Der seit dem Überfall der Hamas erstarkte Nahostkonflikt hat nicht nur die Hoffnung auf ein friedliches Nebeneinander von Juden und Palästinensern zerstört, er hat auch antisemitische Ressentiments wieder aufleben lassen. Annette Rodenberg, Pfarrerin in Oberfranken, sucht in dieser herausfordernden Situation nach Orientierung und findet sie in der Erinnerung an ihren ganz eigenen Werdegang im Horizont deutsch-jüdischer Begegnungserfahungen.
Irgendwann Ende 2023, jedenfalls nach dem 7.Oktober 2023, ist mir ein hebräisches Wort wieder eingefallen: „rega‘“ (gesprochen wie „räga“). Es bedeutet „Moment“, häufig mit Ausrufungszeichen versehen. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf, die Debatte darüber ist längst im Gang. Ich renne hinterher und zupfe am Ärmel: „Moment mal! Darf ich auch noch etwas sagen?“
Was ich anzubieten habe, sind Momentaufnahmen, die mir in Erinnerung geblieben sind – weil ich da etwas verstanden habe.
1986 Ein Cafeteria-Gespräch in Jerusalem
Zwischen Theologiestudium und Vikariat besuche ich das Sommer-Ulpan-Programm an der Hebräischen Universität Jerusalem, um Neuhebräisch zu lernen. Ich bin v.a. mit jüdischen Amerikaner*innen, die sich auf ein Studienjahr im Land vorbereiten, in einer Unterrichtsgruppe. Es gibt ein Begleitprogramm zum Kennenlernen der israelischen Gesellschaft. In einem Vortrag von Ezer Weizman über die Aussichten für Frieden kommt klar zum Ausdruck: Die israelische Regierung – egal welcher Parteizugehörigkeit – muss auch für die jüdische Diaspora mitdenken; das Recht auf Einwanderung wird jedem jüdischen Menschen garantiert.
Ich frage kurz danach einen dieser jungen jüdischen Amerikaner aus meinem Kurs: „Willst du, dass für dich ein Platz freigehalten wird?“ Er schaut nachdenklich, als ob er es noch nicht eindeutig sagen kann. Dann sagt er: „Der Antisemitismus nimmt auch in den USA zu. Also …“
Weitere Begegnungen beim Israel-Aufenthalt 1986
Im Rahmen des Begleitprogramms verbringe ich ein Wochenende in einem Moschav. Dort komme ich vor der sephardisch geprägten Synagoge mit einer vielleicht 50jährigen Frau ins Gespräch. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie mir erklärt: „Ich komme aus dem Iran. Ich wollte hier mit allen in Frieden leben. Aber seit Sadat ermordet wurde, weil er mit Israel Frieden geschlossen hat, kann ich nicht mehr an den Frieden glauben. Man weiß nicht, wem man trauen kann.“
Eine Frau in meinem Alter, aus einer irakisch-jüdischen Familie stammend, sieht mich, wie ich nach der richtigen Bushaltestelle suche, um vor dem Schabbat in einen Vorort mit einem christlichen Gästehaus zu fahren. Sie gibt den nötigen Hinweis, und ehe ich „rega‘“ rufend zum schon einfahrenden Bus eile, gibt sie mir Kontaktdaten, für einen anderen Schabbat, an dem ich ihr Gast sein solle. Wie sie mir dann erklärt, habe sie den Eindruck gehabt, ich sei vielleicht einsam.
Eine ehemalige ASF1-Freiwillige vermittelt mir einen persönlichen Kontakt in Yad Vashem, mit einem Historiker, Herkunftsland Österreich. Ich will lernen, welche Lehren aus dem Holocaust zu ziehen sind. Eine meine vorüberlegten Fragen: „Wenn ein Boykott gegen das Apartheid-Regime in Südafrika auch dort lebende Juden trifft und Erinnerungen an NS-Boykott weckt – müsste ich dagegen sein?“ Die Antwort: „Die Politik von Deutschland gegenüber Südafrika ist die Politik von Deutschland gegenüber Südafrika, auch wenn sie Auswirkungen auf dort lebende Juden hat. Von diesen sind viele solidarisch mit Schwarzen im Kampf gegen Apartheid.“ – Worauf ließe sich diese Leitlinie heute anwenden? Auf die deutsche Politik gegenüber arabischen Geflüchteten … und/oder gegenüber einem noch nicht existierenden Staat: Palästina?
