Die ForuM-Studie hat die Sensibilität für Formen des Machtmissbrauchs und sexualisierter Gewalt in Zusammenhängen pastoraler Arbeit gestärkt. Tilman Asmus Fischer nimmt dies zum Anlass, die pastoraltheologischen Überlegungen Dietrich Bonhoeffers näher unter die Lupe zu nehmen im Blick auf dessen Gespür für die Pastoralmacht der Amtsträger und die daraus zu gewinnenden berufsethischen Einsichten ebenso wie typische klassische blinde Flecken.

 

1995 – 60 Jahre nach Gründung des Predigerseminars in Finkenwalde – würdigte Sabine Bobert-Stützel „Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie“ als das durch die spezifische historische Situation des Kirchenkampfs geprägte Zentrum seiner Praktischen Theologie.1 Als Peter Zimmerling 2006 – zum 100. Geburtstag des Theologen – das zweite Grundlagenwerk zum Thema vorlegte, grenzte er sich von Bobert-Stützels Deutung der Praktischen Theologie Bonhoeffers als einer „pastoraltheologisch ausgerichtet[en] […] Kampftheologie“ ab und zeigte den Ertrag auf, der sich aus Bonhoeffers Finkenwalder Vorlesungen für die Praktische Theologie in der Breite ihrer Subdisziplinen gewinnen lässt.2 Wer wiederum 2024 nach Impulsen Bonhoeffers für die Praktische Theologie der Gegenwart fragt, wird die gegenwärtig geführte Diskussion um sexuellen Missbrauch im Raum der evangelischen Kirche nicht abblenden können.

Von hierher scheint es geboten, neuerlich die pastoraltheologischen Aspekte der Praktischen Theologie Bonhoeffers zu fokussieren; dies soll hier ausgehend von der Problemstellung geschehen, die von der Studie „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ (im Folgenden: ForuM-Studie) markiert wurde. Insofern die Missbrauchsproblematik sich jedoch nicht auf Fragen der Pastoraltheologie begrenzen lässt, sind – exemplarisch – die praktisch-theologischen Gegenstandsbereiche der Spiritualität, Kirchentheorie und Poimenik mitzubedenken.

 

Die ForuM-Studie und ihr Befund

Der Befund der ForuM-Studie, den ich zugrunde lege, ist folgender: Für die Bundesrepublik der 1970er bis 1980er Jahre lässt sich im untersuchten Fallkomplex wie für die Fälle in der DDR ein implizites Wissen der Kirchengemeinden und der Akteur*innen um Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt konstatieren. Rückt dabei die Pfarrperson als Täter in den Blick, so wird sichtbar, dass auch der evangelische Pfarrer eine besonders herausgehobene Position hat. Es lässt sich eine weitreichende Pastoralmacht feststellen, die begünstigend mit der Ausübung von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch in Verbindung steht. Das egalitäre Selbstverständnis der Gemeinden, wonach der Pfarrperson nicht mehr (Handlungs-)Macht und (Gestaltungs-)Raum zukommt als anderen, wird an vielen Stellen durch die Interaktionspraxis innerhalb der untersuchten Gemeinden unterlaufen.3

Dementsprechend sind, so eine der Empfehlungen der Wissenschaftler, sowohl in der Ausbildung als auch im Verlauf des Berufslebens von Pfarrern neben „umfangreichen Modulen zu den Themen Sexualität, Macht und Geschlecht“ zudem „systematische Reflexionen ihrer Berufsrolle, (theologischen) Deutungs- und Pastoralmacht sowie der Gestaltung von Beziehungen zu Gemeindemitgliedern“ notwendig.4

Im Folgenden werde ich fünf Aspekte der von der Studie gebotenen Problembeschreibung exemplarisch aufgreifen und mit den Zeugnissen Bonhoeffers aus der Zeit des Predigerseminars Finkenwalde von 1935 bis 1937 ins Gespräch bringen.5 Angesichts der sich erst in unserer Gegenwart vollziehenden Enttabuisierung des Themas ist es nicht zielführend, nach sexuellem Missbrauch als Gegenstand der Ausführungen eines Theologen der 1930er Jahre zu fragen. Jedoch zeichnen sich die überlieferten Texte durch ein nachhaltiges Bewusstsein sowohl für die religionssoziologische Bedeutung des Pfarrberufs wie für die mit ihm verbundenen berufsethischen Herausforderungen aus. Daher sollen Bonhoeffers Texte eben auf ihre „systematische[n] Reflexionen“ der „Berufsrolle, (theologischen) Deutungs- und Pastoralmacht“ von Pfarrern „sowie der Gestaltung von Beziehungen zu Gemeindemitgliedern“ hin gelesen werden. Dabei ist freilich in Rechnung zu stellen, dass Bonhoeffer selbst noch nicht über den Begriff der „Pastoralmacht“ verfügte, wohl aber plausibel gemacht werden kann, dass er um Aspekte des mit diesem bezeichneten Phänomen wusste.

