Was heißt es für unsere Zeit zu glauben? Bisweilen scheint es so zu sein, als müsse der Glaube die widerständige Welt heroisch überwinden, als gehe es im Glauben allein um die engagierte Imitatio Christi. Demgegenüber schlägt Günter Thomas einen anderen Weg vor, christlichen Glauben zu verstehen und im Alltag zu bewähren – einen „postheroischen“ Glauben.*
1. Die Unterscheidung: Heroischer oder postheroischer Glaube
Wie glauben wir – im Weltabenteuer Gottes stehend? Was heißt es, in Gottes Projekt als endliche und erschöpfte Menschen zu glauben? Riskieren wir ehrlich nicht heroisch, sondern postheroisch, eben tastend zu glauben? Heroischer Glaube oder postheroischer Glaube, diese Unterscheidung möchte ich hier vorstellen und nahelegen. Es wird, so denke ich, die Herausforderung der nächsten Jahre sein, als evangelische Kirche wohlgemerkt, postheroisch und tastend zu glauben.
Die begriffliche Entgegensetzung heroisch versus postheroisch stammt von dem Berliner Historiker Herfried Münkler. 2007 hat er in einem vielbeachteten Beitrag heroische und postheroische Gesellschaften unterschieden. „Held und Gesellschaft sind durch die Vorstellung des rettenden und schützenden Opfers miteinander verbunden.“ Die Begriffe von Münkler möchte ich gezielt etwas abwandeln, man könnte auch sagen, modellhaft übertragen oder – schlicht etwas verbiegen, etwas hermeneutisch malträtieren. Denn sie sind als Analyse- und Sortierinstrument fruchtbar.
Was heißt also – idealtypisch unterschieden – heroisch oder postheroisch zu glauben? Das soll die Frage sein. Und: Welchen Unterschied macht dies für die Gestaltung, die Erwartung der Kirche? Welchen Unterschied macht diese Unterscheidung für die Arbeit als Pfarrerinnen und Pfarrer?
2. Was heißt, heroisch zu glauben?
Heroischer Glaube ist von Gewissheit getragen. Heroischer Glaube ist standfest und nicht so leicht irritierbar. Er tritt in drei sich z.T. überschneidenden Untervarianten auf: Es gibt den Kämpfer für die Tradition, es gibt den tiefenentspannten Stoiker und es gibt den Kämpfer im Kampf um die Weltveränderung. Alles echte Heroen.
Der heroische Glaube ist letztlich ungerührt, ist er doch der heimliche Erbe der alten Gottesprädikate – allmächtig und allwissend, unbewegbar, übermenschlich. Wie gesagt, dieser Glaube ist getragen von einer letzten Gewissheit, einer Existenz- und Gottesgewissheit, einer Erlösungs- und Rettungsgewissheit. Der heroisch Glaubende belehrt mit Gewissheit die Welt und gibt großformatige moralische Orientierung. So vertraut ihm die Anklage der Welt ist, die wirkliche Gottesklage ist ihm fremd. Die Hände des Helden sind die Hände Gottes. Der heroisch Glaubende weiß um die Nähe Gottes, weiß um die handhabbaren Bedingungen seines Kommens. Er weiß sozusagen, um welche Ecke das Reich Gottes in Bälde kommt. Heroisch Glaubende sind getragen von einer Beauftragungsgewissheit: „Just do it“ (Nike). Resolutionserfahren und demonstrationskompetent arbeitet sich der heroisch Glaubende durch die Ausschüsse bis in die EKD-Synode.
Heroen leben mit einer vorbildgebenden Entschlossenheit, einer zielgerichteten Eindeutigkeit und plädieren für ein rasches Handeln auf klar definierten Handlungspfaden. Die Unterscheidung zwischen den Helden und dem Rest ist klar. Der Rest schaut auf zum Helden, zum Heroen. Bewunderung oder schlechtes Gewissen, das ist die Wahl für das einfache Volk.
Die heroisch Glaubenden sind die Wächter auf dem Turm, die stets nach zivilgesellschaftlichen Bündnispartnern Ausschau halten. Sie stehen heldenhaft bei Christus in seinem Leiden. Sie wachen mit Christus, stehen bei Gott, der überall dort leidet, wo Humanität beschädigt wird und Menschen ihrer Rechte beraubt werden. Und wenn ihr Glaube mit dem Kelch, dem bitteren, in Berührung kommt, dann nehmen sie ihn dankbar ohne Zittern – ohne die Stimme zum Protest, zur Gottesklage zu erheben. Irgendwie glauben sie fester als die ersten Jünger und der Mann aus Nazareth im Garten Gethsemane.
