Frauen sind im Evangelischen Gesangbuch unterrepräsentiert. Umso erstaunlicher, dass zu den frühen Liederdichtern der Reformationszeit mit Elisabeth Cruciger eine Frau gehört, die mit einem Lied zur Epiphaniaszeit im EG vertreten ist. Adelheid M. von Hauff stellt sie und ihren Choral vor.*

 

Von den 535 Liedern im Stammteil des Evangelischen Gesangbuchs stammen 21 Texte und 3 Melodien von Frauen. Im Anhang meiner badischen Landeskirche finden sich weitere sieben von Frauen verfasste Lieder. Vergleichbar verhält es sich auch mit den Anhängen anderer Landeskirchen. Dass auch Frauen im Verlauf der Kirchengeschichte gedichtet haben, ist weithin bekannt, dass sie sich als religiöse Schriftstellerinnen jedoch nur als Visionärinnen Gehör verschaffen konnten, zeigt ein kurzer Blick auf mittelalterliche Frauenbiografien. Aus den namentlich bekannten Frauen nenne ich hier lediglich exemplarisch Klara von Assisi (1194-1253), Mechthild von Magdeburg (1207-1282) und Christine de Pizan (1363-1431). Zu den Möglichkeiten einer Frau, öffentlich das Wort zu ergreifen, schreibt Marco Bartoli in seiner Klara-Biografie: „Einer Frau war es absolut verboten, zu predigen, die Sakramente zu spenden und ohne feste Niederlassung umherzuziehen, ihr konnte aber nicht verboten werden, Visionen zu haben.“1

 

Zum Schweigen verurteilt

Die Frauengeschichtsforschung hat herausgearbeitet, dass die meisten dieser Frauen eigenständige Theologinnen waren, auch wenn sie sich des theologisch-wissenschaftlichen Stils ihrer Zeit nicht bedienen konnten. Diese Frauen dem synonym gebrauchten Begriff „Mystik“ zuzuordnen, hat vielfach dazu beigetragen, ihre theologischen Leistungen unsichtbar zu machen. Indem die religiösen Schriftstellerinnen selbst versuchten, sich als prophetisch-mystische Visionärinnen an die Tradition der Prophetinnen des AT und NT anzuschließen, wollten sie sich dem Verdacht des öffentlichen Lehrens entziehen, das den Frauen nach der jahrhundertelang gebrauchten Auslegung der ntl. Briefe verboten war.2 Ich werfe dazu einen kurzen Blick auf zwei Textstellen aus dem 1. Kor.:

Jede Frau, die betet oder prophetisch redet mit unbedecktem Haupt, die schändet ihr Haupt; denn es ist gerade so, als wäre sie geschoren. 
(1. Kor. 11,5)
Wie in allen Gemeinden der Heiligen sollen die Frauen schweigen in den Gemeindeversamm­lungen. (1. Kor. 14,34)

Scheinbar widersprüchliche Aussagen in ein und demselben Paulusbrief. In Kap. 11,5 geht der Verfasser selbstverständlich davon aus, dass auch Frauen öffentlich prophetisch reden, in Kap. 14 jedoch untersagt er ihnen die Rede in den Gemeindeversammlungen. Wie ist das zu verstehen? Wie war es tatsächlich in der frühen Christengemeinde?

Die neuere Bibelexegese löst den hier festgestellten Widerspruch mit einer klärenden Hypothese auf. Danach wurde das Schweigegebot3 erst nachträglich in den 1. Kor. eingetragen. Das Verbot der öffentlichen Rede ist somit kein originäres Pauluswort aus der frühen Zeit der Christengemeinde. Prophetische Rede und Gebet von Männern und Frauen4 waren für Paulus selbstverständlich. Dass sich die Aufgaben der Frauen in der Gemeinde bereits zur Zeit der Entstehung der Pastoralbriefe änderten, lässt sich an verschiedenen Stellen nachweisen. Ich beziehe mich hier auf Elisabeth Gössmann5, die festhält, dass 1. Kor. 14,34 nachträglich in den uns vorliegenden Brief eingefügt wurde und einer späteren Schicht des NT angehört. Das Verbot der öffentlichen Rede ist somit vergleichbar mit Aussagen der Pastoralbriefe6, die Frauen die Rolle der in der Stille lernenden und schweigenden Hörerinnen zuweisen. Nicht nur in Folge der wörtlichen Auslegung der Spätschriften des NT wurde Frauen jahrhundertelang das Predigen untersagt, auch das Frauenbild der Kirchenväter hat dazu beigetragen, dass sie sich bestenfalls als Visionärinnen Gehör verschaffen konnten.

