Gott anders zu denken, nicht im Sinne einer zwingenden All-Macht, sondern als all-gütige Liebe und in Beziehung zur Welt und seinen Geschöpfen – das ist das Anliegen der in Nordamerika entwickelten Prozesstheologie. Dieter Koch berichtet über eine inspirierende Begegnung mit Catherine Kellers Buch „Über das Geheimnis – Gott erkennen im Werden der Welt, eine Prozesstheologie“.*
Manchmal geschieht es, dass einem ein theologisches Buch in die Hand fällt, das schon beim Lesen der ersten Zeilen begeistert und bis zum Ende fesselt. Catherine Kellers Buch „Über das Geheimnis“ ist für mich so ein Buch. In diesem Buch liegt eine Fülle von Gedanken bereit, die darauf warten, in unsere Zeit hinein entfaltet zu werden, um uns neu mit Gott oder dem, wofür dieses Wort steht, in Berührung zu bringen. Wie kann man von Gott reden, von dem Aufgang eines un-endlichen Horizontes an Güte, Gerechtigkeit und Schönheit mitten in unserem Leben? Wie kann man von diesem Mehr-im-Leben und zugleich Mehr-als-Leben so Zeugnis geben, dass wir uns neu freien Geistes und freien Herzens in den Jubel erheben, den man seit alters mit der Religion verbindet? Wären da nicht auch und gerade die vielen Verstellungen des Heiligen, die globale Geschichte religiöser wie patriarchaler Gewalt, all die ideologischen Systeme, die die Wahrheit zurechtbiegen und ihre Herrschaftsansprüche in dogmatische Ewigkeiten kleiden statt dem Lebendigen Entfaltungsräume zu bieten.
Discerning divinity in process – Titel und Programm
Catherine Kellers Buch stellt sich dieser Aufgabe. Es geht darin um die Wiederentdeckung der Atemräume des Lebens, um das Erkennen Gottes im Werden der Welt, wie es die deutsche Übersetzung formuliert. Im englischen Original heißt es: „On mystery, Discerning divinity in process“. Der Titel ist Programm. Dem göttlichen Geheimnis auf der Spur sein, eingebunden in ein faszinierendes Gewebe, Kosmos/Universum genannt, dazu will dieses Buch verlocken. Gott – das Geheimnis der Welt. Wir stehen am Ufer des Geheimnisses, der Blick geht in die Weite und im Wellenspiel findet sich der eine oder andere Gruß aus der Unendlichkeit, der darauf wartet, ins Leben gespült, in Sprache gebracht, zum Symbol erhoben zu werden.
Discerning, to discerne – das steht für Erkennen, für Wahrnehmen, für Entdecken. Entdecken – hier geht es um Augenöffnungen, um die oft kleinen, bisweilen aber überragend großen Epiphanien, wie sie beispielhaft im Buch der Bücher uns anvertraut sind Wir dürfen und sollten sie als solche immer neu buchstabieren, mitten in unser Leben hinein. Das dritte Moment im Titel, „in process“, benennt dabei vorab die entscheidende Perspektive: Werden, Be/coming, Voranschreiten und auf dem Weg sein. Nichts ist festgeschrieben. Alles ist im Prozess, im Werden – und Geist, um hier erstmals und direkt aus diesem Buch zu zitieren, ist „Geschenk, Atem, Fluss und Flamme“ (16) Warum kann man das sagen? Weil es sie gibt, die „Augenblicke feurigen Erkennens“ (15), Lichtungen im Sein, und Du setzt den nächsten Schritt.
Zugleich steht „in process“ für die Entscheidung für die Prozessphilosophie und deren Aneignung im Feld der christlichen Theologie. Prozessphilosophie, das ist eine umfassende neue Ontologie, die das Werden als Leitkategorie durchdenkt und an die Stelle der klassischen metaphysischen Entscheidungen zugunsten des Seins, zugunsten ewiger Substanzen und unveränderlicher Ordnungen setzt. Die Prozessphilosophie, von Alfred North Whitehead grundlegend ausgeführt, ist von ihrem Ansatz her darauf angelegt, Religion und Wissenschaft miteinander zu versöhnen. Doch wir steigen hier nicht in seine hoch abstrakten Reflexionen ein, sondern folgen der lebendigen Darstellung christlicher Gehalte in Catherine Kellers Buch. Hier werden prozesstheologische Kernbegriffe zu hermeneutischen Werkzeugen für ein befruchtendes Neu- und Wiederlesen zentraler biblischer Texte.
