Wie könnte dem Ernst der Klimakrise mit mehr Engagement begegnet werden? Karl-Heinz Drescher-Pfeiffer schlägt eine Erweiterung sowohl der Handlungsmöglich­keiten als auch der motivierenden Narrative vor, um mehr Mitmenschen und Mitchristen zu umweltgemäßem Handeln zu bewegen. Dazu diskutiert er die Begriffe Fairness und Gerechtigkeit, die vielleicht über den christlichen Rahmen hinaus Menschen erreichen können. Auf der Grundlage der Ergebnisse der ökumenischen Weltkonferenz 1990 in Seoul prüft er, ob sie ökologisch und theologisch angemessen sind.

 

Zweifel an der Erreichbarkeit des Pariser Klimaziels

Bis zum Ende des Jahrhunderts rechnet ein Forscherteam mit einer Steigerung um 2,7 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit und mit einer ernsthaften Bedrohung des Lebens auf der Erde.1 Proteste gegen das Gebäudeenergiegesetz bewirkten mehr klimabelastende Ausnahmen bei Tausch oder Neueinbau von Heizun­gen2, und diejenigen vieler Landwirte gegen mehr Klimaschutz in der Landwirtschaft bewirkten Abschwächung oder Streichung vieler geplanter Maßnahmen.3 Die Proteste sind aus der Sicht vieler Betroffener verständlich, sie betonen kurzfristige Verbesserungen und weniger die langfristigen, ökologisch verträglichen Absicherungen der wirtschaftlichen Existenz. Zudem wird die Situation komplexer, wenn sich die Klimakrise steigert und gleichzeitig umweltgemäßes Handeln immer weniger zum Erreichen des Pariser Klimaziels beiträgt.

Niemand trägt gern zu folgenlosem Wollen bei. Darum schlägt der Verfasser die Erweiterung sowohl der Handlungsmöglichkeiten als auch der motivierenden Narrative vor. Das könnte mehr Mitmenschen und Mitchristen zu umweltgemäßem Handeln bewegen. Dazu werden die Begriffe Fairness und Gerechtigkeit diskutiert, die auch über den christlichen Rahmen hinaus ­Menschen erreichen können. Auf der Grundlage der Ergebnisse der ökumenischen Weltkonferenz 1990 in Seoul wird geprüft, ob sie ökologisch und theologisch angemessen sind.

 

Konzeption Faire Gemeinden

Mindestens acht Landeskirchen4 und vier Diözesen vergeben das Siegel „Faire Gemeinde“. Neun Partner­kirchen5betreiben das ökumenische Einkaufsportal www.wir-kaufen-anders.de. Damit verdient der Begriff fair im kirchlichen Horizont Beachtung. „Fair“ meint laut Duden „den Spielregeln entsprechend und kameradschaftlich, den Regeln des Zusammenlebens entsprechend; anständig, gerecht im Verhalten gegenüber anderen.“6 Fairness genießt im Sport hohe Akzeptanz.

Da die Konzepte der beteiligten Kirchen zur Fairen Gemeinde uneinheitlich sind, bezieht sich der Verfasser als Berliner auf das niederschwellige Konzept der EKBO7. Um die Verantwortung für die Schöpfung wahrzunehmen, betonen alle Konzepte Nachhaltigkeit, den fairen Handel, globale Gerechtigkeit und die Ausrichtung auf die Kirchengemeinde. In der EKBO8 wählen die Gemeinden aus den Bereichen „bewusst konsumieren“, „nachhaltig wirtschaften“, „global denken“ und „sozial handeln“ 12 Maßnahmen, um sie in den nächsten zwei Jahren im gemeindlichen Leben, aber nicht im Privatleben der Gemeindeglieder, umzusetzen. Die Gemeinde als zentraler Akteur bündelt Motivation, Handeln und Verantwortung in einem erweiterten Handlungsrahmen. Die Begriffe solidarisch, ökologisch und sozial definieren „fair“, ergänzt durch Reflexion des eigenen Konsums und Energieverbrauchs, der ökologischen Grenzen und des Verständnisses von Konsum und Lebens­freude.