Heroisch Glaubende haben den Mut, haben die Kraft, haben das Selbstbewusstsein und den Willen, zu leben, als gäbe es keinen Gott: etsi deus non daretur, so die bekannte und vielfach rezipierte Formel des Hugo Grotius. Diese Heroen durchschauen selbst noch die Logik der religiösen Kontingenzbewältigungspraxis und blicken dann dem Schicksal trotzig oder mit stoischer Ruhe mutig ins Auge. Noch die Ergebung ist für sie eine heroische Tat.
So manche heroisch Glaubenden sind bereit, mit Blick auf die Inhalte des Glaubens eher wenig zu glauben, aber den Rest dafür umso fester, umso gewisser. Es sind eben die Helden der moralischen Gewissheit, der Existenzgewissheit und der institutionellen Gewissheit.
Heroisch Glauben, das ist die stete Arbeit an dem menschlichen Projekt, an dem theo-politischen Date, bei dem sich Frieden und Gerechtigkeit küssen. Die Heroen haben sich das Programm der Weltrettung angeeignet. Sie wissen, wie es geht.
3. Postheroischer, tastender Glaube
Der postheroische Glaube ist der tastende Glaube des Apostels Thomas. Tastend Glaubende gönnen sich den Zweifel des Thomas. Sie finden sich im Kreis der Jünger, von denen es in Mt. 28 heißt: „Etliche aber zweifelten.“ (Mt. 28,17). Es ist ein Glaube mehr im Modus der Hoffnung als im Modus der Gewissheit. Ein Glaube, der die Breite der Existenzweisen Lob, Dank, Bitte und Klage tatsächlich ausschöpft. Ein Glaube, der immer wieder überrascht ist, wieviel Unglaubliches Christen glauben.
Wohlgemerkt, postheroischer Glaube ist nicht hyggelig. Nicht dänische Gemütlichkeit. Nicht der tiefenentspannte Glaube des spirituellen Flaneurs. Tastend Glaubende nehmen die tiefe Ambivalenz menschlicher Projekte wahr und verfolgen sie – ohne Flaneure zu werden, ohne Zyniker zu werden. Tastend Glaubende sensibilisiert der Geist Gottes für das vielstimmige Seufzen in dieser Welt. Der Geist Gottes mobilisiert. Selbstverständlich. Aber: Tastend Glaubende haben aufgegeben, Christus zu imitieren. Sie sind keine übermenschlichen Überchristen. Sie bleiben Bettler. Sie schaffen die moralische Leistungsreligion einfach nicht. Sie kennen das 7. Kapitel des Römerbriefes.
Tastender Glaube flieht nicht aus der Welt auf utopisches Territorium und in himmlische Ideale. Er bleibt dieser erdigen, dieser schmutzigen und morastigen, dieser dörren und disteligen Erde treu, dieser verfluchten Erde, dieser in Christus gewürdigten Erde und dieser Erde, der am Ostermorgen das Versprechen der Neuschöpfung gegeben wurde. Und doch: Tastender Glaube weiß, dass wir noch nicht im hellen und die Welt verwandelnden Ostermorgen leben, sondern: die Nacht vorgerückt ist – und der Tag nicht mehr fern (Röm. 13,12).
In den postheroischen Glauben ist die Erkenntnis eingesickert, dass die Welt zu lieben – wohl gemerkt, die Welt, diese wirkliche Welt – Gottes Projekt bleibt. Sein wollen wie Gott, das ist frömmste Hybris – auch wenn die Heroen sein wollen wie Christus und mit ihrem starken Glauben den starken Gott passend mit dem schwachen Gott ersetzen.
Tastender Glaube spricht sehr oft mit fremden und geliehenen Worten, mit unglaublichen Worten im Lied. Im Lied darf der Mund zu voll genommen werden. Nicht selten sind tastend Glaubende Schauspieler, die sich danach sehnen, ihre Rolle noch zu leben – auch dann noch, wenn die Klappe schon gefallen ist. Sie tun so, „als ob“ das alles wahr wäre. Ja, sehr oft glauben sie in diesem Modus des „als ob“. Sie lassen sich ein Versprechen vergegenwärtigen. Sie sehnen sich danach, vom Geist Gottes, vom Evangelium, überraschend ihres Zweifels beraubt zu werden. Wer tastend glaubt, glaubt mit sehnsüchtigem Zweifel – hoffend auf den Moment der Berührung mit dem auferstandenen Gekreuzigten.