1987f: Erste Praxiserfahrungen betreffs christlicher Antijudaismus
Im Sommer 1987 treffe ich den Gesprächspartner aus Yad Vashem wieder, als er mit einem Forschungs- und/oder Lehrauftrag in Heidelberg weilt. Ich zeige ihm meine Nacherzählung eines Textes aus der Passionsgeschichte der Evangelien, verfasst für den Kindergottesdienst in meiner Vikariatsgemeinde. Er ist schockiert, weil sie christlichen Antijudaismus reproduziert: „Wie konntest du?“ Trotz Studien- und Examensschwerpunkt, trotz Israel-Aufenthalt habe ich beim Weg in die Praxis versagt. – Hier lag meine Verantwortung. Die erbetene und erhaltene Rückmeldung gab mir sozusagen einen Schubs, an mir zu arbeiten.
Der Gesprächskreis der Gemeinde lädt mich ein. Ich darf das Thema selbst wählen. „Dem Antisemitismus den Boden entziehen“, so benenne ich meinen Beitrag für den 27.10.1988. Der etwas ältere Kollege (Pfarrer z.A.2) sagt spontan: „Dann wird’s bodenloser Antisemitismus“. Und tatsächlich: Die netten und bildungsbeflissenen Mitglieder des Gesprächskreises wollen anscheinend überhaupt keine Verantwortung für den christlichen Nährboden des Antisemitismus übernehmen, nicht zusammen mit mir lernen, anders mit gewissen Bibelstellen umzugehen. Sie wollen sich eher gegenseitig bestätigen, in ihrem Unmut und Groll gegenüber Juden, „weil sie uns immer ein schlechtes Gewissen machen“. Ich versuche, den Abend zu retten, indem ich die Erfahrung meines Vaters weitergebe, von Felix Mendelssohn Bartholdy mit Schönheit beschenkt zu werden und zu erkennen, dass ihm diese Musik vorenthalten worden war, nur weil der Komponist als Jude gesehen wurde. Wir hören „Die Italienische“3. Auch dies verfängt nicht. „Ja, ja – Juden spielen im Kulturleben eine große Rolle.“
November 1992: Moschee-Besuch in der Kleinstadt meiner Teildienststelle als Pfarrerin z.A.
Im Rahmen der Friedensdekade besuchen wir die kleine Moschee am Ort. Ein eigens zum Gespräch mit uns christlichen Gästen anwesender muslimischer Dialog-Beauftragter sagt viele gute Sätze. Aber als er die Universalität als Vorzug des Islam gegenüber dem Judentum (mit dessen weitgehendem Verzicht auf Mission und Beschränkung auf das jüdische Volk) betont, erwidere ich, dass wir Christen ein ähnliches Abwertungsmuster gerade abzulegen versuchten …
1993: Reaktion auf den Oslo-Friedensprozess, Abkommen Oslo I
„Ich gebe Israel zehn Jahre“, sagt meine damalige jüdische Freundin in Berlin, die die vereinbarten Schritte Richtung Autonomie der besetzten Gebiete skeptisch sieht. – Was würde sie wohl heute sagen?
1996: Gespräche mit einer jüdischen Engländerin
Nicht als Pfarrerin, sondern als Langzeit-Freiwillige der Bewegung ATD Vierte Welt bin ich in der französischen Schweiz. Dort lerne ich eine jüdische Engländerin kennen, die ein soziales Jahr macht. Sie erzählt eines Tages von einer Pressemitteilung über antijüdische Äußerungen des bekannten Abbé Pierre.4 Ich bin erstaunt, als sie sagt: „Es ist gut, dass er das gesagt hat – weil ich dadurch weiß, wie er denkt. Wenn man seine Feinde kennt, kann man sich besser gegen sie schützen.“
Dieselbe Frau zuckt unwillkürlich zusammen, als eine andere Freiwillige ihr gegenüber eine Bemerkung macht, in der ein antisemitisches Stereotyp über Juden und Geld enthalten ist. Sie spricht mit mir darüber – sie habe so verletzt reagiert, weil sie sich aufgrund ihrer Kenntnis dieses Stereotyps jahrelang selbst beobachtet habe. Ich lese gerade „Scheidelinien5“ von Anja Meulenbelt und sage: „Auch ich habe sicher antisemitische Vorstellungen in mir, ich versuche aber sie abzulegen.“
2000: Passions-Oratorium im Kirchenchor
Zurück in Deutschland, auf Stellensuche für den Wiedereinstieg in den Pfarrberuf, singe ich in einem Kirchenchor mit. Ein eher unbekanntes Passions-Oratorium nach dem Matthäusevangelium wird einstudiert; es enthält die Worte „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“. Ich denke: Ich bin nicht zurückgekehrt, um so etwas zu singen! Ich gehe zum Chorleiter und erkläre meine Irritation. Er meint zwar, christlich gesinnte Menschen seien ethisch so hochstehend, dass traditionell antijüdisch ausgelegte Bibelstellen bei ihnen nicht zu negativem Verhalten führen könnten. Aber er ist dann doch bereit, dem Programmblatt eine Vorbemerkung beizufügen.