 

Predigende Frauen

Trotzdem gab es im Mittelalter Frauen, die als Prophetinnen das Wort ergriffen und öffentlich, jedoch außerhalb von Kirchenmauern, predigten. Zu ihnen gehörten neben anderen Hildegard von Bingen (1098-1179) und Katharina von Siena (1347-1380), die beide durch die Lande zogen und öffentlich predigten. Als predigende Frauen blieben sie jedoch eine Ausnahme.

Obwohl das von Luther propagierte Priestertum aller Gläubigen die Frauen einschloss, blieb das öffentliche Predigtamt auch in der Reformationszeit den Männern vorbehalten. Martin Luther konnte sich die öffentliche Predigt von Frauen nur bei Katastrophen wie dem Tod aller Männer im Krieg vorstellen. Trotzdem gab es sie, die Frauen, die das Predigtamt für sich reklamierten, wenn auch nur in ihren Träumen.

Von der ersten evangelischen Liederdichterin Elisabeth Cruciger wird berichtet, sie habe einmal geträumt, sie hätte in der Kirche in Wittenberg gepredigt. Als sie ihrem Mann davon erzählte, meinte er lachend: „Vielleicht will euch der liebe Gott für würdig erachten, dass eure Gesänge, mit denen ihr zu Hause immer umgeht, in der Kirche sollen gesungen werden.“7

 

Novizin im Prämonstratenserorden

Gesungen hat die in einem Kloster aufgewachsene Elisabeth von Meseritz gerne. Als Tochter einer märkisch-pommerschen Adelsfamilie wurde das zwischen 1504 und 1505 geborene Mädchen früh dem weiblichen Zweig des Prämonstratenserordens8 anvertraut. Ob dies als Gott gegebenes „Zehntopfer“9 – wie bei Hildegard von Bingen10 – oder aufgrund wirtschaftlicher Sorgen der Familie – wie bei Katharina von Bora11 – geschah, ist nach derzeitigem Forschungsstand nicht nachweisbar. Ebenso wissen wir nicht, ob Elisabeth von Meseritz mit dem Klostereintritt einverstanden war12. Dass sie dort auch zur Nonne geweiht wurde, wage ich trotz Hinweisen13 aus der Zeit der Reformation in Frage zu stellen. Möglich wäre dies nur, wenn sie tatsächlich – wie Inge Mager14 es angibt – bereits 1500 geboren worden wäre. Folgt man dem Geburtsjahr 1504/1505 ist eine vor dem Klosteraustritt gefeierte Profess in einem Kloster, das sich mehr und mehr auflöste, unwahrscheinlich.

Zu dem 1120 von Norbert von Xanten in Premontré gegründeten Prämonstratenserorden gehörten von Anfang an auch Frauen. Als Chorfrauen nahmen sie wie die Chorherren die Augustinusregel an und legten die feierlichen Ordensgelübde (Gehorsam, Armut und Keuschheit) ab. Bis 1140 lebten alle Ordensangehörigen in einer Art Doppelkloster nebeneinander, zu dem ein Männer- und Frauenkonvent gehörte. Als immer mehr Frauen in den weiblichen Zweig strömten, wurden die Konvente räumlich voneinander getrennt. Weiterhin siedelten die Prämonstratenserinnen sich jedoch in unmittelbarer Nähe von Männer-Abteien an. Für die religiöse Bewegung des Mittelalters hatte der weibliche Ordenszweig eine große Bedeutung. Er hat die religiöse Bewegung in den nördlichen Ländern wesentlich bestimmt. Mit der Reformation jedoch wurde die Auflösung vieler Konvente eingeleitet.

