischen hilfreichen und unangebrachten Vorstellungen, Bildern und Gleichnissen von Gott bedarf es eines Maßstabs, und dieser kann auch nicht anders als symbolisch-gleichnishaft sein, da wir nun einmal Menschen sind. Dieser Maßstab ist für Christen Jesus als der Christus, Jesus in seiner Verkörperung von Gerechtigkeit, Liebe und Wahrhaftigkeit und seinem Bezogensein auf Gott. So ist Jesus das Bild Gottes, und der Geist Jesu ist vielerorts in der Menschheit wenigstens ansatzweise wirksam.

Das biblische Bilderverbot betrifft also nicht die Vorstellungen, Bilder, Gleichnisse, Symbole und Mythen von Gott und Göttlichem, sofern diese (a) dem Geist Jesu entsprechen und sofern es (b) immer klar bleibt, dass es eben Vorstellungen, Bilder und Gleichnisse sind, die hinter „der Sache selbst“ zurückbleiben. Denn „Gott ist immer größer“ (deus semper maior), und damit identisch: die Wahrheit ist immer größer.

Mit diesem Ansatz ist der Boden für religiöse Toleranz bereitet, denn Andersdenkende und Andersgläubige gehen ihre je eigenen Wege hin zum immer größeren Geheimnis des Daseins. Nur gibt es Grenzen der Toleranz, nämlich dort, wo deutlich gegen den Geist Jesu verstoßen wird und dies auch noch religiös begründet wird.

 

Die Dualität im Göttlichen, negative und affirmative Theologie und der „Ikonoklasmus“.

Das biblische Bilderverbot und das immer bildlich-gleichnishafte Denken, Vorstellen und Reden von Gott sind also keine sachlichen Gegensätze, sondern beides spielt zusammen. Das lässt sich auch verdeutlichen an dem fundamentalen Unterschied zwischen (a) unmittelbarem und unvermeidlichem, zum Menschsein als solchem gehörendem Transzendenzbewusstsein einerseits und (b) dem Getroffenwerden von dem wahren Gesicht des Unbedingten andererseits24.

Wir können nicht anders, als etwas Unbedingtes, Absolutes, allem Dasein Vorausgehendes und es Bedingendes vorauszusetzen, so wie wir voraussetzen müssen, dass wir jetzt, in diesem Augenblick existieren. Dieses „Unvordenkliche“ (F.W.J. Schelling), dieser Urgrund ist rätselhaft, verborgen, immer größer. Er sprengt all unser Denk- und Vorstellungsvermögen. Auch davon können wir nur gleichnishaft-bildlich reden, wenn auch recht abstrakt, etwa wenn wir vom „Sein selbst“ reden und dabei vom „Seienden“ ausgehen, oder von der „Tiefe“ und dabei von der Oberfläche ausgehen.

Aber nun ist zu fragen, wie wir mit dem Unvordenklichen, dem Sein selbst, dem Urgrund dran sind. Was ist sein wahres Wesen, sein wahres Gesicht? Ist dieser Urgrund konkret zu verstehen als bloße Materie oder Energie, wie es der materialistisch-naturalistische Atheismus sieht? Dann wäre er uns gegenüber völlig gleichgültig und hätte uns existenziell auch nichts zu sagen. Keine letztverbindlichen Werte wie Gerechtigkeit, Liebe und Wahrhaftigkeit gingen von ihm aus. Wir wären völlig auf uns selbst gestellt. Gedanklich hätten wir auch noch das Problem, dass der menschliche Geist mit seinen schöpferischen Möglichkeiten einem so verstandenen Urgrund in gewisser Weise sogar überlegen wäre.

Oder ist der Urgrund von allem Geist, dem sich alles Geistige verdankt, und Liebe, die sich seiner Schöpfung zuwendet, die menschenfreundlich ist und von uns Liebe erwartet? Also „Wille der Liebe“, wie Albert Schweitzer es ausdrückt?25 Das ist die biblische Überzeugung. Von dieser Botschaft kann nur in konkreten Bildern und Gleichnissen gedacht und geredet werden. Es wird nicht ausbleiben, dass diese Botschaft, so sehr sie auf unseren Glauben treffen mag, angesichts aller Dunkelheiten in der Welt auch wieder zu Zweifeln führen wird. Der Zweifel ist immer der Schatten des Glaubens.