Das Konzept ist ein theologisches und geistliches Programm in der Tradition des konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts und will „die Störung überwinden, deren Ausdruck die ökologischen Systemstörungen sind. Wir wollen den Menschen zurückrufen in die Rolle, die Gott ihm in dieser Welt zugedacht hat.“9 Gerechtigkeit und Frieden werden als Grundverständnis und Grundhaltung des Menschen zur Mitwelt beschrieben10, die jederzeit und in jeder Hinsicht relevant und deshalb unteilbar sind.

Zum „Barmherzigen Samariter“ wird betont, „den ‚Nächsten‘ können wir uns nicht nach eigenem Gutdünken aussuchen. Der Nächste ist, wer unserer Unterstützung bedarf. Egal wie, egal wo auf der Welt. Wir schauen nicht weg, wir stellen uns in den Dienst der Nächs­ten­liebe.“11 Sie gilt besonders den Armen im Globalen Süden. Trotz global organisierter Produktion, Echtzeitkommunikation und ausgeweiteter Mobilität fehlt oft das Bewusstsein, in einer Welt zu leben, wenn die sozialen und ökologische Auswirkungen des Handelns des Globalen Nordens im Globalen Süden ausgeblendet werden.12

Partnerschaften, Patenschaften und internationale Kontakte in den Globalen Süden sind wichtig, um gemeinsam zu leben, die Folgen des Wohlstands im Globalen Norden für die Menschen und die Schöpfung im Globalen Süden mit zu erleiden und sie im Horizont des ­einen christlichen Glaubens zu reflektieren.

 

Fairness im Verständnis von Norbert Copray

Dr. Norbert Copray M.A., Gründer und Leiter der Fairness-Stiftung, ist Diplom-Theologe mit Studienabschlüssen in Psychologie, Sozialwissenschaften und Philosophie sowie therapeutischen Zusatzausbildungen sowie Mitbesitzer und Mitherausgeber der liberalen katholischen Zeitschrift „Publik-Forum.13 Fairness ist für ihn eine eigene, nicht ableitbare Motivation menschlichen Handelns, die die Menschen früh zum Überleben entwickelten.14 Sie meint laut einer Umfrage von Infratest dimap für 95% der Bevölkerung Respekt, Rücksichtnahme und Gerechtigkeit.15 Bei Rücksichtnahme denken viele an Situationen, in denen Rücksichtnahme vor Rücksichtslosigkeit, Gemeinwohl vor Einzelinteresse, Kooperation vor Konkurrenz, Achtsamkeit vor Grobheit zu gehen hat, um dauerhaft zusammenzuleben. Fairness-Kompetenz von Personen wie Organisationen beruht auf kommunikativen, sozialen, emotionalen und methodischen Kompetenzen, die Integrität zusammenhält. Integrität benötigt Glaubwürdigkeit, Authentizität in der Rolle bzw. Funktion und ethische Orientierung.16 Ethische Orientierung umfasst viele Werte mit Fairness als Leitbegriff. Im Konflikt der Werte Gesundheit, Wahrheit und Kosten im Krankenhaus lässt Fairness die Wahrheit rücksichtsvoll sagen, ohne die Kosten ­gegen den Kranken auszuspielen.

Der Evolutionspsychologe Michael Tomasello be­schreibt17 die Entstehung der Leistungen, die nur Menschen schaffen. Bereits die Frühmenschen vor dem homo sapiens überlebten nur durch gezieltes gemeinsames Handeln. Dazu entwickelten sie Ziele, Regeln, ihre sanktionsbewehrte Einhaltung und ein gemeinschaftlich ausgerichtetes Denken mit der Möglichkeit, situationsorientiert neue Perspektiven zu übernehmen und Rollen zu wechseln. Eine leistungsfähige Kommunikation aus Lauten und Gesten erlaubte bei plötzlichen Wendungen weiter zu kommunizieren. Die zielgerichtete Kooperation stärkte ihre Gemeinschaft und förderte Produktivität und Kreativität. Deshalb sind für Tomasello alle menschlichen Leistungen Ergebnis von Kooperationen und leistungsfähiger Kommunikation. Damit bestätigt er auch Coprays Sicht der Fairness.