 

Spiritualität und Professionalität

Sowohl Bobert-Stützel als auch Zimmerling haben auf die zentrale Bedeutung der Spiritualität für die Praktische Theologie Bonhoeffers wie die Finkenwalder Pfarrerausbildung hingewiesen.6 Wenn die Erkenntnisse zum Missbrauch in der evangelischen Kirche heute neue Anfragen und Herausforderungen an die berufliche – und berufsethisch fundierte – Professionalität im Pfarramt stellen, wird nicht unberücksichtigt bleiben dürfen, dass für Bonhoeffer ein konstitutiver Bezug zwischen Spiritualität und dem bestand, was wir heute als berufliche Professionalität bezeichnen. Dass im Predigerseminar „der Kandidat zum letzten Mal ein halbes Jahr Stille [findet], um sich auf das Amt [vor]zubereiten“, bildete kein Adiaphoron der Finkenwalder Ausbildung; vielmehr gehörte die Pflege der eigenen Spiritualität zu ihrem programmatischen Kern: In diese Zeit der Stille kommt der Kandidat nämlich mit den ersten Erfahrungen der praktischen Arbeit und wird diese in Gemeinschaft mit den Lehrern und Brüdern des Seminars erneut durchdenken und prüfen. Der Kandidat wird im Predigerseminar in einen durch Morgen- und Abendandacht, durch feste Meditationszeit streng geordneten Tageslauf hineingestellt. Er soll die Hilfe solcher Ordnung für die rechte Ausrichtung seiner Arbeit und für sein persönliches Leben erfahren. (XIV/152)

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass Bonhoeffer auch in den Vorlesungen zu einzelnen praktisch-theologischen Teildisziplinen immer wieder auf die spirituellen Voraussetzungen der unterschiedlichen Formen pastoralen Handelns bezugnimmt. Diese erscheinen gerade vor dem Befund der ForuM-Studie bedenkenswert, weil Pfarrer als „Repräsentant:innen der Glaubensinstitution und seelsorgliche Begleitende […] eine besondere spirituelle Rolle [haben], die ihnen Macht gegenüber anderen Gläubigen verschafft“; insofern „Pastoralität […] als Autoritäts- und Machtinszenierung dienen“ kann, besteht ein „Machtgefälle“, das „zumindest potenziell ausgenutzt werden [kann], um sexualisierte Gewalt auszuüben“ (763).

In seiner „Anleitung zur täglichen Meditation“ beantwortet Bonhoeffer die Frage „Warum meditiere ich?“ (XIV/945) zum einen mit dem Christsein des Kandidaten, zum anderen – und dies ist hier entscheidend – folgendermaßen: „Weil ich Prediger des Wortes bin. Ich kann die Schrift nicht andern auslegen, wenn ich sie nicht täglich zu mir selbst reden lasse. Ich werde das Wort in meinem Amt mißbrauchen, wenn ich nicht anhalte, es betend zu meditieren.“ (XIV/946) „Nirgends kommt es“ aber für Bonhoeffer „so darauf an, ob er [der Pfarrer; Anm. d. Verf.] selbst im Glauben steht“, wie in der Seelsorge: Das „Gemeindeglied muß spüren und glauben, daß der Pfarrer in dieser Wirklichkeit lebt, und dem Pfarrer muß der Mund überfließen von dem, des das Herz voll ist“ (XIV/571f). Dabei betont Bonhoeffer, dass jeder Pfarrer selbst „der Seelsorge um der Verantwortung seines Amtes willen“ bedarf (XIV/587). Dies begründet Bonhoeffer u.a. in markanter Weise folgendermaßen: Ein guter Theologe ist theologisch niemals zu fangen, er ist in allem, was er sagt, gerecht. Und selbst diese Erkenntnis kann der Theologe noch ohne Buße aussprechen.