Aus der Mischung aus Vertrauen, Zweifel und Neugierde werden die tastend Glaubenden nie entlassen. Der Satz: „Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben“ (Mk. 9,24) bleibt ein vertrauter Satz. Für eine begrenzte Zeit, gelegentlich, schlüpfen sie in die christliche Gegenwelt – und feiern Gottesdienst. Die Kultur der Umgebung mag nach dem Grundsatz leben und denken, es gäbe keinen Gott. Gottesvergessenheit nannte Wolf Krötke dies. Aber die Gemeinschaft der Christen lebt die Sehnsucht und die trotzig-verwegene Hoffnung: etsi deus daretur. Sie hoffen und leben, als gäbe es Gott. Wenn Christen dies nicht tun, wer soll es dann tun? Ist dies nicht der Kern ihrer zeichenhaften und ihrer exemplarischen Existenz?
Der Jünger Thomas wartet auf die Zuwendung Jesu. Er möchte nicht irgendeinen Anderen berühren. Thomas begegnet nicht dem Leben oder einem Elan Vital. Er möchte nicht das Absolute berühren. Er möchte nicht vom Universum geküsst werden. Er möchte nicht mit sich selbst – aufmerksam wohlgemerkt – in Kontakt kommen. Der zweifelnde Thomas begegnet dem auferstandenen Gekreuzigten. Thomas berührt einen anderen, Christus –wenn er ihn denn berührt hat. Das ist das nicht beschriebene, das unbeschreibliche Wunder. Weder Mimesis noch Self-Empowerment hat dem zweifelnden Thomas geholfen, sondern der durch geschlossene Türen – wohlgemerkt – kommende Auferstandene.
Tastend Glaubende lassen sich ein Versprechen gefallen – das Versprechen, dass sie in einem Abenteuer Gottes leben und darin weder als Pfarrpersonen noch als Kirche verloren gehen. Nicht überwältigt werden und auch nicht aus der Sorge Gottes fallen. Das ist kein vager, allgemeiner Providenzglaube. Tastend Glaubende leben darum die Klage als Keimzelle der Hoffnung.
Die tastend Glaubenden leben aus gnädiger Gnade. In einer solchen Welt lebt der tastend Glaubende aus dem Umsonst. Die Gnade Gottes ist nicht billig und definitiv auch nicht teuer. Sie ist ein Umsonst – im doppelten Sinne. Das ist der beglückende Skandal. Das ist Evangelium. Wo heute an jeder digitalen Ecke die Dealer der teuren Gnade herumlungern, lebt die Kirche aus dem doppelten Umsonst – umsonst ist weithin unser Tun, umsonst ist, was wir als Empfangende feiern. Christen leben aus dem „Geschenkt“. Aus dem gefundenen Schatz. Aus der anerkennenden Wahrnehmung der Vergeblichkeitserfahrungen. Aus der Überraschung, dass die Bitte „Dein Reich komme“ nicht ins Leere zielt. Dies erzeugt keine Jakobiner, aber es mobilisiert, wahrhaft nachhaltig.
Tastend zu glauben heißt nicht ängstlich glauben. Einmauern ist nicht der Weg. Die geschlossene Tür, durch die der Auferstandene tritt, wird geöffnet. Mit Skeptikern, mit Ironikern, mit Gelangweilten und sonstigen kulturellen Zaungästen wird der skeptisch Glaubende respektvoll und einladend umgehen – unterscheidet er sich von diesen doch nur graduell. Traditionalismus ist keine Option. Früher war vieles, ja, fast alles schlimmer! Heute gilt es mit den heutelebenden Menschen, mit ihren medialen Vorlieben und Kommunikationsgestalten, mit ihrer populären Kultur, mit ihrenUntiefen und ihren Oberflächlichkeiten zu leben. Die Kraft zum Hass auf die Gegenwart hat der tastend Glaubende nicht. Gleichwohl: Der tastend Glaubende ist auch kein Bilderstürmer. Es ist kein Mensch, der von einem liturgischen Putzfimmel besessen kraftvoll die Tradition entsorgt.