Openended interactivity – Interaktivität mit offenem Ausgang
Nur ein paar wenige Momente seien vorab benannt: Der Schlüsselbegriff heißt „Interaktivität mit offenem Ausgang“ (15) englisch „openended interactivity“. Wir sind keine isolierten Wesen, keine unabhängigen Substanzen, keine geschlossenen Monaden, sondern wir stehen und entwickeln, bisweilen auch hemmen uns in gegenseitiger Abhängigkeit. Das ganze Universum bildet „ein offenes Netzwerk von spontanen Interaktionen“ (51). Alles steht in Relation zueinander. Wir selber sind zutiefst relationale Wesen. Das Prozessdenken gibt „dem Ideal der gegenseitigen Abhängigkeit den Vorrang gegenüber der Unabhängigkeit“ (51). „Beziehungen werden nicht zwischen getrennten Einheiten gebildet, die jede zuvor als eigenständige Substanzen existierten, sondern entstehen in den Rhizomen und Netzwerken miteinander verflochtener Ereignisse“ (Gespräch, 90). Es sind unsere Beziehungen, die uns entscheidend ausmachen. „Mind your relations“ ist eine immer wiederkehrende Maxime dabei.
Nun sind zum einen diese nicht schlechthin gut; zu vielfältig und zahlreich sind die Verstrickungen und gegenseitigen Blockaden, die wechselseitigen Beherrschungsversuche, die Catherine Keller immer wieder mit einem so klaren wie warmen Blick auf menschliche Konstellationen in diesem Buch benennt. Es gilt zum andern auch, dass Gott oder die Divinity dem Prozess nicht entnommen ist. „Für ProzeßtheologInnen ist Gott zugleich ewig und im Werden, ein lebendiger Prozess der Interaktion“ (52). In einem späteren Vortrag fasst sie es so zusammen: „Die Welt ist nichts Anderes als eine grenzenlose Interaktivität von neuen Werdenden und vom Werden neuer Interaktionen. Gott ist in dieser Welt nicht von Zeit und Raum abstrahiert, sondern allem immanent – und so auch allem transzendent. So wird Gott in der Aufnahme des freien Werdens der Geschöpfe, in Antwort auf sie … Gottes Sein ist nicht trennbar vom Werden. Er ist Liebe in Beziehung“ (Gott, 22).
In Berührung mit der Wahrheit
Doch nach diesen vorbereitenden Gedanken ist es höchste Zeit, direkt in dieses so pfingstliche Buch einzusteigen. Catherine Keller legt hier eine prozesstheologisch grundierte Einführung in die Theologie vor. Das ist ihre Intention und das führt sie in acht Kapiteln, zentrale Fragen und Begriffe der Theologie thematisierend, aus.
Nach einem Prolog, in dem sie in diese Theologie des Werdens einführt, die sie als dritten Weg versteht zwischen den Totalitätsansprüchen der (religiösen) Ideologien und dem sinnleeren Nihilismus der säkularen Moderne, zeigt sie in den ersten beiden Kapiteln „Theologie als Prozess“ und „Wahrheit im Prozess“ eindrücklich auf, was Theologie ausmacht, ein Schöpfen und Bedenken lebendiger Metaphern, die uns vor das göttliche Geheimnis stellen und uns mit Gott in Berührung bringen. Denn existentielle Wahrheit ist metaphorische Wahrheit. Es gilt, sich von dem Anspruch auf absolute Wahrheit zu verabschieden, diesem größten Hindernis für Aufrichtigkeit auch und gerade in Fragen der Religion und des Glaubens. Vielmehr ist es wichtig, die Theologie „wieder in eine Suchbewegung nach dem Geheimnis zu versetzen und „neuen Raum für erfüllende neue Metaphern des Geheimnisses zu gewinnen“ (44).