Wer sich einmal darauf eingelassen hat, sich mithilfe der Theologie selbst zu rechtfertigen, der ist in den Fingern des Teufels, und kommt nicht mehr heraus, solange er Theologe ist! Sei ein guter Theologe, aber halte dir die Theologie drei Schritt vom Leibe, sonst wird sie dir lebensgefährlich. Wer in dieser Not ist, dem ist nicht mehr mit theologischen Gründen zu helfen, sondern durch den Ruf zum Gebet, zur Beichte, zum Gehorsam, als Gesetz. (XIV/588)7

Von Bonhoeffer ausgehend lässt sich also durchaus fragen, in welchem Maße der Missbrauch von theologischer und pastoraler Macht auch im Zusammenhang mit einer fehlgeleiteten Spiritualität steht. Es sei an dieser Stelle jedoch davon abgesehen, dieser Frage weiter nachzugehen – insbesondere, da dies die verheerende Gefahr bergen würde, durch die Fokussierung auf Fragen der Spiritualität die frappierenden strukturellen Missstände zu marginalisieren, die sexuellen Missbrauch in der Kirche erst möglich machten.

 

Positive Bestimmung kirchlicher Hierarchien

Das vielleicht umfassendste strukturelle Problem im Umgang mit Missbrauch in der evangelischen Kirche identifiziert die ForuM-Studie in der Leugnung empirisch nachweisbarer Hierarchien in den evangelischen Landeskirchen und ihren Gemeinden. So sei in der „Debatte um sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche […] ein immer wieder zu hörendes Argument der Verweis auf eine angebliche Hierarchielosigkeit oder besonders flache Hierarchien in den protestantischen Kirchen“ gewesen, „weshalb sexualisierte Gewalt kein Problem der evangelischen Kirche darstelle“ (765). Dabei bildet jedoch „das Verschwimmen von Grenzen oder anders formuliert: eine spezifische Form der Entgrenzung“ die „Kehrseite des Ausblendens oder der Leugnung von Hierarchie“ (771). In diesem Sinne identifiziert Rainer Anselm „Asymmetrien und Machtverhältnisse[] in der Kirche“ als eine „unerledigte[] Frage“ bzw. – noch pointierter – als „unerledigte[s] Machtproblem“ der evangelischen Kirche8:

Von der berühmten Formel des Augsburger Bekenntnisses, das geistliche Regiment in der Kirche erfolge „sine vi, sed verbo“, […] spannt sich ein weiter Bogen bis hin zu den Formeln der Dienstgemeinschaft. Aus dieser Negation der Macht, die mit dem Recht und dem Staat verbunden wird, lassen sich jedoch keine Anhaltspunkte gewinnen für die positive Bestimmung von Hierarchien und Asymmetrien, ohne die eine Organisation ebenso wenig auskommen kann wie eine Institution oder eine Bewegung.9

Wer nach einem theologischen Entwurf sucht, der aus evangelischer Perspektive eine „positive Bestimmung von Hierarchien und Asymmetrien“ leistet, mag in dem Buch „Nachfolge“ fündig werden, welches Bonhoeffer vor dem Hintergrund seiner Finkenwalder Jahre verfasste.10 Dabei geht Bonhoeffer vom Verständnis der „sichtbare[n] Gemeinde“ (IV/241) als Leib Christi aus. Dieser ist leiblich sichtbar in der „Predigt des Wortes“ (IV/242) sowie in „Taufe und Abendmahl“ (IV/244) – „in der um Wort und Sakrament versammelten Gemeinde“ (IV/245). Insofern die dergestalt verstandene „Gemeinde Jesu Christi in der Welt einen Raum der Verkündigung beansprucht“, ist sie „ein gegliedertes Ganzes. Der Leib Christi als Gemeinde schließt Gliederung und Ordnung der Gemeinde ein. Diese ist mit dem Leib mitgesetzt.“ (IV/245)11

Dabei betont Bonhoeffer sowohl die Gleichursprünglichkeit von Gemeinde und Amt als auch den Dienstcharakter von Ordnung und Ämtern: jene „steht […] im Dienst, nicht in der Herrschaft“, diese „dienen der Gemeinde, sie haben ihr geistliches Recht allein in diesem Dienst“ (IV/246). Dabei ist kritisch zu fragen, inwieweit die Deklamation des Dienstcharakters von Ordnung und Ämtern tatsächlich zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit Pastoralmacht – oder nicht doch wieder zu ihrer Verklärung – beiträgt.