Diese Dualität von unergründlichem Urgrund einerseits und dessen wahrem Gesicht andererseits spiegelt sich wider (a) im biblischen Bilderverbot, das alle Vorstellungen von Gott kritisiert, die problematischen und sogar die eigentlich erfreulichen, weil sie alle hinter der Hoheit des Unbedingten zurückbleiben, und (b) im bildlich-gleichnishaften Denken und Reden, das uns Gott doch in seinem wahren Wesen vor Augen führen kann.

Das Erstere ist „negative Theologie“,26 die besonders in der mit den Propheten Israels einsetzenden Idolatriekritik, der Kritik an den Götzenbildern, zu Tage getreten ist. Sie hat sich in der Moderne als Ideologiekritik profiliert und warnt vor allen möglichen Idolen und Verabsolutierungen, die bis dahin gehen können, dass man sich selbst zum Idol macht und nicht mehr zu Selbstkritik fähig ist. Das Letztere ist „affirmative Theologie“,27 die von Selbstbekundungen des Unbedingten, des Absoluten, des Göttlichen ausgeht und in ihnen die Offenbarungen des wahren Gesichts Gottes und damit Erfüllung, Erlösung, Heil findet.

Beides gehört zusammen, aber die negative Theologie macht die Rätselhaftigkeit und Verborgenheit des Göttlichen deutlich, während die affirmative Theologie im Zusammenspiel mit der negativen Theologie angesichts unserer Grenzen zu Bescheidenheit und Selbstkritik mahnt und um die Zweifel weiß, die auch bei der Glaubensgewissheit nicht ausbleiben.

Der französisch-amerikanische Theologe Gabriel Vahanian hat in seinem bahnbrechenden, im Titel freilich etwas irreführenden Buch „The Death of God“ (1961)28 vom Tod Gottes nicht an sich, sondern im Bewusstsein vieler Menschen gesprochen, im Zusammenhang heutiger Säkularisierung bzw. Verweltlichung. Gott ist im Christentum häufig verharmlost worden, und andererseits haben sich alle möglichen Ideologien breit gemacht. Vahanian fordert hier einen „Ikonoklasmus“, einen Bildersturm, eine Entlarvung falscher Gottheiten, und er unterstreicht, als reformierter Theologe, das Anderssein Gottes einerseits29 und unsere ethische Weltverantwortung andererseits.30

Das passt zu dem Lied „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“ von Johann Jakob Schütz (von 1675). Dort heißt es: „Die falschen Götzen macht zu Spott; der Herr ist Gott, der Herr ist Gott! Gebt unserm Gott die Ehre!“ (EG 326,8).

 

Anmerkungen

1 Karl-Heinz Bernhardt, Gott und Bild. Ein Beitrag zur Begründung und Deutung des Bilderverbotes im Alten Testament (Theologische Arbeiten Band II), Berlin 1956.

2 Martin Luther, Großer Katechismus 1529, Auslegung zum ersten Gebot. Zitiert nach: Luther, Der Große und der Kleine Katechismus. Ausgewählt und bearbeitet v. Kurt Aland und Hermann Kunst, Göttingen 1983, 9.

3 Z.B. Jes. 52,12; Ps. 139,1-12; Röm. 11,33-36.

4 Martin Luther in: Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis 1528 (WA 26, 318-345): „Wir sagen, dass Gott sei ein übernatürlich unerforschlich Wesen, das zugleich in einem jeglichen Körnlein ganz und gar und dennoch in allen und über allen und außer allen Kreaturen sei. Nichts ist so klein, Gott ist noch kleiner. Nichts ist so groß, Gott ist noch größer. Nichts ist so kurz, Gott ist noch kürzer. Nichts ist so lang, Gott ist noch länger. Nichts ist so breit, Gott ist noch breiter. Nichts ist so schmal, Gott ist noch schmäler. Und so fortan. Ist’s ein unaussprechlich Wesen über und außer allem, das man nennen oder denken kann.“ Zit. nach Emanuel Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, Berlin 31958, 39.

5 Dazu Röm. 1,18-25: Die „Gottlosen“, die „Narren“ (V. 22) „haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit einem Bild gleich dem eines vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere“ (V. 23). Sie „haben die Wahrheit in Lüge verkehrt und das Geschöpf verehrt und ihm gedient statt dem Schöpfer“ (V. 25).

6 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchen 1955, 45 (Institutio I, 11, 8).

7 Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen München (1917) 301936, 13-37. 42-52.

8 Martin Buber, Gottesfinsternis, (Zürich 1953) Gerlingen 21994, 62.

9 Paul Tillich, Systematische Theologie Bd. 1, Stuttgart 31956, 19f.

10 Dazu Ulrich Neuenschwander, Zwischen Gott und dem Nichts. Beiträge zum christlichen Existenzverständnis in unserer Zeit, Bern und Stuttgart 1981, 279.