Das Un-endliche strahlt in die Welt und blitzt in Texten auf, die uns zur Existenzerhellung dienen, uns helfen, in Kontakt mit Gott zu treten. Dabei sind gerade die alten Texte wertvoll, denn sie zeigen uns paradigmatisch auf, wie diese Begegnung zwischen Himmel und Erde immer wieder stattgefunden hat. Gott wirkt und seine Wahrheit berührt. Die biblische Überlieferung benennt in immer neuen Sprachbewegungen das Aufleuchten des göttlichen Grundes, besingt und feiert das Ereignis einer alles Endliche übersteigenden Treue oder, wie sie exemplarisch an Ps. 33 ausführt, seine Huld, seine beharrliche Liebe („steadful love“).
In Auslegung des Verhörs Jesu durch Pilatus stellt sie das Achselzucken des Pilatus, sein „Was ist (schon) Wahrheit?“, dem Zeugnis Jesu gegenüber: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich von der Wahrheit zeugen soll“. Es dient ihr dazu, etwas scharf formuliert, der Wahrheit der Folter die lebendige Wahrheit gegenüberzustellen. Der Fokus liegt auf der Berührung („in touch“), der Berührung der Wahrheit („touch of truth“). Wir erkennen sie entscheidend an „ihrer befreienden Wirkung. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo bringt das energisch auf den Punkt: ‚Die Wahrheit, die uns frei macht, ist genau deshalb wahr, weil sie uns frei macht. Wenn sie uns nicht befreit, sollten wir sie wegwerfen‘“ (74). Wo sich Wahrheit ereignet, kommt es zu einer „offenbarende(n) Erleuchtung“ (75), zu Er-mutigung auf den Wegen des Vertrauens. „Offenbarung ist (eben) kein Diktat eines nicht zu hinterfragenden Wissens“ (13) und „der Glaube ist keine festgelegte Meinung, sondern ein lebendiger Prozess. Er ist gerade … die Öffnung zu einem Leben im Prozess. Leben bedeutet vertrauensvoll in den nächsten Moment einzutreten, in das Unvorhersagbare“ (16).
Theologie ist „ein Wahrheitsprozess und keine Liste von Wahrheiten“ (49), die konkrete religiöse Sprache ein Mix unterschiedlichster Narrative, Mythen, Metaphern, Rituale, Gebete, ethische Intuitionen, Philosopheme, die sich wechselseitig bereichern und begrenzen. Diese beiden ersten Kapitel abschließend formuliert Catherine Keller: „Das Johanneische Drama zeigt uns die Wahrheit als verletzliches, geistvolles Fleisch vor dem Achselzucken des Imperiums. Sie bietet keine Schibboleths der Erlösung. Und doch verwehrt sie sich der Auflösung in Angst und Unterwerfung. Sie ist beharrlich in ihrem Zeugnis, manchmal zart und oftmals ein wenig zur Seite geneigt, aber sie ist immer in Verbindung und Berührung. Sie eröffnet einen eigensinnigen Prozess, der uns – in unserer ‚zerbrechlichen Freude‘ – einlädt, ihn wissend, bewusst und gemeinsam fortzusetzen“ (78).
Inspiration und Improvisation
Im Folgenden geht sie nun zentralen Fragen der Dogmatik und zugleich den gedanklichen Herausforderungen, die in ihrer überlieferten Gestalt liegen, nach. Sie beginnt mit dem Verständnis der Schöpfung. Wie versteht die Prozesstheologie den Schöpfungsbegriff und was verstellt das Verständnis der Genesis? Da ist die vertraute Rede von der creatio ex nihilo, das Wunder des Seins als Wechsel von Nichts in Fülle und zugleich die Verstellung eines angemessenen Schöpfungsverständnisses durch die allzu gefälligen Lesarten der Genesis als Pseudowissenschaft oder Glaubensfundamental. Da ist dieses ständige Reden vom Schöpfungsbericht, die Fokussierung auf den Erstanfang in oder vor der Zeit, überhaupt die fast vollständige Fixierung auf Gen. 1.