 

Hierarchische Stilisierung des Pfarramts

Und so sollten Bonhoeffers amtstheologische Überlegungen auch nicht idealisiert werden. Zwar wird man anerkennen können, dass er Hierarchien in der Kirche nicht abblendete, sondern explizit thematisierte. Jedoch ist hiermit die Rückfrage zu verbinden, inwiefern solcherart Affirmationen des hierarchischen Moments nicht auch zu den uns heute problematischen Strukturen beigetragen haben. Konkret: In welchem Maße stehen bereits hinter den Formulierungen der „Nachfolge“ Gedankengänge, wie Bonhoeffer sie später auf den letzten Seiten seines „Ethik“-Fragments explizit macht?

Diese finden sich unter der Überschrift „Das Gebot Gottes in der Kirche“ (VI/398) und sind Teil des Kapitels „Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate“ (VI/392-412). Unter „Mandat“ versteht Bonhoeffer dabei „den konkreten in der Christusoffenbarung begründeten und durch die Schrift bezeugten göttlichen Auftrag, die Ermächtigung und Legitimierung zur Ausrichtung eines bestimmten göttlichen Gebotes, die Verleihung göttlicher Autorität an eine irdische Instanz“ (VI/392f). Für die Mandate – in Kirche, Ehe und Familie, Kultur und Obrigkeit – gilt, dass der „Träger des Mandats […] in Stellvertretung, als Platzhalter des Auftraggebers“ – also Gottes – handelt (VI/393). Diese Beauftragung stellt sich für Bonhoeffer dergestalt dar, dass die Mandate „von oben her in die Welt hineingesenkt [sind] als Gliederungen, – ‚Ordnungen‘ –, der Christuswirklichkeit, das heißt der Wirklichkeit der Liebe Gottes zur Welt und zu den Menschen, die in Jesus Christus offenbart ist“ (VI/394). Hieraus folgt, dass sich die Bereiche der Mandate nach einem „unaufhebbare[n] Oben und Unten […] kraft göttlicher Ermächtigung“ organisieren (VI/394).12

Mit Blick darauf, wie Bonhoeffer das Predigtamt beschreibt, wird man aber nicht umhinkommen, zumindest Spannungen zu seiner früheren Absage an Herrschaftsfreiheit wie zu seinem Bekenntnis zum Dienstcharakter des Amtes zu erkennen. Dessen christologische Begründung wird nun in zugespitzter Weise gegen eine Herleitung aus der Gemeinde abgesichert: „Dieses Amt ist unmittelbar von Jesus Christus gesetzt, es empfängt seine Legitimation nicht durch den Willen der Gemeinde, sondern durch den Willen Jesu Christi. Es ist in der Gemeinde, nicht durch die Gemeinde gesetzt.“ (VI/400)

An die Stelle der Funktionsbeschreibung als Diener der Gemeinde tritt nun ein Rollenbild, das von einer Überlegenheit gegenüber der Gemeinde geprägt ist: Der Pfarrer „ist ermächtigt zur Lehre, zur Ermahnung und Tröstung, Sünde zu vergeben, aber auch Sünde zu behalten. Er ist zugleich der Hirte, der Pastor, der Gemeinde.“ (VI/400) Indem so der „Träger des Predigtamtes mit seiner Verkündigung“ explizit an „der Stelle Gottes und Jesu Christi […] vor der Gemeinde“ steht, profiliert Bonhoeffer den Pfarrer zunehmend im Kontrast zur Gemeinde: er ist nicht mehr ihr Exponent, sondern „der Exponent Gottes gegenüber der Gemeinde“ (VI/400).