2012: Beschneidungsdebatte
Als die gestiegene Sensibilität für das, was Kindern gegenüber nicht hinnehmbar ist, auch vor der Beschneidung nicht Halt macht, erinnere ich mich daran, dass ich 2007 während meiner psychosomatischen Reha im Film „28 Days“6 in einer Selbsthilfe- oder Therapie-Gruppenszene den Satz „Ich will meine Vorhaut zurück“ gehört und darauf als inneres Echo gedacht habe: „Ich will mein Leben zurück“. – Vor der eigenen Tür gab es genug zu kehren, innerhalb der eigenen christlichen Religion schon genug Religionskritik zu üben.
2018: Ein Gespräch betreffs arabischer Einwanderung
Bei einer Familienfeier, zu der ich als Freundin eingeladen bin, treffe ich einen Anwalt, der für eine jüdische Gemeinde tätig ist. Er erzählt, viele Mitglieder seien darüber beunruhigt, dass Kanzlerin Merkel durch die Öffnung für Geflüchtete aus dem arabischen Raum auch massiven Judenhass (bzw. Israel-Hass, der auch deutsche Juden treffen könnte) nach Deutschland geholt habe.
Nach dem 7. Oktober 2023
Beim Kreta-Urlaub in der ersten Novemberhälfte ist Zeit für einen Austausch mit meiner Reisebegleiterin darüber, was dieses Datum verändert hat – und was es bei mir ausgelöst, aufgewühlt, aus der Erinnerung hervorgeholt hat. Nachrichten dringen kaum zu mir durch. Ob die von Israel angekündigte Bodenoffensive im Gazastreifen nun im Gang ist?
Die Vermieterin der Ferienwohnung hat uns gesagt, dass die jungen Katzen nicht in die Wohnung dürfen; wenn sie uns auf der Terrasse stören würden, könnten wir sie mit kaltem Wasser übergießen und dadurch verjagen. Ich hatte diese Worte wohl noch nicht ernst genug genommen. Beim Frühstück – ich bin noch nicht ganz wach und sehr verlangsamt – kommt eine der Katzen und springt auf den Tisch. Ich schlage sie weg, wobei ein Glas zu Bruch geht. Danach bin ich extra aufmerksam und schnell – keine Katze soll mehr auch nur in die Nähe des Tisches kommen. Als ich auf eine erneute Annäherung damit reagiere, dass ich das Kätzchen heftig durch die Luft schmeiße, bis an das metallene Tor, erschrecke ich vor mir: Was für eine Rage bricht da in mir auf und aus mir heraus, weil ich meine Verletzlichkeit bemerkt habe! Auch meine Begleiterin hat dies mitbekommen, und ich sage zu ihr: „Ich verstehe die Israelis, wenn sie vielleicht jetzt bei ihrer Selbstverteidigung das richtige Maß nicht finden.“ Die Katze hat den Wurf unverletzt überstanden, zum Glück.
März 2024
Die Gebetsordnung für den Weltgebetstag am 1.3.2024 stammt von palästinensischen Christinnen. Ich habe keinen WGT-Gottesdienst miterlebt. In meinem Wohnort Naila bei Hof/Saale hat kein solcher stattgefunden.
Wenige Tage später kann ich meine aus dem Libanon stammende Freundin in die Nailaer Moschee begleiten, zur dort stattfindenden muslimischen Feier am 40. Tag7 nach dem Tod von zwei verstorbenen Verwandten, die beide im Libanon wegen dem auch dorthin sich ausbreitenden Krieg durch eine israelische Rakete ums Leben gekommen sind.
(Aus meiner Mail an den für Naila und Umgebung zuständigen Dekan, 15.3.2024:) „Ich habe im ‚Wir im Frankenwald‘8 gelesen, dass es Gespräche gegeben hat … mit dem Ergebnis, im Bereich von Naila und Umgebung diesmal nicht zum Weltgebetstag sondern zu Friedensgottesdiensten einzuladen. Ich kann diese Entscheidung verstehen: Auch wenn die Gebetsordnung nach dem 7. Oktober noch überarbeitet worden ist, war der damit gegebene Blickwinkel sicher immer noch einseitig – und es konnte dadurch ein (zu) negatives Bild vom Staat Israel entstehen. Ich wusste von anderer Seite, woher die diesjährige WGT-Ordnung stammte. Und so konnte ich mir das [im Artikel] Nicht-Gesagte denken. Vielleicht wäre es auch mir zu heikel gewesen, die Palästinenserinnen zu Wort kommen zu lassen. Aber ich hätte vielleicht versucht, sie im Artikel als Urheberinnen der diesjährigen WGT-Ordnung zu erwähnen (stumm, aber wenigstens nicht unsichtbar, frei nach dem Namen des Nailaer f.i.t.-Projekts9) – auch wenn dies dann die getroffene Entscheidung transparent und angreifbar gemacht hätte.