Wie schwer tut sich die Glaubensverkündigung bis heute diesen so einzigartigen Eröffnungstext des biblischen Kanons als antimythischen Mythos (C. Fr. v. Weizsäcker), oder als Schöpfungslied zu vermitteln, dabei kann man über das Geheimnis des Werdens gar nicht anders als in poetischen, dabei gedankenhellen Bildern reden. Zwar weiß die Theologie auch um die creatio continua, aber wie selten gibt es ein echtes Wissen um kreative Prozesse, die uns das Verständnis öffnen für die Fulgurationen des Neuen, für Emergenz und die Potentiale selbstorganisierender Komplexität. Kreativität und vor allem Ko-Kreativität ist ein Leitbegriff der Prozessphilosophie. Von ihr her lässt sich gut verstehen, was Werden, Geburt, überraschender Beginn bedeuten und wie diese zum Symbol werden für die Weite und Fülle, die Ordnung und die Komplexität der Wirklichkeit.
Was Catherine Keller nun vorschlägt und auch konkret vorlegt, ist, Gen. 1 als Gleichnis zu lesen, als Gleichnis und nicht als (verhüllte) Astrophysik, dabei hat sie sich viel mit der modernen Physik beschäftigt, mit der Quantenfeldtheorie und der Chaostheorie. Beides, das aufmerksame Lesen von Gen. 1, das gerade keine creatio ex nihilo kennt, und der Sinn für moderne Wissenschaft, ermutigt zu einem echten Sinn für „schöpferisches Werden“ aus dem Chaos, am Rande des Chaos. Die Erkenntnis der creatio ex profundis und ein freier Blick auf das Chaos als Vor-Raum neu entstehender Fügungen, als Feld verborgener Möglichkeiten bereichert unser Verstehen von Bibeltext und Lebenstexten. Die Tehom aus Gen. 1,2 wird zum Blicköffner für „die Turbulenzen, die Ungewissheit, die Stürme und die Tiefen unserer tatsächlichen Lebensprozesse“ (81). Das Tohuwabohu zeigt sich als spielerisch-poetisches Wabern, der Geist vibriert über den Wassern. Das lichtende Wort legt sich zum Rhythmus der Materie und die Finsternis ist nicht finster nur, sondern lichtes Dunkel.
Die Welt als Körper Gottes
Die Welt ist der Körper Gottes. Panentheismus kann man das nennen, der Supranaturalismus ist erledigt. Leben wird dechiffriert als „Oszillieren von Risiko und Verheißung“ (91), und Schöpfung ereignet sich „durch das ko-kreative Handeln der Geschöpfe. Es sind die sich realisierenden Möglichkeiten aus einem übervollen Potential – mehr als die Umsetzung eines ewig festliegenden Plans.
„Gott ist der Grund der Ordnung und der Neuheit, der jedem emergierenden Ereignis ein ‚anstoßendes Ziel‘ … anbietet“ (101) – dies ist die feste Überzeugung der Prozessphilosophie. „Die unendliche Kreativität des Universums wird durch das göttliche Element im Universum, wie Whitehead es nennt, limitiert, konturiert und in Beziehung gezogen“ (52). Da ist keine dinghafte Schöpfung, sondern wir sind eingewoben in einen komplexen interaktiven Prozess“ (101).
Und Gott – da ist eine neue Metapher, die sich zu den altvertrauten gesellt – ist nicht Töpfer, Architekt oder Drachentöter nur, sondern (auch) „ein Komponist der ein Ensemble hervorruft, mit dem er spielen kann. Ein Ensemble der Ensembles? Elohim ruft Kunst hervor, wie die Musik eines Jazz-Ensembles, mit vielen Soli und ständiger Reintegration, mit ihren komplexeren Riffen zu den elementaren Themen, die in den Tiefen anklingen. Ur-Themen wie E=mc2 und das Gesetz der Schwerkraft, scheinen das Gesetz oder den Logos des Universums auszudrücken. Wenn die Biologie einsetzt, nimmt ACGT – die Buchstaben, die die vier Nukleinsäuren des Gens repräsentieren – das Urthema auf“ (99f). Sollte nicht gar die „ungeschaffene Finsternis über die Tiefe nichts anderes sein als die Bodenlosigkeit des Göttlichen?“ (92)
Natürlich spricht Catherine Keller weitere Themen der Schöpfungstheologie an und beeindruckend ist, wie sie wachen Sinnes auf die patriarchalischen Deutungen der Genesis eingeht, die davon bestimmt sind, alles Weibliche mit einem dämonisch-bösen Chaos gleichzusetzen. Sie setzt solcher Tehomophobie eine lebensbejahende Tehomophilie entgegen. Auch darin – welch ein Potential! Sie beendet dieses Kapitel mit den Worten: „Das Leben bleibt ein kreatives Risiko. Doch wir dürfen dem göttlichen Prozess vertrauen … Im Prozess des Werdens liegt eine Großzügigkeit, die immerfort Erneuerung anbietet“ (108).