Die Erfahrung, dass unfaires, die Gemeinschaft schädigendes Verhalten bestraft wird, stärkt für ihn die Gemeinschaft18. Das belegt das Ultimatenspiel, bei dem Testpersonen jeweils 100,– € erhalten mit der Aufgabe, einem Mitspieler einen Betrag als Geschenk anzubieten. Bei Annahme des Angebots behält jeder seinen Anteil. Bei Ablehnung verliert der Anbieter seine 100,– €. Viele Beschenkte lehnen selbst 25,– € ab. Bei längerer Spieldauer erhöhen sich die Angebote auf 50,– €. Bei dieser „altruistischen Bestrafung“ erziehen die Spieler ihre Partner zu fairem Verhalten, ohne kurzfristig davon zu profitieren. In 15 verschiedenen Gesellschaften auf fünf Kontinenten hatte das Spiel das gleiche Ergebnis: „Es gibt emotionale, gefühlte Fairness-Normen, eine Neigung zur Kooperation und den Wunsch zur Bestrafung für nicht kooperative Menschen.“19 In Los Angeles wiesen Hirnforscher nach, dass das menschliche Gehirn einen faireren Interessenausgleich mit einer stärkeren Glücksreaktion belohnt.

Rutger Bregman20 beschrieb, dass die Londoner nach den deutschen Bombenangriffen 1940/41 und die Deutschen nach den alliierten Bombenangriffen 1944/45 sich meistens besonnen, hilfsbereit und kooperativ ­verhielten. Das zeigt die tiefe Verankerung von Kooperation und Rücksichtnahme.

Für Copray gibt es Fairness nur mit Mitgefühl und Compassion.21 Im Mitgefühl überschreitet sich der Mensch zum anderen hin, vor allem zu denen, die auf Zuwendung und faires Handeln angewiesen sind. Feinfühligkeit des menschlichen Magens, Gespür des menschlichen Herzens und Spiegelneuronen des menschlichen Gehirns unterstützen dies Überschreiten.

 

Fairness und Spiegelneuronen

Die Nervenzelle Spiegelneuron22 zeigt im Gehirn eines Primaten beim „Betrachten“ eines Vorgangs das gleiche Aktivitätsmuster wie bei dessen „eigener“ Ausführung. Erstmals beschrieb sie der Neurologe Giacomo Rizzolatti 1992. Ein Messgerät für die Aktivität von Neuronen im Gehirn eines Makaken23 surrte bei seinem Griff zur Nahrung. Plötzlich surrte es, als der Affe nur einem Forscher beim Essen zusah. Zur Erklärung dieser Beobachtung wurde auf Spiegelneuronen geschlossen, die auf Gefühle und Verhalten anderer wie ein Spiegel ­reagieren und sie imitieren.

Rizzolatti24 beschrieb für das alltägliche Greifen einer Kaffeetasse auf der neuronalen Ebene die Struktur, die diesen physischen Vorgang ermöglicht. Nach neueren Forschungen bestehen viele Bereiche des Gehirns aus anatomisch und funktional unterschiedlichen Feldern mit starken Verbindungen untereinander. In Bereichen, die für sensorische Informationen und motorische Impulse zuständig sind, befinden sich sehr viele Spiegelneuronen oft mit mehreren parallelen Nervenbahnen zu Bereichen des Gehirns und des Rückenmarks. Durch zielkoordinierte Bewegungen wie das Ergreifen können Spiegelneuronen kodieren, pragmatisch und vorsprachlich begreifen und speichern. Das lässt sie schnell neue Situationen erfassen und darauf angemessen reagieren. Dies Verstehen ist wichtig, weil sich viele unserer höheren kognitiven Fähigkeiten darauf stützen.

Menschliche Spiegelneuronen sind bisher wenig erforscht. Ohne sie könnten wir uns abstrakt vorstellen, wie die Anderen sich verhalten, nicht aber verstehen, was sie wirklich tun. Unser Gehirn erkennt und versteht die von ihnen vollzogenen Akte unmittelbar ohne eigene Aktivität.25 Lernen, Nachahmen, gestische wie verbale Kommunikation und das Verstehen emotionaler Reaktionen anderer haben eine neuronale Entsprechung in der Aktivierung bestimmter Spiegelschaltungen. „Auch Emotionen scheinen unmittelbar geteilt zu werden: Nehmen wir bei anderen Schmerz oder Ekel wahr, so werden dieselben Bereiche der Großhirnrinde aktiviert, die beteiligt sind, wenn wir selbst Schmerz oder Ekel empfinden.“26

Als wissenschaftlich gesichert gilt, dass Retina (Netzhaut) und Cochlea (Ort der Umwandlung der Schallwellen in elektrische Impulse durch die sog. Haarzellen) mehrfach auf der Hirnrinde repräsentiert sind. Das 1906 von Henry Dale in der Hypophyse entdeckte Peptid Oxytocin27 wirkt als Hormon und Neurotransmitter. Jede Art von angenehmem Hautkontakt wie der Saugimpuls des Säuglings beim Stillen, Wärme, Massieren oder Aktivitäten des Stammhirns können seine ­Ausschüttung veranlassen.