Dass Elisabeth von Meseritz sich bereits im Kloster mit der reformatorischen Lehre befasste, zeigt ein Briefwechsel, den sie im Januar 1519 mit dem getauften Juden Joachim aus Stettin führte.15 Die damals vermutlich Fünfzehnjährige (Novizin?) tröstete den jungen Mann in seinen Glaubenszweifeln mit der Verheißung aus Phil. 1,5: „Lieber Bruder, sei zufrieden, hab ein Gemüt, denn der das gute Werk und die Seligkeit in uns angehoben hat, wird’s ohne Zweifel vollbringen.“

 

Die Reformation Johannes Bugenhagens

Vermutlich hatte die reformatorische Lehre den Frauenkonvent über das in der Nachbarschaft liegende Männerkloster Belbuck erreicht. Dort wirkte der in Wolin (Polen) geborene und 1509 zum Priester geweihte Johannes Bugenhagen (1485-1558) als Ausleger der Bibel und der Schriften der Kirchenväter. Humanistische Einflüsse und reformatorische Erkenntnisse bestimmten auch sein Denken. Das neu entdeckte Evangelium, die alleinige Autorität der Bibel und die Rechtfertigung aus Gnade fanden mit hoher Wahrscheinlichkeit über ihn ebenso Einlass in das nahegelegene Frauenkloster Marienbusch wie die breit geführten Diskussionen über die nicht biblisch begründbare Höherstellung des mönchischen Standes.

Als Bugenhagen 1521 nach Wittenberg zog und dort sein Theologiestudium aufnahm, brach auch das Ende der beiden Klöster in Belbuck und Marienbusch an. Da Elisabeth von Meseritz zu diesem Zeitpunkt16 das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht hatte, ist zu vermuten, dass sie ihre Profess mit dem Sprechen der feierlichen Gelübde noch nicht abgelegt hatte und somit keine Nonne war, obwohl sie in manchen Texten so bezeichnet wird.17

Mit der Auflösung des Klosters verliert die junge Elisabeth von Meseritz ihr Zuhause. Von einer Flucht – wie es später bei den neun Nonnen war, die Leonhard Koppe im Auftrag Luthers am 7. April 1523 aus dem Zisterzienserinnen-Kloster in Nimbschen bei Grimma entführte – kann bei Elisabeth von Meseritz keine Rede sein. Unspektakulär verlässt sie das an sein Ende gekommene Frauenkloster und trifft nach einer Zwischenstation an einem unbekannten Ort 1522 in Wittenberg ein, wo sie im Haus der Familie Bugenhagen Aufnahme findet. Bugenhagen war mittlerweile Pfarrer der dortigen Stadtkirche. Zugleich hatte er am 13. Oktober 1522 als zweiter der Wittenberger Theologen Walpurga, geborene Rörer (1500-1569) geheiratet. Zu Bugenhagens Sicht auf die Gemeinschaft in der Ehe berichtet Inge Mager eine kleine Anekdote, nach der Bugenhagen seiner Ehefrau Walpurga die haushaltliche Schlüsselhoheit zubilligte, sich selbst aber die Schwertgewalt vor­be­hielt.18

 