Mit diesen veränderten Rollenzuschreibungen an den Pfarrer korreliert eine veränderte Erwartungshaltung gegenüber der „unter der Verkündigung des Wortes Gottes erwachende[n] Gemeinde“: Die „Echtheit ihres Glaubens“ bewährt sich darin, daß sie das Predigtamt in seiner einzigartigen Herrlichkeit ehrt und ihm mit allen Kräften dient, nicht aber darin, daß sie unter Berufung auf ihren Glauben und auf das allgemeine Priestertum aller Gläubigen, das Amt gering achtet, hindert oder gar in Abhängigkeit von sich zu bringen versucht. (VI/401)

Mithin scheint hinter Bonhoeffers Ausführungen ein latentes Misstrauen gegenüber der Gemeinde zu stehen, der gegenüber es das Amt „vor Mißbrauch und Gefahr“ durch „Unterminierung und Sprengung der göttlichen Ordnung und ein verkehrtes Obensein wollen der Gemeinde“ zu bewahren gilt (VI/401). Gerade bei diesen Formulierungen darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Bonhoeffer sie unter den Bedingungen einer für die (Bekennende) Kirche wie für ihn selbst existenziellen Verfolgungssituation wählte. Und nur unter Berücksichtigung dieses Kontextes können sie heute gedeutet werden – und müssen sie gedeutet werden. Genau in einer solchen kritischen Auseinandersetzung mit den amtstheologischen Überlegungen der „Ethik“ ist nämlich ein wesentlicher Impuls für eine kirchengeschichtlich informierte Praktische Theologie der Gegenwart zu sehen. – Warum?

 

Eine historische Lücke in der ForuM-Studie

Interessanterweise enthält der Überblick, den die ForuM-Studie zu den „historischen Wurzeln der ambivalenten Haltung zu Hierarchie und Macht“ (766) bietet, eine frappierende Lücke: Nachdem halbwegs ausführlich die – von einem „hohe[n] Sozialstatus“ und „rechtlichen Privilegien“ (767) geprägte – Stellung des Pfarrers unter dem Vorzeichen der sich „bis 1918 im landesherrlichen Kirchenregiment“ institutionalisierenden „enge[n] Verbindung von Thron und Altar“ (766) skizziert worden ist, wird die Darstellung scheinbar bruchlos mit dem Jahr 1945 fortgesetzt: „Zuletzt waren es dann die unmittelbaren Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem [sic!] beide Kirchen als Ordnungsfaktoren erneut eine besondere Bedeutung erlangten und das Sozialprestige von protestantischen Geistlichen entsprechend stieg […]. Erst mit den Säkularisierungsschüben der Nachkriegsjahrzehnte veränderte sich diese Konstellation. Das Prestige dieser Berufsgruppe aber, und die Macht, die man ihr zuschrieb, blieb zu großen Teilen bestehen.“ (767)

Damit wird eine Zeitspanne ausgeklammert, die sowohl die Weimarer Republik als auch das Dritte Reich und mit diesem den Kirchenkampf umfasst. So stellt sich auch erst gar nicht die Frage, inwiefern womöglich auch die Erfahrungen der Bekennenden Kirche, an deren Tradition die EKD anknüpfte, zum diagnostizierten „Sozialprestige von protestantischen Geistlichen“ in der Nachkriegszeit beitrugen. Anhalt dazu, diesen Einfluss nicht zu unterschätzen, geben die pastoraltheologischen Überlegungen Bonhoeffers. Diese kritisch zu befragen, kann daher womöglich zur Erhellung ideengeschichtlicher Hintergründe der gegenwärtig diskutierten Problemlage beitragen.

 

Poimenische Relativierung des Pfarrers als Fürsorger

Betroffene betonten gegenüber den Wissenschaftlern „die herausgehobene, emotional und moralisch aufgeladene Stellung von Pfarrer:innen, die es erschwere, sexualisierte Gewalt als solche wahrzunehmen und zu benennen“ (763). Deren Ursache sieht die ForuM-Studie in „theologische[n] Aufladungen und einem Religionssystem, in dem der moralische Anspruch auf Fürsorge für andere eine besondere Rolle einnimmt“ (762). Kristallisationspunkt dieser „besondere[n] Rolle“ des Pfarrers ist dabei die Seelsorge. Von daher mag man mit Interesse wahrnehmen, dass Bonhoeffer die Rolle des Pfarrers als Seelsorger in doppelter Weise relativiert.13