Neuere Forschungen beurteilen die Bedeutung der Spiegelneuronen skeptischer.28 Es werden Details kritisiert, kaum Alternativen zu Spiegelneuronen entwickelt.

 

Fairness und Gerechtigkeit

Für Copray29 ist Gerechtigkeit das große Prinzip und Fairness der Mittler zur alltäglichen Beziehungspraxis. Fairness ist zugleich Voraussetzung, Realisierung und Ergebnis guter Beziehungen.30

Im Hintergrund steht John Rawls Gerechtigkeitsverständnis der „Gerechtigkeit als Fairness“31. Rawls präzisiert Rousseaus rein theoretische Idee des Gesellschaftsvertrags. Die Menschen als vernünftige Wesen mit eigenen Zielen und Gerechtigkeitsgefühl legen die Gerechtigkeitsgrundsätze der gesellschaftlichen Grundstruktur in einer fairen ursprünglichen Übereinkunft fest.32 Dabei kennt keiner seine Stellung in der späteren Gesellschaft, weder Status oder Klasse noch Umfang oder Qualität seiner natürlichen Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Das Ergebnis ist:

Erster Grundsatz
Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.

Zweiter Grundsatz
Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen ­folgendermaßen beschaffen sein:
(a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und
(b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen­stehen.“33

Rawls nimmt mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit das Motto der französischen Revolution auf und verbindet sie. Vorrang hat Freiheit als Gesamtsystem aller Grundfreiheiten, das für alle möglich ist, nicht als Freiheiten, die nur Einzelnen möglich sind. Die Freiheit des Einzelnen findet in der Freiheit der Mitmenschen ihre Bestimmung und ihre Begrenzung. Denn sie darf nur eingeschränkt werden, wenn das Gesamtsystem der Freiheiten für alle gestärkt wird oder wenn eine geringere als die gleiche Freiheit für die davon Betroffenen annehmbar ist. Damit kann, was Macht oder Gewalt des Stärkeren bewirkt, nicht sein „Recht“ sein. Wegen der Brüderlichkeit sind Leistungsfähigkeit und Nutzenmaximierung der Gerechtigkeit untergeordnet. Eine Chancen-Ungleichheit muss die Chancen der Benachteiligten verbessern, und eine besonders hohe Sparrate muss insgesamt die Last der von ihr Betroffenen mildern. Für Rawls sind der Nutzen für die Gesellschaft und ihren Zusammenhalt wichtiger als die Interessen der Einzelnen. Deshalb sollen Benachteiligte vor allem bei einschneidenden Maßnahmen den größtmöglichen Nutzen haben.

Je stärker das schwächste Mitglied der Gesellschaft ist, desto belastbarer ist sie. Je geringer die sozialen Unterschiede sind, desto größer sind gesellschaftlicher Friede und Zusammenhalt. Für Copray gedeihen Fairness und Vertrauen am besten in offenen Gesellschaften mit Marktwirtschaft oder Tauschhandel, wenn konsequent für Kooperation und Sanktion von Unfairness gesorgt wird.34

 

Rohstoffabbau im Globalen Süden für die Elektromobilität

Die Studie „Weniger Autos, mehr globale Gerechtig­keit“35 von Brot für die Welt stellt beispielhaft gravierende Verletzungen der Menschenrechte und Beschädigungen der ökologischen Systeme durch den Rohstoffabbau in den Ländern des Globalen Südens für den Wohlstand des Globalen Nordens dar. Der Abbau von Lithium für die Elektromobilität in Argentinien, Chile und Bolivien belastet an einem der trockensten Orte der Welt das Ökosystem erheblich mit sinkenden Wasserspiegeln der Salzseen und des Grundwassers, vertrocknender Flora und Fauna. Hinzu kommen gravierende soziale Beeinträchtigungen der Vieh-, Land- sowie Fischwirtschaft, vielfach mit Wegfall bisheriger Berufsmöglichkeiten sowie rechtswidrige Enteignungen und Vertreibungen der Landbesitzer und keine existenzsichernden Löhne, unsichere Arbeitsbedingungen und untätige staatliche Aufsichtsorgane.36