Martin Luthers Eheverständnis

Martin Luther hatte genau in diesem Jahr (1522) das Traktat „Vom ehelichen Leben“ verfasst, in dem er die Ehe als einen von Gott gewollten Stand lobt und das Gelübde der Keuschheit als widernatürlich verurteilt. Bei dem Traktat handelt es sich um die Zusammenfassung von Predigten, die Luther im Zusammenhang einer Visitationsreise nach seiner Rückkehr von der Wartburg gehalten hatte. Bereits 1519 hatte Luther „Ein Sermon von dem ehelichen Stand“ verfasst. In Auseinandersetzung mit den sieben Sakramenten der römischen Kirche stellte die Ehe für Luther ab 152019auch kein Sakrament mehr dar. Dazu nennt er im zweiten Teil seines Traktats „Vom ehelichen Leben“ Gründe, die eine Scheidung rechtfertigen. Im ersten Teil des Traktats zum ehelichen Leben begründet er schöpfungstheologisch die eheliche Gemeinschaft.20 So schreibt er: „Geschlechtsverkehr zu haben und dich zu samen und zu mehren, ist Gottes Schöpferwille und steht nicht in deiner Macht. … Also sind Pfaffen, Mönche und Nonnen verpflichtet, ihre Gelübde zu lassen, wenn sie sich so finden, daß Gottes Schöpferwille, sich zu samen und zu mehren, in ihnen kräftig und tüchtig ist.“21

Die ehemalige Klosterschülerin Elisabeth von Meseritz hört in dem sozialen Umfeld der kirchlichen und universitären Kreise in Wittenberg nun auch von Luthers biblisch begründeter Ablehnung der Gelübde und seiner Hochschätzung des ehelichen Standes. Als sie im Hause Bugenhagen dem aus Leipzig stammenden Caspar Cruciger (1504-1548) begegnet, ist sie frei, sich diesem jungen Mann zuzuwenden, der zum Studium der Theologie und hebräischen Sprache in die Universitätsstadt gekommen war. Wiederum ist es Bugenhagen, der anstelle ihrer adligen pommerschen Familie die Rolle des Brautwerbers übernimmt.

 

Ein erstes evangelisches Trau-Formular

Damit kann bereits am 14. Juni 152422 von Martin Luther die Trauung von Elisabeth von Meseritz und Caspar Cruciger vollzogen werden. Falls Elisabeth tatsächlich 1504/05 geboren wurde, dann sind beide Eheleute zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung 20 Jahre alt. Bemerkenswert ist, dass Luther für diesen vor der Kirchentür vollzogenen Akt das erste nach evangelischen Grundsätzen abgeänderte Trau-Formular abfasst. Den genauen Wortlaut kennen wir aus einem vom kursächsischen Geheimsekretär Georg Spalatin (1484-1545) verfassten Protokoll.23 Danach soll Luther zunächst zum Bräutigam gesagt haben: „Also steht geschrieben: Im Schweiß deines Angesichts wirst du dein Brot essen24. Diese Lektion hat Gott dir, Caspar, geben.“ Und danach soll er zur Braut gesagt haben: „Du sollst deine Kinder mit Kummer gebären25. Diese Lektion hat Gott dir, Elsa, geben.“ Nachdem die Eheleute diesen Formeln zugestimmt hatten, steckte Luther dem Bräutigam und der Braut die Ringe an und sprach: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“26. Abschließend folgte die biblische Aufforderung: „Seid fruchtbar und mehret euch27“.

Spalatins Protokoll ist weiter zu entnehmen, dass der Bräutigam noch nicht Doktor und gerade erst 20 Jahre war. Der Trauung folgte wenige Tage28 später eine von Bugenhagen und seiner Frau ausgerichtete fröhliche und standesgemäße Hochzeitsfeier mit zehn Tischen. Für die Festtafel bat Bugenhagen Spalatin um Fürsprache bei Friedrich dem Weisen (1463-1525) zwecks Zusendung von etwas Wildbret.

