Im April 2019 wurde Notre-Dame de Paris durch einen Brand schwer beschädigt. Nach den Bauarbeiten ist am 8. Dezember 2024 die Wiedereröffnung zelebriert worden – Thomas Schleiff über die Geschichte eines denkwürdigen Kirchenbaus.

 

 

Maria und Venus

Kirchen spiegeln die Geschichte wider. Am Beispiel von Notre-Dame de Paris kann man wichtige Teile der französischen Geschichte erzählen. An der Stelle der jetzigen gotischen Kathedrale stand auch schon eine „Notre-Dame“. Auch dieser Vorgängerbau hatte schon einiges erlebt. Er musste Mitte des 9. Jh. die Plünderungen durch die Wikinger über sich ergehen lassen. Dabei wurde er 856 teilweise zerstört und musste auch damals wieder aufgebaut werden. Der Name „Notre-Dame“ blieb. Die Kirche war Maria gewidmet, von der man den Schutz vor Piraten erhoffte. Es gab schon damals freilich auch eine andere „Dame“, die in Paris einen gewissen Einfluss hatte. Der zeitgenössische Mönch Abbo tadelt, dass die Pariser die Venus sehr verehren.

Die Wikinger (auch genannt Normannen, daher die Normandie) ließen sich dann an der Seine-Mündung nieder, wurden gute Christen, und die Enkelkinder der damaligen Piraten haben an der gotischen Kathedrale mitgebaut.

 

Peter der Vielfraß

Der Grundstein der jetzigen Kathedrale wurde 1163 gelegt. Die Franzosen waren den Deutschen in der Gotik voraus. Die Grundsteinlegung in Köln erfolgte erst 1248. 1163 hieß der Bischof von Paris Maurice des Sully. Bei seiner Wahl 1160 war sein Gegenkandidat „Peter der Vielfraß“. War das etwa ein 250-Pfund-­Koloss? Mitnichten. Der Spitzname bezieht sich darauf, dass Peter in großen Mengen scholastische Texte verschlang. Wir sind also in der Zeit der „Scholastik“, der Zeit der philosophisch-theologischen Argumentation. Vom Fundament bis zur Spitze war alles durchdacht. Und alle Achtung: So wie die christliche Welt noch heute von den gotischen Kathedralen lebt, so lebt sie auch heute noch von der Methode der scholastischen Argumentation. Die Lebenszeit von Thomas von Aquin war 1225 bis 1274.

 

Ein Dank an die Ochsen

Vom Steinbruch wurden die Steine auf Ochsenkarren oder Schleppkähnen zum Bauplatz gefahren. Ein Ochsenkarren konnte etwa eine Tonne transportieren. Tausende von Tonnen wurden benötigt. Kein Wunder, dass die Bildhauer der Kathedrale von Laon an den Ecken der Türme Statuen von Ochsen anbrachten, die wohl den Dank für diese geduldigen Tiere zum Ausdruck bringen sollten. Eine schöne Alternative zum „Goldenen Stierbild“ der altorientalischen Kulte. Sozusagen der Goldene Stier „auf demütig“. An dieser Rinderverehrung hätte Mose nichts aussetzen können.

Manchmal zogen auch Menschen die Karren, wie man von dem „Kult der Karren“ weiß, der an manchen Orten im Mittelalter geübt wurde. Dieser Kult wird zuerst im Jahre 1144 in Chartres erwähnt, als Adlige und einfaches Volk sich selbst vor die Steinkarren spannten und sie zum Bauplatz der Kathedrale zogen. Immer wenn sie anhielten, um sich auszuruhen, beklagten sie ihre Sünden, und als sie in Chartres ankamen, warfen sie sich zu Boden und baten die Priester, sie zu geißeln.

Zwischen 1050 und 1350 wurden in Frankreich 80 Kathedralen und 500 große Kirchen gebaut, dazu zahllose kleine Kirchen.

 

Auspeitschung in Notre-Dame

1325 war Notre-Dame zwar bei weitem noch nicht „fertig“, aber es gab schon ein sehr spektakuläres Ereignis in der Kathedrale: Der Graf von Toulouse wurde in der Kirche ausgepeitscht. Und das kam so: In Südfrankreich, um Toulouse herum, gab es die große „Ketzer“-Bewegung der Katharer (resp. Albigenser). Die Grafen von Toulouse waren zwar selbst keine „Katharer“, aber sie wurden doch in den Konflikt hineingezogen und verteidigten die Katharer. Vor allem wollten die Grafen die Unabhängigkeit ihrer Grafschaft bewahren. Graf Raimund VII. wurde exkommuniziert. Er unterlag dann im Kampf gegen den französischen König. Um seine Grafschaft zu behalten, musste er seine Unabhängigkeit aufgeben und sich deutlich gegen die Katharer stellen. Das war mit einem Bußakt verbunden. Der Graf musste sich bis auf Hemd und Kniehose entkleiden und wurde vom Kardinallegaten des Papstes ausgepeitscht.