Zum einen ist für Bonhoeffer zwar der „Auftrag zur Seelsorge […] dem Pfarrer im besonderen gegeben als dem, der verkündigt und besonders berufen ist, die Not der Verkündigung zu bannen“ (XIV/558). Der Auftrag des Pfarrers ist also auf das Predigtamt bezogen: Weil dieses „immer bei den Menschen auch die Verstockung wirkt, darum bedarf es einer besonderen Diakonie, um die Verstockung soweit das Gott will, zu brechen; diese Diakonie ist das Wesen der Seelsorge im engeren Sinne“ (XIV/556f). Dabei ist die Seelsorge für Bonhoeffer nicht einfach Fortsetzung der Verkündigung. Das ist insofern wichtig, als explizit einem Verhältnis zwischen Pfarrer und Seelsorgesuchendem gewehrt wird, in dem erstem die aktive und zweitem die passive Rolle zukommt. Vielmehr wird das von Bonhoeffer später selbst etablierte Oben-Unten-Schema durchbrochen: Die Seelsorge besteht nicht mehr im Akt der Verkündigung, sondern sie ist die dienende Liebe, die zum Hören der Verkündigung führen will. Sie geschieht jetzt nicht mehr primär von oben nach unten, sondern umgekehrt. Jetzt nicht mehr durch verkündigen und hören, sondern durch Hören auf seiten des Pfarrers, und durch Sprechen auf seiten des Gemeindeglieds. Sie ist jetzt, als Diakonie, konstituiert durch stumme, helfende Liebe. Das Schweigen ist hier geboten. (XIV/557)

Zum anderen aber bedeutet für Bonhoeffer, dass die Seelsorge dem Pfarrer „im besonderen gegeben“ ist, nicht dessen privilegierte Stellung – „besonders“ meint hier vielmehr „gesondert“. Indem Bonhoeffer nämlich Seelsorge als „Diakonie“ versteht, ist sie „der Gemeinde anzuvertrauen“: Gegeben ist sie ihr „als Gabe und Auftrag des Allgemeinen Priestertums“, und daher dem Pfarrer auch nur, „sofern er an diesem teilhat“ (XIV/558f). Eine besondere Befähigung der Gemeinde zur Seelsorge mag zudem darin gesehen werden, dass diese in eigener Weise über die „Kenntnis der vollen konkreten Lage“ – also die Lebenssituation der Menschen – verfügt, die für Bonhoeffer neben der Kenntnis der „Fülle des Reichtums der biblischen Tröstungen“ Voraussetzung der Seelsorge ist (XIV/559).

 

Pastorale Raumsensibilität

Es ist aber nicht nur die theologische Begründung pastoraler Handlungsfelder wie der Seelsorge, sondern nicht minder die Gestaltung konkreter Situationen in der Praxis, durch die sich missbräuchliche Machtverhältnisse etablieren können. Not tut hier eine Orientierung der Pfarrperson an der Würde ihres Gegenübers – ob in der Seelsorge oder etwa der Jugendarbeit. Sich hieran auszurichten erfordert u.a. eine Sensibilität für die Räume, in denen pastorales Handeln stattfindet. Eine selbst als Heranwachsender von Missbrauch betroffene Pfarrperson erinnert sich im Interview mit den Autoren der ForuM-Studie an die aus dem eigenen Erleben gezogenen Konsequenzen: „Wenn ich als Pastor solche [Freizeitangebote] gemacht hab […] bin ich dabei gewesen, meine Frau, von Anfang bis zum Ende. […] Und ich hatte immer ältere Jugendliche dabei, die mit geguckt haben und auf die mich auch, hoffentlich, immer verlassen konnte. Ich bin auch nie mit einem Mädchen oder einem Jungen alleine in einem Raum gewesen. Es war immer eine offene Tür, ich habe immer Einzelne gebeten: ‚Bleib doch noch mal eben da‘, wenn es was zu zweit zu besprechen gab. Das hat mir ja nie jemand gesagt, dass ich das so machen soll. Ich hatte immer das Gefühl: ‚Du darfst nicht mit denen alleine sein, du bist so viel Autorität, und du bist ja auch körperlich so präsent, du darfst die nicht in die Verlegenheit bringen, wie du selbst warst, dass du auf einmal hilflos vor einem Erwachsenen stehst und auch verbal denen ja auch ausgeliefert bist‘.“ (763f)

Eine entsprechende Raumsensibilität ist im Zuge der pastoralen Ausbildung zu schulen. Dass Dietrich Bonhoeffer hieran gelegen war, bezeugen Ausführungen zum seelsorgerlichen Hausbesuch.14 Dessen theologisches Proprium erinnert bei Bonhoeffer zunächst einmal an die rigide Grundstruktur des Oben und Unten in den amtstheologischen Passagen der „Ethik“: Der Hausbesuch sei für „den evangelischen Pfarrer“ nämlich „die [Bezeugung] dessen, daß Christus zu den Menschen in ihr Haus kommen, in ihrem Haus geehrt sein will, dort Gehorsam verlangt: der alltägliche Mensch soll vor die Entscheidung für Christus gestellt werden“ (XIV/572).