Globale Gerechtigkeit gebietet, beim Abbau dieser Rohstoffe die Existenzgrundlagen der Anwohner der Förderanlagen zu erhalten, den Primärrohstoffbedarf der Industrieländer – Deutschland ist weltweit der fünftgrößte Verbraucher meist importierter metallischer Rohstoffe – auf den Anteil zu reduzieren, der ihrem Anteil an der Weltbevölkerung entspricht, und die Unternehmen zur Einhaltung menschenrechtlicher und ökologischer Sorgfaltspflichten einschließlich existenzsichernder Einkommen zu verpflichten.

Zudem ist die Elektromobilität ökologisch erst akzeptabel, wenn Antrieb, Produktion und Entsorgung zu 100% klimaneutral organisiert sind, einschließlich der klimaneutralen Herstellung der Karosserie mit grünem Wasserstoff. Ob und wann er industriemäßig und zu einem marktfähigen Preis verfügbar ist, ist offen.

 

Theologie der Schöpfung

Ob Gerechtigkeit und Fairness sich zu ökologischen Leitbegriffe eignen, wird anhand der Ergebnisse der ökumenischen Weltkonferenz in Seoul 1990 zum Abschluss des konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung erörtert. Denn dort reflektierten Christen aus allen Erdteilen Fragen der Gerechtigkeit und der Verantwortung für die Schöpfung intensiv und existenziell in ihrer gegenseitigen Beziehung.

Die siebte Grundüberzeugung37 beschreibt Gottes Liebe zu seiner Schöpfung, deren Leben und Lebendigkeit seine Herrlichkeit spiegeln. Die nach Gottes Bild geschaffenen Menschen erhalten als Diener Gottes und Abbild seiner erschaffenden und erhaltenden Liebe eine besondere Verantwortung, für die Schöpfung zu sorgen und in Harmonie mit ihr zu leben. Sie wird bewusst ohne 1. Mos. 1,28 („Macht euch die Erde untertan“) begründet, weil der Satz jahrhundertelang die Zerstörung der geschaffenen Ordnung rechtfertigte.

Gottes Erlösungswerk in Jesus Christus versöhnt alle Dinge miteinander und ruft auf, am Werk der Heilung durch den Geist Gottes in der ganzen Schöpfung teilzunehmen. Land, Wasser, Luft, Wälder, Berge und alle Geschöpfe sind in Gottes Augen sehr gut. Weil seine Güte die ganze Schöpfung durchdringt, sollen die Christen alles Leben, nicht nur das menschliche, um seiner selbst willen heilig halten. Die Bewahrung der Ganzheit der Schöpfung hat einen sozialen Aspekt, den Frieden auf der Grundlage von Gerechtigkeit, und einen ökologischen Aspekt, die Regenerierbarkeit und Überlebensfähigkeit natürlicher Ökosysteme, so dass ihre Unversehrtheit geschützt wird und Tiere und Lebewesen den Raum zum Leben haben, den sie brauchen.

Die Unfähigkeit der Menschheit, die lebendige Erde zu lieben, ließ die Reichen und Mächtigen die Erde ausplündern. Die Bedrohung allen Lebens sowohl für die jetzige als auch für die kommende Generation zwingt zum Handeln und dem Anspruch zu widerstehen, alle geschaffenen Dinge seien nur für die Ausbeutung durch den Menschen da. Der Widerstand richtet sich auch gegen die Vernichtung von Arten um des von Menschen erzielten Gewinns willen, das Konsumdenken, die schädliche Massenproduktion und die Verschmutzung von Land, Luft und Wasser. Er steht den von Zerstörungen der ökologischen Grundlagen und der Verletzung der Menschenrechte Betroffenen direkt und aktiv zur Seite.

 

Theologie der Gerechtigkeit

Gott gehört die Welt. Auf der Grundlage beschreibt die erste Grundüberzeugung Gerechtigkeit. Menschliche Macht und Autorität sind so auszuüben, dass sie der Absicht Gottes mit dieser Welt dienen und vor den Menschen verantwortet werden, in deren Namen sie geschehen. Diejenigen, die wirtschaftliche, politische, militärische, gesellschaftliche, wissenschaftliche, kulturelle und juristische Macht ausüben, sind Haushalter im Namen von Gottes Gerechtigkeit und Frieden.