 

177.300 Livres für die Dornenkrone

Ludwig IX. (1214-1270) ist der einzige französische König, der heiliggesprochen wurde. Ludwig erfuhr, dass der Kaiser von Konstantinopel die Dornenkrone verkaufen wollte, die kostbarste Reliquie, die in seinem Besitz war. Im Jahre 1239 erwarb Ludwig diese Reliquie. Einen Teil des Kaufpreises brachte er durch eine Sondersteuer auf, die er den Juden auferlegte. In silberne und goldene Kästchen eingehüllt wurde die Dornenkrone nach Paris gebracht. Ludwig und sein Bruder, barfuß und mit einer Tunika bekleidet, trugen die Dornenkrone in die Kathedrale von Notre-Dame. Lächerlich, ­albern? Wir sollten doch daran denken, dass wir ohne den Geist dieser hingebungsvollen Frömmigkeit die goti­schen Kathedralen nicht hätten – und wohl ­„Europa“ nicht hätten. Und was ist lächerlicher: dass die Dornenkrone für ca. 200.000 Livres nach Paris Notre-Dame kommt oder dass der Fußballstar Neymar für 200 Mio. Euro nach Paris Saint-Germain kommt?

Es kamen noch andere Reliquien, und 1241-1248 wurde für diese Reliquien die bezaubernde Kapelle Saint-Chapelle in der Nähe von Notre-Dame gebaut.

 

Paris ist eine Messe wert

Im August 1572 fand in Notre-Dame eine denkwürdige Vermählung statt. Der Hugenotte Heinrich von Bourbon, König von Navarra, heiratete die katholische Prinzessin Margarete von Valois. Diese Ehe sollte die Hugenotten und die Katholiken miteinander versöhnen. Aber die Scharfmacher (diesmal auf katholischer Seite) spannen ihre Intrigen und das Ergebnis war die Entsetzlichkeit der Bartholomäusnacht am 24. August 1572. Über 1000 Hugenotten, die zur Hochzeit gekommen waren, wurden ermordet.

Dann wollte es der Zufall der Geschichte, dass ausgerechnet der hugenottische Bräutigam dieser Hochzeit, Heinrich von Navarra, rechtmäßiger Erbe des französischen Thrones war, als die männliche Linie der „Valois“ (mit Heinrich III.) ausgestorben war. Das Geschlecht ­Valois war ausgestorben; die Bourbonen waren „dran“.

Aber wie soll das funktionieren – ein Hugenotte auf dem Thron des mehrheitlich katholischen Frankreich? Heinrich wusste, dass er seine Thronansprüche nicht friedlich würde durchsetzen können, wenn er nicht zum Katholizismus konvertierte. Insbesondere Paris würde keinen hugenottischen König in seinen Mauern dulden. Heinrich handelte klug und weise, indem er katholisch wurde. Das steht hinter dem berühmten Satz, den er gesagt haben soll: „Paris ist eine Messe wert“, der ja bedeutet: Paris ist es wert, dass ich katholisch werde – und damit dem Land den Frieden erhalte. Diese Messe, in der Heinrich seinen Übertritt vollzog, fand 1594 in Notre-Dame statt. – Dieser Heinrich war es dann auch, der 1598 das Edikt von Nantes erließ, in dem er seinen ehemaligen Glaubensbrüdern, den Hugenotten, Religionsfreiheit gewährte.

 

Massenhochzeit

Der „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. war zwar vor allem mit Versailles beschäftigt. Aber sein architektonischer Geschmack hinterließ auch in Notre-Dame seine Spuren. Es war das Zeitalter des Barock und des Rokoko. In diesem Stile wurde der neue Altar errichtet, der noch heute in Notre-Dame steht. Die Barockisierung gotischer Kirchen war im 17. und 18. Jh. in Mode. Dem fielen in Notre-Dame auch große Farbfenster aus dem 13. Jh. zum Opfer. Sie wurden durch fast ganz durchsichtige Fenster ersetzt: mehr Licht! Im Sinne des Sonnenkönigs soll die Sonne in der Kirche scheinen.

Der unglückliche Ludwig XVI. war der Ururenkel von Ludwig XIV. Frankreich steuerte auf die blutige Revolution zu, das Land war durch den Gegensatz von Arm und Reich zerrissen.

Am 9. Februar 1779 war Notre-Dame Schauplatz einer Massenhochzeit, die die Beliebtheit des Königs und der Königin steigern sollte. Um die Geburt einer Tochter zu feiern, übernahm das königliche Paar die Kosten für die Hochzeit von 100 jungen Paaren aus dem Volk. Dazu gab es eine Aussteuer und jeweils 500 Livres.