Potentia statt Potestas
Das vierte Kapitel stellt sich der das religiöse Leben so tief verstörenden Theodizeefrage. Sie ist das Produkt einer in die Irre führenden, hochproblematischen Metaphysik, die die biblischen Zeugnisse einem Gottesbild unterwirft, das vom Diktum des unbewegten Bewegers dominiert ist, von einer All-Macht, der alles unterworfen ist. Es ist scharf formuliert, der Alpha-Gott, der Gott der imperialen Macht, der Unterwerfung fordert, ins Verstummen treibt und den Atheismus als, so scheint es, einzigen Rettungsweg aus sich heraustreibt. Die Krise der Religion ist eng verbunden mit der onto-theologischen Verfasstheit der klassischen Metaphysik (Heidegger), ihrer Logik des Einen. Es war das Bestreben der Prozessphilosophie eine alternative Theo-Logik zu entwickeln. Für sie ist die All-Güte leitend, der Sinn für göttliche Fürsorge. „Whiteheads Gott bezeichnet nicht eine kontrollierende Macht, sondern einen lebendigen Prozess, der nicht getrennt ist von dem Universum, in dem wir alle leben – Menschen und andere Geschöpfe –, sondern verstrickt mit ihm in einem pulsierenden Prozess der Beziehungen. Dieser Gott erschafft uns nicht ex nihilo, sondern ruft uns eher heraus, wie in der Genesis, aus einer Tiefe des Möglichen. Die Gottheit kontrolliert und zwingt nicht, sondern lockt und überredet“ (Gott, 21). Echte Macht überwältigt nicht, sondern befähigt. Wann endlich gelingt es uns, „das Schreckgespenst einer alles kontrollierenden Allmacht los(zu)lassen?“ (128).
„Das Christentum hat wiederholt die power lines der Göttlichkeit mit denen der Herrschaft überkreuzt … (doch) Herrschaft steht in krassem Gegensatz zum Evangelium“ (132). Es ist Alfred North Whitehead, der im Schlusskapitel „Gott und die Welt“ seines Hauptwerks „Prozess und Realität“ diese tiefgehende Idolatrie ausdrücklich thematisierte, „Gott nach dem Bilde der ägyptischen, persischen und römischen Reichsherrscher zu gestalten … ‚Die Kirche wies Gott Attribute zu, die ausschließlich Cäsar angehörten‘. Das Kreuz wird noch immer wie ein Schwert geschwungen“ (132f) – welch eine Tragödie!
Es gibt jedoch, so Whitehead in besagtem Kapitel, „im galiläischen Ursprung des Christentums noch eine Anregung, die zu keinem der drei Hauptstränge des Denkens („jeweils Gott nach dem Bilde eines Reichsherrschers, Gott nach dem Bild einer Personifizierung moralischer Energie und Gott nach dem Bild eines philosophischen Grundprinzips dar(zu)stellen“ (612)) so richtig passt. Sie legt das Schwergewicht weder auf den herrschenden Kaiser noch auf den erbarmungslosen Moralisten oder den unbewegten Beweger. Sie hält fest an den „zarten Elementen der Welt, die langsam und in aller Stille durch Liebe wirken; und sie findet ihren Zweck in der gegenwärtigen Unmittelbarkeit eines Reichs, das nicht von dieser Welt ist. Liebe herrscht weder noch ist sie unbewegt; auch ist sie ein wenig nachlässig gegenüber der Moral. Sie blickt nicht in die Zukunft, denn sie findet ihre eigene Belohnung in der unmittelbarsten Gegenwart“ (612f).