Für die zehnte Grundüberzeugung38 sind Gerechtigkeit und Menschenrechte untrennbar. Ihre Quelle ist Gottes Gerechtigkeit, der sein versklavtes und verelendetes Volk aus der Unterdrückung befreit (2. Mos. 3,7f). Die Menschenrechte umfassen individuelle und kollektive soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte, die Rechte auf Grund, Boden und Bodenschätze, auf eigene ethnische bzw. rassische Identität, auf Religionsfreiheit und politische Freiheit, auf Souveränität und Selbstbestimmung der Völker sowie ihr Recht, ein eigenes Entwicklungsmodell zu wählen und frei von Angst und Fremdbestimmung zu leben, sowie das Recht von Frauen und Kindern auf ein Leben ohne Gewalt in der Familie und in der Gesellschaft.

In Christus wird die Macht Gottes unübersehbar deutlich. Sie zeigt sich gerade im Leiden als erlösende und mitleidende Liebe, die mit der geschundenen und leidenden Menschheit solidarisch ist. Diese Macht Gottes befähigt die Menschen, die Botschaft der Befreiung, der Liebe und der Hoffnung zu verkünden, die neues Leben gibt, Widerstand gegen Ungerechtigkeit zu leisten und die Mächte des Todes zu bekämpfen.39

Die zweite Grundüberzeugung betont: „Wir bekräftigen, dass Gott auf der Seite der Armen steht. Armut ist ein Skandal und ein Verbrechen. Es ist Gotteslästerung, zu sagen, sie entspreche dem Willen Gottes. Jesus ist gekommen, damit wir ‚das Leben in seiner ganzen Fülle‘ (Joh 10,10) haben. Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat Christus die Mächte entlarvt und … besiegt, die den Armen ihr Recht auf Leben in seiner Fülle verweigern (Lukas 4,16-21) … Jene, die die Gesellschaft als die ‚Geringsten‘ behandelt, nennt Jesus seine Geschwister (Matth 25,31-46). Wir … müssen … heute erkennen, dass die Bedürfnisse der ‚Geringsten‘ nur befriedigt werden können, wenn die Strukturen der Weltwirtschaft grundlegend verändert werden.“40

 

Gerechtigkeit als ökologischer Leitbegriff

Allein aufgrund vernünftiger Überlegungen und des Gerechtigkeitsgefühls entwickelt Rawls ein sehr stark auf die Gemeinschaft und das Höchstmaß der für alle möglichen Freiheiten – und damit auch für die Benachteiligten. Die klar strukturierte Ausgangssituation hat als logisches Ergebnis das Höchstmaß an Gerechtigkeit für alle, weil sie einseitige Vorteilsbildungen verhindert – da man nicht sicher sein kann, in ihren Genuss zu kommen – und der Gemeinschaft eine starke Position gibt. Die gesellschaftlichen Belange sind wichtiger als die Interessen Einzelner. Das gleicht Unterschiede aus, statt sie zu vertiefen. Deshalb kann Rawls auch die Ideale der Französischen Revolution gut in ihrem gegenseitigen Zusammenhang entfalten.

Jesus konnte sich zu den in materieller, psycho-sozialer oder emotionaler Hinsicht Armen in Wort und Tat hinwenden, weil er sich von Gottes Liebe getragen wusste, in sich ruhte und allen Menschen auf Augenhöhe begegnete und ihnen das zukommen ließ, was ihnen zu ihrer ganzen Fülle (Joh. 10) fehlte. In Mt. 25 bezeichnet Jesus die Armen als seine Geschwister und macht das Verhalten ihnen gegenüber zum Maßstab dafür, ob jemand sich in seinem Leben des Reiches würdig erwiesen hat.

Zur Bewahrung der Ganzheit der Schöpfung gehören Frieden auf der Grundlage der Gerechtigkeit und damit auch die gesellschaftlich verbindliche Verankerung der Menschenrechte, die für alle gelten und nicht zur politischen Disposition stehen.