In gebührendem Abstand zur Eheschließung wird Elisabeth Cruciger im März 1525 in Wittenberg Mutter eines Sohnes. Ihr Ehemann war zu diesem Zeitpunkt bereits in Magdeburg, wohin er Anfang 1525 als Rektor der Stadtschule und Mitreformator berufen worden war. Vermutlich in Magdeburg wird das zweite Kind, eine Tochter, geboren. Nur drei Jahre später kehren die Crucigers 1528 nach Wittenberg zurück, wo Caspar Cruciger zum Professor an der philosophischen und später auch theologischen Fakultät berufen und zum Prediger an der Schlosskirche ernannt wird.29 Der Sohn Caspar (1525-1597) wird später als Professor die Nachfolge von Melanchthon antreten und im Zusammenhang von Lehrstreitigkeiten der frühen Orthodoxie zum Calvinismus übertreten. Die Tochter Elisabeth wird in zweiter Ehe, den aus ihrer Kindheit bekannten Sohn Luthers, Johannes Luther (1526-1575), das „Hänschen“, heiraten.30

 

Professorenfrau und Liederdichterin

Als Pfarr- und Professorenfrau hat Elisabeth Cruciger einen großen Haushalt mit studentischen Freitischen und gelehrten Tafelrunden zu führen. Neben der Freundschaft zu Walpurga Bugenhagen nimmt sie auch freundschaftlichen Kontakt zu Katharina von Bora (1499-1552) auf, die Martin Luther 1525 geheiratet hat. Einem unvollständigen Brief Luthers ist zu entnehmen, dass die beiden Frauen sich gegenseitig beschenkten.31

Am 2. Mai 1535 stirbt Elisabeth Cruciger nach knapp elfjähriger Ehe im Alter von 30 Jahren. Ihre große Beliebtheit zeigt ihre Beisetzung, zu der vom Rektor der Wittenberger Universität eingeladen wurde.32 Mit ihrem Lied33 hat sie der Nachwelt eines der innigsten Reformationslieder hinterlassen. Es gilt als das erste Jesuslied der evangelischen Kirche und steht als Wochenlied für den letzten Sonntag nach Epiphanias im liturgischen Kalender.

Obwohl Luther Elisabeth Cruciger sehr schätzte und die Popularität des Liedes auf seinen Zuspruch zurückgeht, war es ihm unmöglich, eine Frau als Liederdichterin ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken. Vor diesem Hintergrund erschien das Lied erstmals ohne Nennung der Verfasserin bereits 1524 sowohl in den Erfurter Enchiridien als auch in dem von Luther herausgegebenen Wittenberger Chorgesangbuch. Den Namen der Verfasserin nennt Andreas Rauscher erstmals in seinem 1531 in Erfurt gedruckten Gesangbuch. Trotzdem führt das Klugsche Gesangbuch, zu dem Luther eine Vorrede schreibt, den Namen der Verfasserin auch 1533 nicht an. Seit Ende des 16. Jh. aber erscheint das Lied durchgängig mit dem Namen der Liederdichterin.

Die fünf Strophen des innigen Jesusliedes berühren sich mit den ntl. Christusliedern, den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen und den frühen lateinischen Hymnen. Kurze und prägnante Aussagesätze kennzeichnen den Redestil.34

 

Ein „geistreicher Betpsalm“

Der Liederdichter Cyriakus Spangenberg (1528-1604) findet 1571 einen interessanten Zugang zu dem Jesuslied von Elisabeth Cruciger. Er vergleicht es mit einem geistreichen Betpsalm. In seinen Ausführungen nennt er unbefangen auch den Namen der Verfasserin. Er schreibt: „Und hat diesen Psalm ein recht fromm gottfürchtiges Weib gemacht, Elisabeth Crucigerin geheißen, und hat dem Doktor Martino so wohl gefallen, dass er ihn selbst in sein Gesangbüchlein zu setzen befohlen.“35 Vergleichbar mit dem von den Reformatoren hoch geschätzten Kollektengebet ist das Lied ein auf dem christlichen Bekenntnis aufbauendes inhaltsreiches Gebet.

Die erste Strophe36 ist ein lobpreisendes Bekenntnis zu Christus, der dem Herzen des Vaters entsprossen ist. Leicht lässt sich hier eine Verbindung zu den altkirchlichen Bekenntnissen37 herstellen. Wenn es in der vierten Zeile heißt: „gleich wie geschrieben steht“, dann ist darin die Verwurzelung in der reformatorischen Theologie erkennbar, nach der die Bibel die Urkunde des ­Glaubens ist.