Es sind dies Worte, die mein Gemüt jedenfalls mit immer neuer Bewunderung und Ehrfurcht erfüllen, die mir die Wirklichkeit als liebenswerte Heimat erschließen und Gott als jedes Lobes würdiges Geheimnis, in dem/dank dem Himmel und Erde sich verbinden. Gott – das ist nichtkontrollierende Liebe, eine durchaus machtvolle Potenz des Sein-Lassens. Gott „öffnet Räume des Werdens. … Dieser Raum beinhaltet weder zügellose Unordnung noch eine aufgezwungene Ordnung. Er tut sich am Rande des Chaos auf, ohne in den Abgrund zu stürzen. Er unterstützt ein Freispiel der Beziehungen“ (135). Gott ist für Whitehead wie für alle Prozessphilosoph*innen und -theolog*innen „nicht eine intervenierende effiziente Ursache, sondern eine Zweckgerichtetheit, nicht die einer Einzel-Zweck-Teleologie, sondern im Ziel jedes kreatürlichen Ereignisses. Gott erscheint als die Verlockung der Möglichkeit, nicht das Aufzwingen der Tat“ (Gott, 21f).
Eros und Agape
Damit sind wir nun bei den beiden nächsten Kapiteln angekommen: „Wage das Abenteuer.“ (Kap. 5) und „Klebrige Gerechtigkeit“ (Kap. 6) und zugleich schon tief in die Prozessphilosophie eingedrungen. Ihr Ertrag für die Theologie zeichnet sich immer mehr ab. Diese beiden Kapitel entfalten das Wechselspiel von Eros und Agape, Leidenschaft und Mit/Leidenschaft, beide tief im göttlichen Grund verwurzelt, beide einander untrennbar zugeordnet, in prozesstheologischer Sprache auch „Gottes schöpferische Liebe“ und „Gottes erwidernde Liebe“ genannt. Man darf es Whitehead hoch anrechnen, dass er mit höchstem metaphysischem Anspruch dem klassischen kalten Substanzdenken ein warmes, strahlendes Bedenken des grundlegenden alles prägenden „Eros des Universums“ entgegensetzt.
In einem ersten Durchgang folgt Catherine Keller der flämischen Begine Hadewich, einer dieser glühenden Mystikerinnen des Mittelalters, die in einer Flut erotischer Bilder die Gottheit umtanzt. Das sei hier einmal benannt, weil auch sonst ihre Gedankenführung um die großen Stimmen der mystisch getönten christlichen Theologie weiß, insbesondere Meister Eckhart und Nikolaus von Cues und seine Theologie des possest. Nikolaus war es, der den Panentheismus stark machte. „Cusanus ist vielleicht der erste Christ, der ausspricht, dass ‚alles in allem ist und jedes in jedem‘, und dass nur deswegen Gott in allem ist und alles in Gott ist“ (Gott, 27). Radikale Interdependenz – auch eine Beschreibung von Liebe, das ko-kreative Wechselspiel, in dem man miteinander wächst oder auch einander verletzt.
Doch wie von Liebe reden, von Gottes Liebe, ohne dass einem das Wort schon im Hals stecken bleibt angesichts der Verstrickungen, der Verheerungen der Liebe. Hilft es, Dante das Wort zu geben, wenn er von der Liebe spricht, die Sonn und Erde bewegt, oder Augustinus, wenn er so anrührend von Gott spricht als dem Haus, das die Liebenden in sich birgt? Wer von Gottes Liebe spricht, muss auch um ihr Verlangen nach Stetigkeit wissen und ihr freies Sich-Verströmen jenseits aller Kalküle. „Die Liebe nach dem Bild Gottes auszuüben, so wird uns gesagt, bedeutet wie die Sonne zu strahlen und wie der Regen zu strömen, zu fließen hinaus zu den anderen und in sie hinein … Solch ein Sich-Ausströmen in der Liebe ist riskant (und deshalb nichts für Schwächlinge, nichts für wohlige Stunden am Kamin). Wir fließen hinein in das Unbekannte, das Unvorhersehbare. Denn bis zu einem gewissen Grad bleiben wir füreinander unverständlich und fremd, sogar in unseren Intimitäten“ (148).