Im Blick auf die „Option für die Armen“, die die lateinamerikanischen Bischofskonferenzen 1968 in Medellin und 1979 in Puebla forderten, betonte Jürgen Moltmann, dass das einfache „Mit-anderen-dasein“ die Basis für jedes erdenkliche „Für-andere-dasein“ ist. Sonst führt dieses „für“ zu Fürsorge und Bevormundung. Die Armen brauchen keine neuen Fürsprecher oder Fürsorger, sondern Schwestern und Brüder, die mit ihnen gemeinsam leben. Deshalb ist die Parteinahme für die Armen zuerst eine Option der Armen für die Armen.

Von daher ist Rawls Verständnis der Gerechtigkeit als Fairness auch als ökologischer Leitbegriff geeignet.

 

Fairness als ökologischer Leitbegriff

Coprays Fairness-Begriff bewegt sich mit Begriffen wie Rücksichtnahme, Respekt, Achtung der Würde des Anderen, Begegnung auf Augenhöhe, Integrität und vor allem Empathie und Mitgefühl im Bereich des Menschlichen. Die evolutionäre Entwicklung von Kooperation und Gemeinschaftsorientierung sowie die neuronale und physische Verankerung geistiger und emotionaler Vorgänge zeigen, dass sie für alle Menschen im Bereich des Möglichen liegen.

Coprays Begriffe kommen entweder bei Mitgefühl, Rücksichtnahme und Hilfe für Benachteiligte wörtlich oder von der Sache her in den Evangelien vor. Ohne Empathie und Compassion sind auch Nächstenliebe und Barmherzigkeit nicht vorstellbar. Das Gebot der Nächstenliebe hat mit Fairness zu tun. Jesus setzt voraus, dass man sich selbst liebt. Er fordert „nur“, das, was die Eigenliebe sich selbst gönnt, dem Nächsten auch zu gönnen. Auch mit Fairness zu tun hat die Goldene Regel Mt. 7,12 („Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“) – nur mit dem Blickwinkel auf das, was man von seinen Mitmenschen erwartet. Wenn ich selber fair behandelt werden will, werde ich auch meinen Nächsten fair behandeln.

Bei der Fairen Gemeinde, fair gehandelten Waren und Fairtrade werden die mit Fairness verbundenen Vorstellungen auf den Umgang mit Nahrungsmitteln und darüber hinaus mit Pflanzen und Tieren ausgedehnt. In Seoul wurde gefordert, die Regenerierbarkeit und Überlebensfähigkeit der natürlichen Ökosysteme zu erhalten.

Von daher ist auch Fairness als ökologischer Leitbegriff fassbar. Dabei ist zu bedenken, dass hier auch Eigennutz im Spiel ist. Der Schöpfung geht es gut, wenn der Mensch sie Gottes Wirken überlässt. Wir Menschen brauchen die Schöpfung und bebauen und bewahren sie in unserem eigenen Interesse. Am Ende der Bergpredigt sagt Jesus: „Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.“ (Mt. 7,21)

 

Anmerkungen

1 Neuer Klima-Report: Auf 2,7 Grad-Kurs, auf www.tagesschau.de, abgelesen 9.10.24, 10.25 Uhr.

2 Vgl. Wir erklären das Gebäudeenergiegesetz 2023, auf www.wwf.de, abgelesen 30.6.24, 13.05 Uhr.

3 Vgl. Öko-Auflagen gelockert, auf www.tagesspiegel.de, abgelesen 26.5.24, 17.14 Uhr.

4 Es sind die Landeskirchen Bayern, EKBO, Braunschweig, Hannover, Hessen-Nassau, Kurhessen-Waldeck, Nordkirche, Württemberg und die Reformierten sowie die katholischen (Erz-)Diözesen Berlin, Osnabrück, Paderborn und Rottenburg-Stuttgart. Die Nordkirche hat öko-faire Gemeinden.

5 Es sind die Landeskirchen Baden, EKBO, Hessen-Nassau, Kurhessen-Waldeck, Lippe, Rheinland, Württemberg und die Erzdiözesen Freiburg und Köln.

6 www.duden.de/rechtschreibung/fair/, abgelesen 3.7.24, 16.10 Uhr.