In Strophe zwei meditiert die Dichterin den Weg des Erlösers in der Zeit. Christus als Mensch geboren, hat dem Tod die Macht genommen, den Himmel aufgeschlossen und das Leben wiedergebracht. Hier lässt sich ein Zusammenhang zu 2. Tim. 1,1038 herstellen. Bei Strophe zwei ist hervorzuheben, dass die ursprüngliche Fassung von Cruciger anders lautete als im EG wiedergegeben. Die Verfasserin selbst betont in der ursprünglichen Fassung39 mit den Worten „der Mutter unverloren ihr jungfräulich Keuschheit“ die Menschheit Jesu. Sie folgt damit zum einen den Worten von Apostolicum40 und Nizänum41, sie folgt zum anderen aber auch der von mittelalterlichen Frauen hergestellten Verbindung von Mariologie und Christologie.42 Evangelische Theologen sahen in dem Ursprungstext eine vertiefte Marienfrömmigkeit und formulierten den Text für evangelische Ohren so um: „Dass wir nicht wärn verloren vor Gott in Ewigkeit“.

Entsprechend der Struktur des Kollektengebetes folgt in Strophe drei die Bitte um Vereinigung mit Christus im Glauben und in der Liebe. In den Worten „schmecken dein Süßigkeit im Herzen und dürsten stets nach dir“ sind eindeutig mystische Vorstellungen aus der klösterlichen Vergangenheit der Dichterin zu erkennen.

In Strophe vier spricht Cruciger erneut den Schöpfer an und bittet ihn, das Herz und die Sinne des Menschen ganz zu sich zu wenden. Es ist eine Bitte um die bleibende Verwurzelung im Glauben. Mit den Worten „du Schöpfer aller Dinge“ ist Christus als Schöpfungsmittler benannt. Zugleich wird mit der Aussage „regierst von End zu Ende“ wiederum eine Verbindung zum Nizänischen Glaubensbekenntnis43 hergestellt. Dass Cruciger mit den Worten „du väterliche Kraft“ die männliche Rolle Gottes bekennt, ist dem Denken ihrer Zeit geschuldet.44

Strophe fünf bittet um das Sterben des alten und das Auferstehen des neuen Menschen. Hier sind die ntl. Sakramentstheologie der Taufe nach Röm. 6,445 und Worte aus Luthers Taufsermon46 erkennbar. Nach dem Blick auf die Krisis des menschlichen Lebens endet das Lied mit fast heiteren Worten. Sie ähneln dem mittelalterlichen volkstümlichen Liebeslied: „All mein Gedanken, die ich hab, die sind bei dir. Du auserwählter einziger Trost, bleib stets bei mir“.

 

Mittelalterliche Mystik und reformatorische Evangeliumspredigt

Mit ihrem innigen Jesuslied hat die im Kloster aufgewachsene Elisabeth Cruciger der Nachwelt einen Text hinterlassen, der mittelalterliche Mystik und reformatorische Evangeliumspredigt tiefgründig miteinander verbindet. Ihr Traum ist längst in Erfüllung gegangen. Mit ihrem Lied hat die erste evangelische Liederdichterin nicht nur in der Schlosskirche in Wittenberg gepredigt, sie predigt noch heute in jedem Gottesdienst, in dem ihr Lied gesungen wird.

Das nächste ins EG aufgenommene von einer Frau verfasste Lied wurde etwa 100 Jahre später gedichtet. Auf Christiana Cunrad (1591-1625) geht das Christuslied „Herr Christ, dein bin ich eigen“47 zurück. Drei weitere Frauenlieder entstanden im 17. Jh. Aus dem 19. Jh. verzeichnet der Stammteil des EG sechs von Frauen verfasste Lieder. Die meisten von Frauen gedichteten oder vertonten Lieder – es sind 13 – folgen im 20. Jh. Es bleibt zu hoffen, dass im gerade entstehenden neuen EG mehr Frauen mit ihren Liedern zu Gehör kommen. 