Das sind auch beispielhafte Sätze für das seelsorgerliche, taktvolle Wissen, das Catherine Kellers Ausführungen immer mitprägt. Sie weiß um die vielfältigen Verzerrungen, fehl geleitete Gier, Begehren, das an sich selber scheitert, Missbrauch, der wieder Missbrauch hervortreibt, zerstörerische Abhängigkeiten.
Doch da ist so viel mehr: Whiteheads „Eros des Universums“: „Er dachte dabei an einen kosmischen Hunger nach Werden, nach Schönheit und Intensität der Erfahrung. Der göttliche Eros wird in jedem Geschöpf als ‚anstoßendes Ziel‘ wahrgenommen – oder als ‚das Locken‘. Es ist ein Locken hin zu eigenem Werden, ein Ruf zur Verwirklichung der Möglichkeiten einer größeren Schönheit und Intensität unseres Lebens“ (151f), in Whiteheads Worten: „Gott ist der Poet der Welt, leitet sie mit zärtlicher Geduld durch seine Einsicht/Vision in das Wahre, Schöne und Gute“ (153; Prozeß und Realität, 618).
Catherine Keller führt dies ganz in der Spur Whiteheads aus, wenn sie fortfährt: „Diese Werte sind reine Möglichkeiten, die nur im partikularen Werden der Schöpfung verwirklicht werden. Der Inhalt des göttlichen Ziels für jedes partikulare Geschöpf ist die beste Möglichkeit des Augenblicks. Das Göttliche ist somit in jedem von uns, als Einfluss, als Einfließen von Sehnsucht – ob wir diese Sehnsucht nun als unsere eigene nachempfinden oder nicht. In diesem Sinne entspricht das Ziel dem alten Konzept der vorauslaufenden Gnade. Mitten im Durcheinander unseres früheren Ballasts und unserer gegenwärtigen Neigungen ruft Gott. Die Liebe lockt und lässt sein. Das Durcheinander unseres Lebens wird zu unserem Potential. Und wir Geschöpfe treten in unserem Werden hervor. Du trittst in diesem Augenblick hervor – eine neue Welle bricht aus dem Meer der Tiefe“ (154).
Prinzip und Person zugleich
Gott ist Prinzip und Person zugleich. Wir, die wir in/dank ihm Personen werden, werden persönlich gerufen, inmitten all unserer Interdependenzen. Es ist dabei selbstverständlich kein heteronomes Verfügen, sondern ein Rufen, ein Locken von innen. Die göttliche Leidenschaft rührt uns vor allem an als kleine, leise Stimme, die „uns von innen in unsere Freiheit ruft, obwohl sie verschiedentlich gefährdet ist durch die Gewohnheiten der Angst, Gier und Herrschaft“ (159).
Gottes Leidenschaft ist immer auch Mit/Leidenschaft (Com/passion). Unsere Antwort auf seinen Ruf, die wir durch unser Leben, unser fragmentarisches Gestalten aus Liebe und Freude gewoben, geben, geht in Gott ein. Seine erwidernde Liebe „nimmt uns in solcher Weise auf, dass wir Teil der göttlichen Erfahrung werden, Teil von Gott selbst. Das bedeutet aber, dass das Selbst Gottes sich in diesem Augenblick verändert hat, ohne aufzuhören, all das zu sein, was Gott war, aber nun bereichert ist – und manchmal zur selben Zeit verarmt ist – durch alles, was sich hier und in den anderen hundert Milliarden Galaxien ereignet. Und dann flutet diese Agape wieder zurück in die Welt. Dieses Fließen ist der Eros für den nächsten Augenblick, der wieder neue Möglichkeiten in sich trägt – manchmal gerade genug für einen weiteren Atemzug zum Überleben, manchmal für das Königreich, das sich schon jetzt und noch nicht verwirklicht, in uns und unter uns, in dieser Welt und über sie hinaus“ (164).
Was diese Theologie ausmacht, ist ihr Gespür für das Wechselspiel von Eros und Agage. Eros ertrinkt in sich selbst, wo die Weitung durch die Agape fehlt. Was am Ende bleibt? Dieser Gott, so Whitehead, „rettet die Welt, so wie sie in die Unmittelbarkeit seines eigenen Lebens übergeht. Es ist das Urteil von einer Zartheit, die nichts verliert, was gerettet werden kann. Es ist auch das Urteil von einer Weisheit, die alles verwendet, was in der Welt bloß Trümmer ist“ (192; Prozeß und Realität, 618). Solch „zärtliche Fürsorge, der nichts verloren geht – keine Schwalbe kein Haar – erlöst uns nicht aus unserem sterblichen Leben. Aber durch es hindurch“ (194).