 

Das Christentum wird abgeschafft

Aber der König konnte die Revolution nicht aufhalten. 1793 wurde Ludwig XVI. enthauptet. Aus Hass gegen alles Monarchische wurde auch die „Galerie der Könige“ (die wohl atl. Könige darstellt) von der Westfassade von Notre-Dame heruntergerissen. Die Köpfe wurden abgeschlagen und landeten in einem Pariser Kohlenkeller. Nach 50 Jahren wurden die zerschlagenen Skulpturen zufällig wiedergefunden. In der Kirche wurden indes alle Spuren des Monarchischen entfernt. Auch die Darstellung der Heiligen Drei Könige wurde zerstört, denn sie galten ja als Könige aus dem Orient.

1794 wurden alle christlichen Feiern in Notre-Dame verboten. Notre-Dame wurde in einen „Tempel der Vernunft“ umgewandelt. Das geschah auch mit 2000 anderen Kirchen in Frankreich. Das Christentum wurde offiziell abgeschafft.

Die Umwandlung der christlichen Kirche in einen Tempel der Vernunft wurde in Notre-Dame mit einer Oper gefeiert. Im Anschluss daran sang man die brandneue Marseillaise. Aber interessanterweise hielt sich diese quasi atheistische Lösung der religiösen Frage nur äußerst kurze Zeit. Auf Veranlassung des Jakobiners Robespierre wurde der Tempel der rein humanistischen Vernunft wieder theistisch umbenannt: Er wurde zum „Tempel des höchsten Wesens“. Hier spiegeln sich die verschiedenen religionsphilosophischen Positionen der Aufklärung wider. Die Aufklärung war ja durchweg antiklerikal und hielt nicht viel vom 2. Artikel des Glaubensbekenntnisses. Aber sie hielt durchweg am Schöpfergott und an der Unsterblichkeit der Seele fest. So übrigens auch Immanuel Kant und auch Robespierre (der friedliche Preuße Kant hat leidenschaftlich mit der französischen Revolution sympathisiert).

Ab 1795 herrschte in Frankreich wieder Religionsfreiheit und in Notre-Dame konnten auch die katholischen Christen (zunächst neben anderen religiösen Gruppen) wieder Gottesdienste halten. 1802 wurde das Konkordat zwischen dem Vatikan und dem französischen Staat (Napoleon) feierlich geschlossen.

 

Drei Tonnen TNT

Im 19. Jh. wurde das geschichtliche Erbe wieder höher geschätzt. Auch die Gotik kam wieder zu Ehren, wie man z.B. an der Fertigstellung des Kölner Domes im 19. Jh. sieht. Notre-Dame wurde in 20jähriger Arbeit unter dem Architekten Eugene Emmanuel Viollet-le-Duc restauriert.

1909 schlugen die französischen Herzen in Notre-Dame höher: die Feier zur Seligsprechung von Jeanne d’Arc fand hier statt.

1944 war Paris in großer Gefahr. Vor dem Rückzug sollten die Deutschen auf Befehl Hitlers in Paris gewaltige Sprengungen vornehmen. Alle Brücken sollten gesprengt werden. Auch der Eiffelturm, der Invalidendom und das Parlamentsgebäude waren im Visier. Und in der Krypta von Notre-Dame waren drei Tonnen des Sprengstoffes TNT abgestellt. Diese Absichten kamen nicht zur Durchführung. Dazu hat möglicherweise auch ein mutiges Verhalten des deutschen Stadtkommandanten Dietrich von Choltitz beigetragen. Stattdessen konnte am 26. August 1944 in der Kathedrale ein „Te Deum“ als Dank für die Befreiung von Paris gefeiert werden. General de Gaulle führte mit seinen Truppen eine Siegesparade an, die vom Arc des Triomphe zu Notre-Dame führte. Als de Gaulle 1970 starb, fand das Requiem für ihn in Notre-Dame statt. Auf dem großzügigen Vorplatz konnten 70.000 Menschen daran teilnehmen.

Da steht sie nun, die Kathedrale, und hat so unendlich viel gesehen: die Auspeitschung eines Grafen, die feierliche Prozession mit dem Einzug der Dornenkrone, die Hochzeit eines Hugenotten mit einer Katholikin, die dann zur Bartholomäusnacht führte, die Abschaffung des Christentums und eine Oper im Geiste der Revolution, die Rückkehr des Christentums und die Versöhnung Napoleons mit dem Vatikan, die Barockisierung und die große Restauration im Geiste der Gotik, unendlich viel Weihrauch in den Kirchenschiffen und einmal sogar drei Tonnen TNT in der Krypta. Dazu fällt mir der Satz ein, mit dem Thomas Mann seinen Josef-Roman beginnt: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit – sollte man ihn unergründlich nennen?“

 

Literatur

Richard und Clara Winston: Notre-Dame, Originalausgabe 1971, 1976 deutsche Übersetzung

 

 Thomas Schleiff

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2024

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