4. Mit tastendem Glauben Kirche gestalten – Aspekte
4.1 Mit dem lebendigen Gott leben
Weil tastend Glaubende keine Helden sind, erwarten sie etwas von Gott. Sie ringen mal stiller, mal lauter, mal schweigend, mal wütend, mit dem lebendigen Gott. Weil Gott nicht so allgegenwärtig wie die Schwerkraft ist, weil Gott nicht irgendwie dunkel und unbestimmt alles bestimmt, rechnen sie mit der Abwesenheit Gottes und beklagen diese. Sie bangen um das nicht abgewandte, sondern zugewandte Angesicht Gottes. Postheroisch Glaubende können nicht davon lassen, darauf zu setzen, dass Gott im Gebet affiziert wird – dass Gebet mehr ist als die sprachliche Kombination aus einem selbstermutigenden Blick in den Spiegel und einem sorgenvollen Blick auf die Welt.
Theologien, so meine These, die faktisch die Klage zum Irrtum erklären, müssen Fehler in ihrem Gottesdenken enthalten. Sicherlich: Wahrhafte Heroen klagen nicht. Und heroisch-stolze Kirchen schon gar nicht. Die tastend Glaubenden wollen es einfach nicht einsehen, von Gottes Versprechen zu lassen. Deshalb leiden sie unter Gottes Geduld mit dieser Welt. Deshalb lassen sie sich nicht mit einer ewigen Gegenwart des Heiligen abspeisen. Sie hoffen auf ein verwandelndes Kommen Gottes in diese wirkliche Welt. Sie lassen sich einfach nicht die Hoffnung nehmen, dass Gott nicht nur auf unsere Hände angewiesen ist – weil sie Gott nicht aus der Verantwortung lassen wollen. Thomas konfrontiert Jesus – die Hände des Gekreuzigten. Tastend Glaubende halten die Idee, dass Gott keine anderen Hände habe als unsere, für eine Mischung aus theologischer Verzweiflung und spirituellem Größenwahn.
4.2 Das Leben erhellen
Tastender Glaube lebt in den Stories der Gottesgeschichte. Und die Stories sind komplex, raffiniert und faszinierend tief. Faktisch erleben wir gegenwärtig weltweit einen Wettbewerb in der Frage: Wer kann das Leben mit welchen Geschichten besser entschlüsseln? Wir sollen, dürfen und wir brauchen uns nicht verstecken. Die Geschichten, durch die sich Gott selbst in seinem Geist vergegenwärtigen möchte, sind Geschichten über das Leben – das individuelle und das gemeinschaftliche. Die Dichte dieser Erzählungen muss in der gegenwärtigen Kommunikation nicht verschämt geleugnet werden.
Tastender Glaube lässt sich auf den Facettenreichtum der Geschichten des kanonischen Gesprächs ein. Darum riskiert ein tastender Glaube einen tiefen, abgründigen und am Ende hoffnungsvollen Realismus beim Blick auf den Menschen, seine Welten und seine Möglichkeiten. Welche Stories prägen im Kampf der Narrationen unser Menschenbild? Welche Stories lassen wir wie eine Brille sein beim Blick auf die Welt? In Kirche und Theologie sollten wir nicht dramatisch schlechter erzählen und analysieren, nicht weniger tief erfassen als unsere Erzählmaschinen.
Wie tief lassen die christlichen Geschichten blicken – angesichts der Nachtseiten des Lebens, angesichts von beglückendem Staunen und so manchen den Alltag überschreitenden Wundern? Die Kultur der Gegenwart, die Bildungsprozesse der Gegenwart und die Menschen in ihren Umgebungen verdienen eine theologische Aufklärung, theologische Analyse und Erhellung durch die Menschengeschichten in der Gottesgeschichte. Dies weckt Interesse an der Gottesgeschichte in den Menschengeschichten. Tastend Glaubende sind berufen, selbstkritisch und fragend, aber auch mit Chuzpe einen Beitrag zum tieferen, reicheren, realistischeren und dynamischeren Verständnis des Lebens zu leisten.