 

Zu Elisabeth Cruciger verwendete Literatur:

Martin Rößler: Liedermacher im Gesangbuch. Liedgeschichte in Lebensbildern, Calwer Verlag Stuttgart 20192, 128-145

Inge Mager: Theologenehefrauen als „Gehilfinnen“ der Reformation. In: Katharina von Bora, Die Lutherin. Aufsätze anläßlich ihres 500. Geburtstages, Wittenberg 1999, 113-117

Elisabeth Schneider-Böklen: Der Herr hat Großes mir getan. Frauen im Gesangbuch, Quell-Verlag Stuttgart 19972, 11-26

 

Anmerkungen

* Teile dieses Textes habe ich in der Dezemberausgabe 2024 der Pastoralblätter als Predigt veröffentlicht.

1 Marco Bartoli, Klara von Assisi. Die Geschichte ihres Lebens, Dietrich-Coelde-Verlag, Werl 1993, 190.

2 Vgl. Elisabeth Gössmann, Religiös-theologische Schriftstellerinnen, in: Georges Duby, Michelle Perrot, Geschichte der Frauen. Mittelalter, hrsg. von Christiane Klapisch-Zuber, Campus Verlag Frankfurt/New York 19932, 496.

3 1. Kor. 14,34.

4 1. Kor. 11,4-5.

5 Gössmann, Elisabeth, Die streitbaren Schwestern, Freiburg 1981, 52f.

6 Vgl. u.a. 1. Tim. 2,11f.

7 Vgl. E.E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche. Erster Hauptteil. Nachdruck der dritten umgearbeiteten, durchaus vermehrten Auflage Stuttgart 1866, Hildesheim 1973, 283. Zit. n.: Inge Mager, Theologenehefrauen als „Gehilfinnen“ der Reformation, in: Katharina von Bora, Die LUTHERIN, Aufsätze anläßlich ihres 500. Geburtstags, hrsg. von Martin Treu im Auftrag Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Wittenberg 1999, 124.

8 Mönchtum Orden Klöster, Ein Lexikon, hrsg. von Georg Schwaiger, 355-367.

9 Vor dem Hintergrund des im AT üblichen „Zehnten“ gaben manche Adelsfamilien eines ihrer Kinder als „Zehntopfer“ in ein Kloster.

10 Vgl. Eduard Gronau, Hildegard von Bingen, Christiana-Verlag Stein am Rhein 19912, 30.

11 Vgl. u.a. Martin Treu, Die Frau an Luthers Seite – Das Leben der Katharina von Bora, in: Katharina von Bora, Die Frau an Luthers Seite, hrsg. von Udo Hahn und Marlies Mügge, Quell Verlag Stuttgart 1999, 14f.

12 Hildegard von Bingen hat als Erwachsene davon abgeraten, Kinder bereits im entscheidungsunfähigen Alter in ein Kloster zu geben. Sie sagt aber auch, wenn einmal dahingehend über einen Menschen entschieden wurde, solle die Person sich durch­ringen und eine positive Einstellung zu der über sie getroffenen Entscheidung gewinnen, vgl. ebd.

13 Vgl. u.a. Martin Rößler, Liedermacher im Gesangbuch. Liedgeschichte in Lebensbildern, Calwer-Verlag Stuttgart 20192, 132.

14 Mager, Theologenehefrauen, 115.

15 Vgl. Rößler, Liedermacher,129f; Mager nennt für diesen Briefwechsel das Jahr 1524.

16 Wenn man von dem Geburtsjahr 1504/1505 ausgeht.

17 1524 schreibt Johann Betz an den späteren Konstanzer Bürgermeister und Reformator Thomas Blarer: „Über die hiesigen Verhältnisse werden andere besser berichten: Kilian oder Caspar, der kürzlich eine Nonne (virginem vestalem) geheiratet hat, was manchem missfällt, doch tut Caspar nichts Unüberlegtes.“ In einem weiteren Brief nennt ein Wittenberger Student Elisabeth von Meseritz eine monialis Pomerana – pommersche Nonne. Vgl. Rößler, Liedermacher im Gesangbuch, 132.