Auch wenn der Pfarrer hier bereits als „Exponent Gottes gegenüber der Gemeinde“ (VI/400) modelliert wird: Ehre und Gehorsam gebühren jedoch Christus allein und nicht dem Pfarrer. Dies scheint bereits Bonhoeffer zur Klarstellung bedurft zu haben: „Eintritt in ein fremdes Haus bedeutet für den Pfarrer: hier ist der andere ganz bei sich selbst, in 100 Dingen widergespiegelt, Frau, Kindern, Großeltern. Hier ist der andere Herr, und hier ist er ganz er selbst.“ (XIV/572f) Beim Betreten des Hauses habe der Pfarrer „diese Lage klar [zu] erfassen“: nicht er ist „Herr des Hauses, sondern der andere! Dies Recht wird nicht jedem eingeräumt, das Haus zu betreten!“ Dass dem Pfarrer dieses Recht eingeräumt wird, stellt für Bonhoeffer ein „Geschenk“ dar, das auf Seiten des Pfarrers fordert: „Respekt, Bescheidenheit!“ Pfarrer kämen in das Haus „nicht als freche Beobachter, Inspektoren, solche, die Gelegenheit haben, in den Geheimnissen des andern herumzuschnüffeln, sondern als solche, denen man das Vertrauen entgegenbringt, das Recht des Gastes recht zu brauchen“. Wenn Bonhoeffer darauf hinweist, dass aus „der Kenntnis des Hauses mehr Angriffsflächen“ entstünden, steht ihm klar die Vulnerabilität des Seelsorgesuchenden vor Augen. Aus ihr folgt für ihn: „größte Zurückhaltung!“ (XIV/573)

Dem Missbrauch von in Seelsorgesituationen präsenter Pastoralmacht stellt er entgegen, was noch heute im unmittelbaren Sinne als Maßstab gelten sollte und sich in vielfältiger Weise übertragen lässt: „Das Haus des Bruders ist meine Grenze auch als Pfarrer! Jedes Haus!“ (XIV/573) 

 

Anmerkungen

1 Sabine Bobert-Stützel, Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie, Gütersloh 1995.

2 Peter Zimmerling, Bonhoeffer als Praktischer Theologe, Göttingen 2006, 13.

3 Martin Wazlawik e.a., Zusammenfassung der Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Empfehlungen für Prävention, Intervention und Aufarbeitung, o.O. o.D., 6.

4 Ebd. 31. Aus Gründen der Lesefreundlichkeit wird i.d.R. das generische Maskulinum verwendet und dabei vorausgesetzt, dass stets Menschen jeglichen Geschlechts bzw. jeglicher sexuellen Identität gemeint sind.

5 Die einfachen arabischen Seitenangaben im Fließtext beziehen sich im Weiteren auf: Forschungsverbund ForuM (Hg.), Abschlussbericht. Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland, Hannover 2024; lateinische Band- und arabische Seitenangaben auf: Dietrich Bonhoeffer, Dietrich Bonhoeffer Werke, hg. v. Eberhard Bethge e.a., Gütersloh 1986ff.

6 Vgl. Bobert-Stützel (Anm. 1), 111-135; Zimmerling (Anm. 2), 57-76.

7 Hervorhebung im Original.

8 Reiner Anselm, Toxische Leitvorstellungen, in: Johann Hinrich Claussen (Hg.), Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche. Wie Theologie und Spiritualität sich verändern müssen, Freiburg i.Br. 2022, 57-74, hier: 62.

9 Ebd., 63.

10 Zum Folgenden vgl. Zimmerling (Anm. 2), 199-202.

11 Hervorhebung im Original.

12 Zur präzisierenden und deren Schärfe teils auch relativierenden Näherbestimmung dieser Ordnungsstruktur vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik (= Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 6), Gütersloh 1992, 395.

13 Zum Folgenden vgl. Zimmerling (Anm. 2), 157-159.

14 Zum Folgenden vgl. ebd., 165.

 

Über die Autorin / den Autor:

Dipl.-Theol. Tilman Asmus Fischer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Theol. Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2024

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