7 Das Konzept wird anhand der Broschüre „Faire Gemeinde.solidarisch.ökologisch.global“ dargestellt, www.faire-gemeinde.org/wp-content/uploads/2019/10//Faire-Gemeinde-Broschuere.pdf. Die Broschüre wird herausgegeben von der EKBO, dem Erzbistum Berlin und dem Ökumenischen Rat Berlin-Brandenburg, abgelesen 16.9.2024, 11.14 Uhr. Im Folgenden zitiert mit Broschüre „Faire Gemeinde“. Faire Gemeinde (groß geschrieben) bezeichnet die mit diesem Siegel ausgezeichneten Gemeinden.

8 Das Konzept wird vor dem Hintergrund eines umfassenden Verständnisses von Schöpfungsverantwortung entwickelt und ist auch unter pädagogischen Gesichtspunkten als pars pro toto zu verstehen. Denn es zielt letztlich auf eine umfassende Wahrnehmung der Schöpfungsverantwortung sowohl im Blick auf die Kirchengemeinde als auch auf das Leben der Gemeindeglieder. Denn die Verantwortung für die Schöpfung ist nicht teilbar.

9 Broschüre „Faire Gemeinde“, 3.

10 Ebd., 14.

11 Ebd.

12 Vgl. Broschüre „Faire Gemeinde“, 12.

13 Vgl. zu den persönlichen Angaben www.fairness-stiftung.de/direktion.htm, abgelesen 7.7.24, 18.03 Uhr.

14 Ebd., 98.

15 Norbert Copray, An Widersprüchen wachsen. Publik-Forum. Oberursel 2015, 94. Das Werk wird im Folgenden zitiert mit: Copray, Widersprüche.

16 Ebd., 95.

17 Michael Tomasello, Die Evolution des Menschen. Von den Eidechsen zum Menschen. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder. Berlin 2024.

18 Vgl. zum Folgenden Norbert Copray, Fairness. Der Schlüssel zu Kooperation und Vertrauen. Gütersloh 2010, 32ff. Das Werk wird im Folgenden zitiert mit: Copray, Fairness.

19 Ebd., 34.

20 Rutger Bregman, Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Hamburg 14. Aufl. Oktober 2023. Vgl. besonders 11ff u. 48ff.

21 Copray, Widersprüche, 97f.

22 Vgl. de.wikipedia.org/wiki/spiegelneuron, abgelesen 9.7.24, 14.50 Uhr.

23 Vgl. www.spektrum.de/news/was-steckt-wirklich-hinter-den-spiegelneuronen, abgelesen 9.7.24, 15.07 Uhr.

24 Giacomo Rizzolati/Corrado Sinigaglia, Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt/M. 2008.

25 Vgl. ebd., 14.

26 Ebd., 14f.

27 Vgl. den Artikel auf wikipedia.de.

28 Vgl. www.spektrum.de/news/was-steckt-wirklich-hinter-den-spiegelneuronen, abgelesen 9.7.24, 15.07 Uhr.

29 Vgl. zum Folgenden Copray, Fairness, 12.

30 Ebd.

31  John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 21. Aufl. 2019, 1. Aufl. 1979, 19. Vgl. dort auch zu den folgenden Ausführungen.

32 Vgl. ebd., 28f.

33 Ebd., 336, auch zum Folgenden.

34 Vgl. Copray, Fairness, 34.

35 Vgl. zum Folgenden Weniger Autos, mehr globale Gerechtigkeit, auf www.brot-fuer-die-welt.de: /blog/2021-reloaded-weniger-autosmehr-globale-gerechtigkeit, abgelesen 18.9.2024, 11.05 Uhr.

36 Ebd.

37 Die Texte der Ökumenischen Weltversammlung in Seoul 1990 werden zitiert nach www.ecunet.de, abgelesen 9.10.24, 9.50 Uhr. Die Aussagen zur Schöpfung paraphrasieren die Aussagen von Seoul.

38 Ebd.

39 Ebd.

40 Ebd.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer i.R. Dr. Karl-Heinz Drescher-Pfeiffer, Jahrgang 1950, Studium in Berlin und Tübingen, württ. Gemeindepfarrer, u.a. 17 Jahre im ­Stuttgarter sozialen Brennpunkt Hallschlag, 2000?Promotion am DWI Heidelberg über die gemein­wesenorientierte diakonische Arbeit der ­Steiggemeinde/Hallschlag.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2025

Kommentieren Sie diesen Artikel
Regeln und Hinweise


Pflichtfelder sind mit * markiert. Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.