18 Vgl. Mager, Theologenehefrauen, 114.

19 Vgl. Martin Luther, Ausgewählte Schriften, hrsg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Dritter Band, Auseinandersetzung mit der römischen Kirche, Insel Verlag Frankfurt, 19832, 165; Oswald Bayer verweist dazu auf Luthers Schrift: Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche (1520).

20 Ebd., 165.

21 Ebd., 168.

22 Mager, Theologenehefrauen, 115.

23 Vgl. Rößler, Liedermacher, 132f.

24 Vgl. Gen. 3,19.

25 Vgl. Gen. 3,16.

26 Vgl. Mt. 19,6.

27 Vgl. Gen. 1,28.

28 Möglicherweise fand diese Feier am 27. Juni 1524 statt. Vgl. dazu Mager, Theologenehefrauen, 116.

29 Vgl. Rößler, Theologenehefrauen, 133f.

30 Vgl. Mager, Theologenehefrauen, 117; Rößler, Liederdichter, 133.

31 Vgl. Rößler, Liedermacher, 134f.

32 Vgl. Mager, Theologenehefrauen, 117.

33 „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ (EG 67).

34 Vgl. Rößler, Liederdichter, 137.

35 Vgl. Ebd.

36 Bei der Deutung der einzelnen Verse folge ich weitgehend Rößler, Liederdichter, 139-145.

37 Vgl. besonders Nizänum: „aus dem Vater geboren vor aller Zeit“; mehrfach taucht der Begriff „einig“ im Athanasischen Glaubensbekenntnis auf, besonders hervorgehoben sei darin die Aussage: „Aber der Vater und Sohn und Heiliger Geist ist ein einiger Gott.“

38 Christus Jesus, der dem Tod die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.

39 V. 2 in seiner ursprünglichen Fassung: „Für uns ein Mensch geboren im letzten Teil der Zeit, der Mutter unverloren ihr jungfräulich Keuschheit, den Tod für uns zerbrochen, das Leben wiederbracht.“ – Vgl. Rößler, Liederdichter, 141.

40 „Geboren von der Jungfrau Maria.“

41 „Von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden.“

42 So schreibt Elisabeth Gössmann: „Eine Verknüpfung von Mariologie und Christologie entsteht für die Frauen aus ihrer Deutung des Geschehens bei der Verkündigung an Maria (Lk 1,26-38). … Dass mittelalterliche Schriftstellerinnen sich mit Maria identifizieren können, hängt nicht zuletzt auch mit deren biblisch überliefertem Wort im Magnificat zusammen, in dem sie die Erhebung aus der Niedrigkeit preist, die Gott ihr zuteilwerden läßt (Lk 1,46-55). Zahlreiche Anspielungen auf dieses Lied finden sich bei den schreibenden Frauen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, die Grund haben, es auf sich selber anzuwenden.“ Gössmann, Schriftstellerinnen, 508f.

43 „Seiner Herrschaft wird kein Ende sein.“

44 Vgl. Gössmann, Schriftstellerinnen, 498.

45 „So sind wir ja mit ihm begraben, durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen wandeln.“

46 Vgl. besonders zur vierten Bedeutung der Taufe, in: Ein Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe (1519), in: Martin Luther Ausgewählte Schriften, Dritter Band, hrsg. v. Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Erneuerung von Frömmigkeit und Glaube, Insel Verlag Frankfurt 19832, 37f.

47 EG 204.

 

Über die Autorin / den Autor:

Dr. Adelheid M. von Hauff, Jahrgang 1951, ­Diplom in Erziehungswissenschaft, 2002 Promotion zur Dr. paed. an der PH Heidelberg, seit 2007 Lehrbeauftragte für Evang. Theologie und Religionspädagogik an der PH Heidelberg.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2024

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