4.3 Alltagschristen sehen, würdigen und ermächtigen
Tastend Glaubende haben einen anderen Blick auf den Alltag. Sie entdecken sich neu als Protestanten. Tastender Glaube lässt verstärkt diejenigen sehen, aus denen nach protestantischem Verständnis im Kern die Kirche besteht: Alltagschristen. Die, die zumeist die Welt nicht reparieren oder retten, sondern aufbauen und am Laufen halten. Wasserwerker und Verwaltungsfachkräfte, Lageristen und Wertpapierhändler. Das sind die, die in mehr als 50 Grautönen der Moral leben müssen. Das sind die, denen in der 4. Woche des Monats das Geld ausgeht. Alltagschristen sind die, die nicht immer und überall verschwenderisch lieben können – aber aufrecht um Humanität und Fairness ringen. Es sind die, die Gewissenskonflikte durchstehen müssen und meist ohne Ladestation leben. Alltagschristen leben nicht auf idealem Territorium, sondern in einer unerlösten Welt, in der sich die Energiepreise mehr als verdoppeln werden und jeder versucht, seine eigenen Interessen pflegend, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. Und am Wochenende sind sie erschöpft.
Aber, ja, aber: Überall auf dieser Welt, wo die Alltagschristen in ihren Alltäglichkeiten wahrhaft gesehen werden, ist der Protestantismus vital. Das ist die Alternative zur schleichenden Rekatholisierung des Protestantismus mit ihrer Wiedereinführung eines reineren, moralisch perfekteren zweiten Standes der Aktivisten und der moralisch Wachen. Diese Alltagschristen sind hin und wieder anstrengend, borniert, drängelig, mitunter dickköpfig und einfach – und nicht zuletzt sind sie keine Heiligen im klassischen Sinne.
Welchen Ort hat das Evangelium, das Wort Gottes im Leben der Alltagschristen? Wie werden sie mit dem Geist Gottes getröstet und mobilisiert – aufgebaut, ohne überfordert und vereinnahmt zu werden? Diese Menschen, nicht die Sonderdienste und Fachreferate sind die Zukunft der Kirche als einer – soziologisch betrachtet – spirituellen Freiwilligenorganisation. Sie sind – theologisch betrachtet – das Volk Gottes. Diese Menschen sind nicht moralisch zu stressen. Aber sie sind zu ermächtigen. Sie sind an ihr Priestersein zu erinnern. Ihr fragiler, oft mit Magie angereicherter Glaube ist zu bilden und zu fördern. Sie leben tastenden Glauben oft schweigend, aber doch als Fragment der Hoffnung.
Wann haben Sie den letzten Gottesdienst für Pflegekräfte und Ärzte gefeiert, wann für die Ordnungskräfte Ihrer Stadt? Warum als Kirchengemeinde nicht die städtische Verwaltung zu einem Dankgottesdienst und Gartenfest einladen, alle samt Bürgermeister und Gemeinderat? Deren Hände kleben sich nicht irgendwo hin. An den Händen von Verwaltungsangestellten kleben viel zu viel Wohngeldanträge und Steuerbescheide. Wann haben Sie als Kirchenleitung den letzten Workshop für Steuerberater und Steuerfachgehilfen angeboten? Wann ging Ihr letztes Dankesschreiben an die evangelischen Elektriker und Lehrer raus?
Nüchtern religionssoziologisch formuliert: Dies sind die Menschen, die real Glaube unter den Bedingungen von sozialer Differenzierung und kultureller Pluralisierung leben – und nicht nur als Theorieproblem bewegen und genießen. Wagen wir zu sagen, dass die Alltagschristen Orte der Gottesgegenwart sein können, dass sie die millionenfachen Montagmorgenakteure einer wahrhaft öffentlichen Theologie sind? Sagen wir, dass sie die Monteure und Bäckerinnen der Gleichnisse des Reiches Gottes sind? Barmherzigkeit gegenüber den Dieselfahrern und den alleinerziehenden Müttern, Barmherzigkeit gegenüber denen, die schon vom Alltag überwältigt sind – das ist die Herausforderung. Diese Menschen zu sehen ist die Aufgabe der Kirche in einer Gesellschaft der Erschöpften.
4.4 Inmitten der wirklichen Welt glauben und handeln
Was heißt nun tastend glauben im Zusammenhang vom Friedensauftrag der Kirchen, von Flüchtlingsströmen und Klimawandel? Sicher ist: Tastend Glaubende sind nicht mutlos, sondern praktizieren Chuzpe.
„Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nicht mehr fern“ (Röm. 13,12). Bricht hier und heute schon der Morgenglanz der Neuen Welt Gottes ein? Sicherlich ist richtig: Die Christen leben nicht in der Abenddämmerung der Welt, sondern in der Morgendämmerung der neuen Welt Gottes. Ja! Nur: Welche Uhrzeit haben wir, hier und heute? Ist es noch 4 Uhr, ist es schon 8 Uhr? Geht die Dämmerung schon in den Sonnenaufgang der globalen Gerechtigkeit und Solidarität über? Ist es noch so dunkel, dass man die Dunkelmänner gar nicht zählen kann? Sind immer noch alle Katzen grau?
Das sind die großen Fragen! Wie viele Gleichnisse des morgendlichen Lichtes der Auferstehung lassen sich hier und heute bauen? Hier scheiden sich innerhalb wie außerhalb der Kirchen die Geister. Was ist möglich an Liebe, an Vertrauen, an Verzicht und Selbstzurücknahme, an Ehrlichkeit und Orientierung an den Bedürfnissen anderer? Was ist noch gegenwärtig an Interessenskämpfen, an Selbsterhaltungswillen, an Gewaltbereitschaft, Wille zu Täuschung, an manifester Dummheit – solange wir beten: „Und erlöse uns von dem Bösen!“
Postheroisch Glaubende sind auch tastend Hoffende. Sie schütteln den Kopf angesichts der Auferstehung des linken Flügels der Reformation. Sie bitten noch um die Erlösung von dem Bösen. Sie wissen, was „Maranatha“ heißt. Als vom Geist Gottes Bewegte riskieren sie auch die Kommunikation von Hoffnung. Der Gekreuzigte ist auch der Auferstandene. Aber der Auferstandene bleibt auch der Gekreuzigte. Tastend Glaubende bleiben daher in Sachen Gleichnisse des Reiches Gottes Bettler, Bastler. Improvisierende. Sich um Gerechtigkeit und Humanität Sorgende. Sie praktizieren Gastfreundschaft und schließen ihre Haustüren nachts doch ab. Manchmal, aber sicherlich nicht 24 Stunden an 7 Tagen, praktizieren sie verschwenderisch verlustbereite Liebe. Sie leben schon länger in der Welt, in der unsere Außenministerin am Morgen des 24. Februar das erste Mal aufgewacht ist. Sie sind darum keine verzweifelten, von Dringlichkeit getriebenen Optimisten. Aber auch keine Zyniker.
Doch die Frage steht im Raum: Ist diese Performanz von Eindeutigkeit, Entschlossenheit und Eile das, was die Christen im öffentlichen Diskurs verstärken sollen? Wie gesagt, eine Distanzierung von der Politik und eine ästhetische Existenz als moralischer Flaneur ist nicht die Alternative. Tastend Glaubende erinnern an moralskeptische biblische Traditionen, die voller Einsichten sind in Logiken des Handelns, die auch heute noch handlungstheoretisch hoch aktuell sind. Es gilt immer noch, dass alle Menschen lügen (Ps. 116,1). Nicht die moralisch Edlen, sondern die Gebrochenen und Lumpen sind die Heiligen.
Die sogenannte Krise der Weisheit erinnert an eine bittere Erkenntnis: Zwischen Motivationen, gutgemeinten Absichten und Handlungszielen auf der einen Seite und den Resultaten von Planen und Handeln auf der anderen Seite, klafft zu oft eine große Lücke. Sozialismuserfahrene können ein Lied davon singen. Tun und Ergehen, Handlung und Handlungserfolg stehen zu oft in einem Missverhältnis. Nicht nur die Krise der Weisheit, nein, auch die jesuanische Rede vom Balken im Auge (Mt. 7,3-5) und die paulinische Reflexion auf den tödlichen Charakter vermeintlich lebensförderlicher Gesetze (Röm. 7) sind tröstende und heilvolle Erinnerungen für tastend Glaubende. Sie wissen als Beter des Vaterunsers um die Grenzen ihrer Handlungen in einer noch unerlösten Welt. Wer nach säkularen Alternativen sucht: Es gibt eine Fülle soziologischer und politikwissenschaftlicher Literatur zu nicht-beabsichtigten Handlungsfolgen.