Die Frage, warum ich Ihnen dies bisher nicht gesagt hatte, beschäftigte mich (…). Und eng damit verbunden die Frage: Wie kann ich als eine, die durch frühere intensive Beschäftigung mit dem Judentum und 3-monatigen Israel-Aufenthalt 1986 keinen neutralen Standort hat, mit meiner Freundin sprechen, deren Verwandte im Süden des Libanon sich durch den Konfliktpartner, auf dessen Seite ich stehe, akut bedroht fühlen müssen? Auf dem Hintergrund dieser inneren Situation war für mich die (…) Einladung zu der muslimischen Trauerfeier eine Hilfe. Mir wurde dadurch ermöglicht, einen konkreten Schritt zu tun: Mitgefühl zu zeigen, durch Teilnahme (…).“
Mein Beitrag
Habe ich schon genug Mitgefühl mit Juden gezeigt? Was ist mit meinen guten Vorsätzen, immer jüdische Freunde haben zu wollen, damit mir ein Wiedererstarken eines für sie gefährlichen Antisemitismus nicht gleichgültig sein kann? Meine jüdischen Kontakte in Israel sind eingeschlafen; in Deutschland bin ich mit genau einer Jüdin persönlich in Verbindung und im Gespräch.
Kurz nach der muslimischen Trauerfeier kam es zu einer Bistro-Begegnung mit einem Kollegen aus dem Nachbar-Dekanatsbezirk, der früher viele Jahre beim BCJ10 gearbeitet hat. Ich konnte mich mit ihm über die Frage austauschen, was Leute wie wir, die sich etwas mehr mit all den Binde- oder Trennungsstrich-Fragen um christlich-jüdisch, jüdisch-israelisch, israelisch-deutsch etc. beschäftigt haben, jetzt tun sollten.
Nach wie vor glaube ich, wir in Deutschland sollten uns nicht dazu drängen (lassen), die Politik Israels zu be-/verurteilen, sondern wir sollten zuerst vor unserer eigenen Tür kehren. Wir sollten da etwas zu ändern versuchen, wo wir verantwortlich sind – damit Jüdinnen und Juden in unserer Gesellschaft in Sicherheit (und Sichtbarkeit!) leben können. Und uns, die wir aus unserer Geschichte besser als andere wissen können, wohin Antisemitismus führen kann, sollte klar sein, warum es den Staat Israel in sicheren Grenzen weiterhin geben muss.
Es ist der neu entflammte Nahostkonflikt, der mich daran erinnert hat, dass christlich-jüdischer Dialog und Überwindung von Antisemitismus jahrelang mein Schwerpunkt waren. Für diesen Konflikt, unter dem unzählige Menschen auf beiden Seiten leiden, kann ich nur mit „Moment! – rega‘! – laḥza!“11 um ein Innehalten betteln. Oder gibt es noch etwas, was ich einbringen könnte, als meinen ganz persönlichen Beitrag?
Die Hoffnung
1. Wenn ein Herz noch hämmert oder ruhig schlägt,
Atem noch fließt, die Stimme sich bewegt,
wenn’s noch in den Augen feucht wird oder blitzt,
weil eine Seele durch den Körper flitzt,
ist die Hoffnung auch noch nicht entschwebt,
Hoffnung, die tief drinnen in uns lebt:
frei wie ein Vogel und doch nicht allein
glücklich zu werden und daheim zu sein.