11 Paul Tillich, Religion als eine Funktion des menschlichen Geistes?, in: ders., Die Frage nach dem Unbedingten, Schriften zur Religionsphilosophie (Gesammelte Werke Bd. V, hrsg. v. Renate Albrecht), Stuttgart 1966, 37-42.

12 Paul Tillich, Systematische Theologie Bd. 1 (s. Anm. 9), 137.

13 S. Anm. 9.

14 Paul Tillich, Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Schriften zur Theologie I, Gesammelte Werke Bd. VII (hrsg. v. Renate Albrecht), Stuttgart 1962, 29-53.

15 A.a.O., 119.

16 Vgl. Augsburger Bekenntnis von 1530, Art. 8. – Jürgen Lorz (Hg.), Das Augsburgische Bekenntnis. Studienausgabe. Göttingen 1980, 24.

17 Maria, die Mutter Jesu, als „Gottesgebärerin“ (theotokos), so auf dem 3. Ökumenischen Konzil 431 zu Ephesus.

18 Immerhin Joh. 20,28; 1. Joh. 5,20. Dagegen aber Joh. 10,34f: „Ihr seid Götter“.

19 Einige Zitate samt Stellenangaben zu dem bei Albert Schweitzer zentralen Begriff „Geist Jesu“ in: (Hg.) Einhard Weber, Das Buch der Albert-Schweitzer-Zitate, München 2013, 184. 270. 295. 315.

20 Paul Tillich, Die Frage nach dem Unbedingten (s. Anm. 11), 222. 243.

21 Weniger oder gar nicht von den Schweizer Reformatoren.

22 Zit. aus: (Hg.) Hubertus Halbfas, Das Welthaus. Ein religionsgeschichtliches Lesebuch, Stuttgart und Düsseldorf 1983, 80.

23 Ludwig Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, Leipzig 1851, 241 (20. Vorlesung): „Denn nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel heißt, sondern der Mensch schuf, wie ich im ‚Wesen des Christentums‘ zeigte, Gott nach seinem Bilde.“ – Auf dem Feuerbach-Denkmal von 1930 in Nürnberg auf dem Rechenberg findet sich dieses Feuerbach-Zitat: „Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.“

24 Vgl. etwa Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, in: Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, Gesammelte Werke Bd. VIII (hrsg. v. Renate Albrecht), Stuttgart 1970 (85-100) 93-99.

25 Albert Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken (1931). in: ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Rudolf Grabs, Bd. 1, München 1974, 244. 248.

26 Ralf Stolina, Art. Negative Theologie, RGG4, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 170-173.

27 Keine eingebürgerte Bezeichnung, aber „positive Theologie“ bezeichnet eine (konservative) Richtung in der deutschen evangelischen Theologiegeschichte zwischen 1870 und 1918, ist also schon besetzt. Vgl. Heinrich Assel, Art. Positive Theologie, RGG4, Bd. 6 (s. Anm. 26), Sp. 1508-1509.

28 Gabriel Vahanian, The Death of God. The Culture of Our Post-Christian Era, New York 1957. Deutsche Übersetzung (mit weiteren Arbeiten): Ders., Kultur ohne Gott? Analysen und Thesen zur nachchristlichen Ära, Göttingen 1973. – Ders., Wait Without Idols. Understand the God that Kills Himself, Eugene (Oregon, USA) 1964. – No Other God. Wording the World and Worlding the Word, Eugene (Oregon, USA) 1966. – Der Tod Gottes und der christliche Glaube als Ikonoklasmus, in: (Hg.) Dean Peerman, Theologie im Umbruch, Der Beitrag Amerikas zur gegenwärtigen Theologie, München 1968, 195-204. – Welt, Gnade und Freiheit in der ikonoklastischen Perspektive des Glaubens, in: (Hg.) Franz Theunis, Kerygma und Mythos VI-5. Religion und Freiheit (Theologische Forschung LII)), Hamburg-Bergstedt 1974, 195-207.

29 Gabriel Vahanian, Kultur ohne Gott? (s. Anm. 28), 155.

30 A.a.O., 186f.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer i.R. Dr. Andreas Rössler, Jahrgang 1940, 1992-2003 Chefredakteur des Evang. ­Gemeindeblatts für Württemberg, 1992-2003 Vorsitzender des Evang. Bundes Württemberg, 2004-2012 Schriftleiter der Zeitschrift "Freies Christentum".

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2025

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