Vor dem Hintergrund dieser Traditionen sind Christen, und protestantische Christen allzumal, Ambivalenzspezialisten, Grautonkenner, geduldige Fachleute für Ziel- und Abwägungskonflikte. Als Experten für moralische Abrüstung erlauben sich Protestanten, solche Abwägungs- und Zielkonflikte anzuerkennen, ohne sie mit moralischer Wucht beiseite zu schieben. Postheroisch glaubende Christen sind Pathosauflösungsprofis zugunsten eines langen Atems realistischer Hoffnung. Die Wahrnehmung komplexer Realitäten befördern oder eher die Wucht moralischer Eindeutigkeiten verstärken? Diese Alternative unterscheidet die postheroischen und die heroischen Christen.
5. Kirche als Herberge
Die Kirche der tastend Glaubenden ist eine Herberge, eine Oase für Erschöpfte. Sie ist kein moralisches Fitnessstudio mit aktivistischen Trainern für Menschen mit dem falschen WRI (Weltrettungsindex). Postheroisch Glaubende wissen, dass das Kirchenmodell „Moralisches Fitnessstudio“ mit großer Regelmäßigkeit in Peinlichkeiten endet, scheitert. Die Kirche der tastend Glaubenden wartet nicht darauf, von der Politik den Ritterschlag zur NGO, zur „Near Government Organization“, zu erhalten. Sie ist eine Herberge, eine Gegenwelt für Erschöpfte. Wer selbst tastend glaubt, weiß um das Bedürfnis nach Erquickung. Tastend Glaubende warten darauf, dass Gottes Geist einschenkt, einen Tisch bereitet im Angesicht der Gleichgültigen und der Fanatiker, der echten, halben und nur scheinbaren Atheisten, im Angesicht der Spötter und Gottesvergessenen und nicht zuletzt derer, die sich die Erquickung nicht gönnen können und wollen und miesepetrig auf den bereiteten Tisch schauen. Die Herberge Kirche ist ein Ort, an dem Gott auf unsere Antworten wartet. Es ist ein Ort, an dem er mit Unerhofftem und Ungebetenem überrascht. Die Herberge ist ein Ort des Außeralltäglichen, zu dem Menschen kommen und von dem Menschen ausgehen – gestärkt, ermutigt, getröstet vom Geist Gottes, vom religiösen Opium angefixt und mit einem etwas verrückten Blick auf ihren Alltag.
6. Eine kurze Schlussbemerkung
Vergessen Sie die optimistischen Durchhalteparolen. Immer kleiner ist immer besser? Nein. Worauf es heute ankommt ist für tastend Glaubende aber auch nicht einfach Resilienz, auch nicht die Ataraxia, das Ideal der Seelenruhe und Affektlosigkeit der Griechen. Worauf es wirklich ankommt, ist das Ausharren, die Standfestigkeit und die Ausdauer. Die ὑπομονή ist heute und in den nächsten Jahren gefragt. Mehr als einmal verknüpft der Apostel Paulus das so ganz und gar nicht passive, sondern kreative und innovative Ausharren in schwierigen Umgebungen mit der christlichen Hoffnung (Röm. 5,4; 8,25). Johannes verleimt geradezu den Glauben und das Bleiben. Die postheroisch Glaubenden nehmen Teil an der Geduld Jesu Christi. So der Hebräerbrief (Hebr. 10,23). Geduld ist keine Eigenschaft der Helden, sondern der Tastenden. Die Geduld der Hoffnung (1. Thess. 1,3) mobilisiert, bewegt die postheroisch Glaubenden.
Die reformierte Tradition hatte erkannt, dass das Ausharren, die Standfestigkeit, die Perseveranz letztlich Gottes Werk ist. Wir brauchen ein neues Ausbuchstabieren, einen Umbau dieser reformierten Lehre, bezogen auf die gegenwärtige Kirche. In die „Geduld der Hoffnung“ sind wir verrückt. Um die göttliche Gabe der Geduld der Hoffnung bitten wir als Kirche – tastend vorsichtig, aufmerksam und mit Chuzpe, als Skeptiker, als Zweifelnde, die sich danach sehnen, vom Geist Jesu Christi ihres Zweifels beraubt zu werden, singend und musizierend, Worte leihend. Als Kirche heute, hinter der verriegelten Tür, sehnen wir uns danach, dass der Auferstandene in unsere Mitte tritt und sagt: Friede sei mit euch!
Anmerkung
* Dies ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, der im Herbst 2022 auf dem zentralen Pfarrertag der sächsischen Landeskirche gehalten wurde. Der Stil des Vortrags wurde bewusst beibehalten.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2025