2. Wenn noch Hunger nagt und Sättigung sich zeigt,
wenn noch ein Seufzer aus der Tiefe steigt,
wenn die Haut noch friert vor Ehrfurcht, eingeflößt,
wenn sich die Angst noch in Gelächter löst,
ist die Hoffnung …
3. Wenn dem Schlafe nahe noch der Rachen gähnt,
wenn sich Verliebtheit noch nach Nähe sehnt,
wenn’s nach langem Lauf noch in den Seiten sticht
oder im Herzen: „Warum ich, und andre nicht?“,
ist die Hoffnung …
(Annette Rodenberg 2012, nach „Ha-tikva“, Nationalhymne Israels)
Dieses Lied „Die Hoffnung“ wurde bei der Feierstunde am 17. Oktober 2016, „UNO-Welttag zur Überwindung von Armut und Ausgrenzung“, in Naila12 gesungen. Anschließend bekam ich die Rückmeldung, das sei zwar ein schönes Lied, aber die Melodie der israelischen Nationalhymne im Beisein von Menschen aus arabischen Ländern – „Geht das?“
Schon vorher hatte mich eine andere Person gewarnt, dass Israelis Schwierigkeiten mit meinem Liedtext haben könnten, in dessen erster Fassung „Schnarchen“ und „Bäuerchen“ vorkamen. Ich hatte daraufhin kleine Anpassungen vorgenommen, um möglichst zu vermeiden, dass die Neutextung als Parodie bzw. Veräppelung missverstanden wird.
Das Zweck-Entfremden der Melodie haben sich andere vor mir erlaubt. „Zünde an dein Feuer“13 auf einer christlich-religiösen Kinderplatte bescherte mir meine erste bewusste Erfahrung mit Kopfweh, dem Symptom, das später chronisch wurde und mich für sieben Wochen in eine psychosomatische Reha-Klinik bringen sollte. Wirkte die darin ausgedrückte Jesus-Anbetung wie eine Droge? Oder spürte ich einfach, dass sie nicht zu dieser Melodie passte?
Als ich 2006 erstmals am Ort meiner zukünftigen Reha übernachtete, träumte ich, dass ich am Beispiel der „Ha-tikva“ erkannte: Alle Lieder werden gebraucht. 2012 entstand der neue Text – seine Grundidee und ersten Sätze als Akt der Selbstverteidigung, während um mich herum „Zünde an dein Feuer“ gesungen wurde. Wenn ich das mitteile, mache ich mich vielleicht bei meinen eigenen Leuten unbeliebt.
Das ist mein Beitrag: Eine Zumutung für beide Seiten – und für meine eigene religiöse Gemeinschaft. Und eine Hoffnung für jeden Einzelmenschen, in seiner körperlich-seelischen Befindlichkeit und in seinem Wunsch, glücklich zu werden. Für den Einzelmenschen – als Beziehungswesen. Mein Gesprächspartner aus Yad Vashem hatte mich bei dem erwähnten Gespräch in Heidelberg ermutigt: „Sieh den Mitmenschen in die Augen, darin ist die nefesh, die Seele.“ Deshalb ist es wohl nicht belanglos, dass im Deutschen „Moment“ auch „Augenblick“ heißt!
▬ Annette Rodenberg
Anmerkungen
1 ASF = Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V.
2 Pfarrer zur Anstellung (d.h. noch nicht Pfarrer auf Lebenszeit) – Bezeichnung in der Evang.-Luth. Kirche in Bayern.
3 Sinfonie Nr. 4 in A-Dur op. 90, „Italienische“ (MWV N 16) von Felix Mendelssohn Bartholdy.
4 Im April 1996 hatte er Unterstützung für seinen zum Islam konvertierten Freund Roger Garaudy geäußert, der „für seine antizionistischen Bestrebungen auch die Leugnung des Holocaust (instrumentalisierte)“ (Wikipedia). Im Juli 1996 nahm Abbé Pierre nach erheblicher Kritik aus Kirche und Gesellschaft seine Äußerungen zurück.
5 Anja Meulenbelt, Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus, aus dem Niederländischen von Silke Lange, Rowohlt Verlag, Reinbek 1988 – mit einem eigenen Kapitel über Antisemitismus.
6 https://en.wikipedia.org/wiki/28_Days_(film) – es geht um eine US-amerikanische Reha-Klinik für Suchterkrankungen und die darin geübten Therapieformen.
7 Am 40. Tag endet die intensive Phase der Trauerzeit. Dazu gehört ein rituelles Gebet durch den Hodscha/Imam und eine gemeinsame Mahlzeit.
8 Interkommunales Amtsblatt, das wöchentlich kostenlos an alle Haushalte verteilt wird.
9 Vgl. Anm. 12.
10 Begegnung von Christen und Juden Bayern e.V.
11 Auf Deutsch, Hebräisch und Arabisch.
12 Im Rahmen des von mir geleiteten f.i.t.-Projekts „Sichtbar, aber auch nicht stumm“. „f.i.t.“ steht für „fördern, iniativ werden, teilhaben – weil Armut nicht ausgrenzen darf“, vgl. https://www.fit-projekte.de/.
13 Text von Berta Schmidt-Eller 1969 – vgl. z.B. https://www.youtube.com/watch?v=cyEMOOMK5ek.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2024