Der Atemraum der Gleichnisse – Jesus, das Gleichnis Gottes
Fassen wir das bisher Dargelegte zusammen, so lässt sich formulieren: „Indem wir von der Projektion einer kontrollierenden Allmacht frei werden, können wir die göttliche Sehnsucht nach einer blühenden, abenteuerlichen, wunderschönen Welt spüren … was verbindet das Unendliche mit dem Endlichen, wenn nicht Inkarnationen der Liebe?“ (164)
Die wegweisende Inkarnation ist für uns Jesus von Nazareth in seinem Weg, seiner Botschaft, seiner Hingabe. Das siebte Kapitel zeichnet Grundlinien einer prozesstheologischen Christologie, in dessen Zentrum ein wacher Sinn für Jesu Reich-Gottes-Praxis steht und die Sprache der Basileia, die Gleichnisse. Dabei schenken seine Gleichnisse einen eigenen kontra-apokalyptischen Atemraum. Dieses Kapitel ist für mich wie eine Heimkehr in wohlvertraute Auslegungen. Einladung, Freude, Fest und response-ability sind hautnah greifbar. Die göttliche Gnade, zeigt sich einmal mehr nicht als Allmacht, sondern als Güte und Geduld. Sie fasziniert. „Sie ist keine Macht, die sich über uns erhebt, sondern eine Kraft, die uns ermächtigt“ (216). Jesus ist, wie Catherine Keller mit John Dominic Crossan formuliert, „als Gleichniserzähler gestorben und als Gleichnis auferstanden“ (224). „Der größte Gleichniserzähler wird für diejenigen, die Ohren haben zu hören und Augen zu sehen, zum Gleichnis für Gott. Sodass wir in diesem Raum – zwischen uns, unter uns, über uns hinaus – zu Gleichnissen eines unendlichen Werdens werden. In der Fleischwerdung unserer Möglichkeiten und im Atemraum des Geistes können wir vielleicht auch Gott etwas Raum geben“ (225).
Diese durch und durch pfingstliche Theologie ist voller Hoffnung. Hoffnung nimmt die Angst. Mut zum Sein, besser noch Mut zum Werden widersteht den apokalyptischen Untergangsphantasien. Aus der Kreativität im Herzen der Welt bricht Freude, Lebenslust und Courage auf. „There is a break-out of jubilation“ (Jim Parkinson, 228).
Schluss
Meine Dankbarkeit für Catherine Kellers Ausführungen ist groß. Vielmals stellen sich mir Gedanken anderer großer Lehrer*innen ein, die mir Wegleite wurden auf der Spur des Geheimnisses, sei es beispielhaft Karl Rahner oder Paul Ricoeur. Catherine Keller steht nicht allein. Sie weiß sich eingereiht in eine große Zahl von Zeug*innen; selber gibt sie immer wieder ihrer Ehrerbietung für die große feministische Theologin Elizabeth Johnson Ausdruck.
So kommt, dass wir das Offene schauen – Der Jubel der Seele ist Ewigkeit (mit Friedrich Hölderlin).
Literatur:
C. Keller: Über das Geheimnis, Freiburg 2013 (On the mystery, Minneapolis, USA, 2008); dies., Der Gott, den wir brauchen, in: K. Ruhstorfer (Hg.), Das Ewige im Fluß der Zeit, QD 280, Freiburg 2016, 17-31 (Gott); R. Kearney, Jenseits des Unmöglichen. Gespräch mit Catherine Keller in: ders., Revisionen des Heiligen, Freiburg 2019, 75-107 (Gespräch); A.N. Whitehead, Prozeß und Realität, stw 690, Frankfurt/M. 1983
Anmerkung
* Vortrag in der Kirchlich-theologischen Arbeitsgemeinschaft des Evang. Kirchenbezirks Waiblingen am 16.5.2024 in Waiblingen.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2025