Carl Heinz Ratschow, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 25. Mal jährt, hat in seiner langen Lehrtätigkeit in Münster und in Marburg mehr als eine Generation an Theologinnen und Theologen geprägt. Als theologischer Lehrer hat er seine Studierenden nicht nur durch sein enzyklopädisches Wissen und Denken beeindruckt, sondern vor allem durch seine Art, Theologie zu treiben, sein Gegenüber ins Gespräch und ins eigene, selbständige Denken zu bringen. Karl-Heinz Lerch erinnert an Ratschows theologisches Wirken, insbesondere im Blick auf dessen Ekklesiologie.
Zum Gedenken an Professor Dr. D.D. Carl Heinz Ratschow (22.7.1911 – 10.11.1999)
Carl Heinz Ratschow, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 25. Mal jährt, hat in seiner langen Lehrtätigkeit in Münster und in Marburg mehr als eine Generation an Theologinnen und Theologen geprägt. Durch seine Art zu fragen, zu hinterfragen und nachzufragen, sich nie mit schnellen, vorläufigen Antworten zufrieden zu geben, hat er seinen Gesprächspartnern eine konsequente, persönliche und intellektuelle Auseinandersetzung mit dem „denkenden Glauben“ abverlangt, die nicht nur Leidenschaft für die Theologie wecken, sondern ein eigenes theologisches Denken initiieren und erschließen konnte. Wie viele seiner ehemaligen Studierenden bin ich ihm als Lehrer, als Gesprächspartner und Wegbegleiter von Herzen dankbar. Mit meinem Beitrag möchte ich anlässlich seines 25. Todestages an sein theologisches Wirken erinnern.
„Carl Heinz Ratschow zu gedenken bedeutet, sich mit seinem Denken auseinanderzusetzen“ – mit diesen treffenden Worten eröffnete Christoph Schwöbel seine Rede zur Gedenkfeier der Theologischen Fakultät der Universität Marburg am 15. November 2000 zum Tod von Carl Heinz Ratschow.1 Darum möchte ich in der aktuellen Debatte um die Zukunft der Kirche den ekklesiologischen Beitrag von Carl Heinz Ratschow in Erinnerung rufen und in den Diskurs bringen. Vor einem halben Jahrhundert hat er ihn verfasst und er ist von beeindruckender Aktualität.2
Verunsicherte Kirche
Ausgangspunkt von Ratschows ekklesiologischen Überlegungen ist seine Diagnose, dass die „Kirchen gegenwärtig [= 1974] in ihrem Selbstverständnis verunsichert“3 sind. Diesem Urteil muss man nach einem halben Jahrhundert nicht nur zustimmen, sondern darüber hinaus in Anbetracht der jüngsten „Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“ von 2023 hinzufügen, dass die evangelischen Kirchen durch die konsequente Entkirchlichung und Säkularisierung unserer Gesellschaft nicht nur in ihrer Bedeutung und ihrem Selbstverständnis äußerlich und innerlich verunsichert sind, sondern in ihrer volkskirchlichen Gestalt und Verfasstheit grundlegend in Frage gestellt sind. Doch nicht nur die Kirchen sind tiefgreifend erschüttert und in Frage gestellt, sondern auch die Theologie, die in guter liberaler Tradition seit Schleiermacher versucht hat, Religion und damit auch gelebte Religion in ihrer kirchlich verfassten Gestalt in einem individuellen religiösen Bedürfnis zu begründen, wird von den Ergebnissen der Untersuchung widerlegt, deren Befund bestätigt, dass in unserer postmodernen, religionslosen Gesellschaft das „Bedürfnis nach Religion“ dramatisch schwindet.4
Die steigenden Zahlen der Kirchenaustritte und die sogenannten kirchlichen „Reformprojekte“, die durch ihren Fokus auf „Strukturreformen“ das eigentliche Dilemma nicht nur ignorieren, sondern verstärken, möchte ich an dieser Stelle nicht thematisieren. Stattdessen möchte ich mit Carl Heinz Ratschow einen Perspektivwechsel in der Ekklesiologie erschließen, der Kirche nicht länger und ausschließlich „funktional“ aus ihrem gesellschaftlichen und kirchlichen „Zweck“ heraus definiert, sondern aus ihrem Ursprung und ihrer Herkunft versteht, worin einzig ihre Zukunft begründet ist.
Der Grund der Kirche
Ratschow fragt „nicht nach dem, was Kirche funktional sei … vielmehr, was allen kirchlichen Funktionen als Gottesgeschehen und Geisterfüllung zu Grunde liegt“.5 Denn Kirche kann sich nicht durch sich selbst und auch nicht durch ihre gesellschaftlichen Funktionen begründen, die sie übernimmt, sondern sie ist gegründet in dem Heilswirken Gottes in Jesu Wort, Werk und Person, das durch das Wirken des Heiligen Geistes erinnert und vergegenwärtigt wird in der Verkündigung des Zeugnisses.6 Kirche geht auf ein Heilsereignis zurück, das ihr vorausliegt und auf das sie sich zurückbezieht, in dem Gottes Gegenwart erfüllt ist und das zugleich als Verheißung auf die Vollendung des Reiches Gottes vorausweist. Als Träger der Verheißung ist Kirche auch „funktional deutbar“7, aber nur von der Erfüllung der Gottesgegenwart her, die sich in der Kirche als Geistgeschehen realisiert und ihr Gestalt verleiht.
Durch das Wirken des Heiligen Geistes ereignet sich Kirche als Zeugnis des göttlichen Heilswirkens in der Verkündigung, in Taufe und Abendmahl, in der tätigen Agape als Diakonie, sowie im Dasein und Leben der Christen. Wir können „‚Martyria‘ als das Geschehen bezeichnen, durch das Gott der Heilige Geist in unsere Welt eintritt, wo immer das ‚gefällt‘ (CA V), und daß dieses Eintreten des Geistes das Grundgeschehen von Kirche ist“.8 Dieses Geschehen und Wirken des Heiligen Geistes als Kirche durch das Zeugnis ist kein individueller Akt, der sich innerlich oder privatissime vollzieht, sondern er ereignet sich als Gemeinde, d.h. als soziale, kollektive und öffentliche Wirklichkeit, m.a.W. als konkrete, sichtbare Gestalt von Kirche als „Körperschaft“9.
Leibhafte Kirche
„Gottes Wege sind leibhaft: Die Leibhaftigkeit des Geistes sind die Kirchentümer [= die konfessionellen Kirchen] Das heißt es, wenn wir sagten, daß der Geist Gottes im öffentlichen Geschehen der Kirchentümer ‚kondeszendiert‘. Die christlichen Kirchentümer sind die Leibhaftigkeit, die die Bekenntnisse als ‚Ein-Verständnisse‘ des Glaubens aus dem Geist gebrauchen.“10 Mit ihren Bekenntnissen bzw. „Ein-Verständnissen“ antworten die Kirchen auf die unbedingte Anforderung des Wortes Gottes und nehmen dadurch in der Konsequenz die konkrete Gestalt einer Körperschaft an, die diesem Wort und Geist Gottes dienstbar ist. Der Geist Gottes ist und bleibt als der Grund der Kirche ihre innere Einheit, an der sie teilhaben und die ihnen ihre Freiheit in den unterschiedlichen Gestalten verleiht, aber der sie als Kriterium ihrer Wahrheit verpflichtet bleiben.
So wie der Geist Gottes die „Martyria Jesu“ und die „Martyria von Jesus“ durch und in den Kirchen bewirkt, begründet und begrenzt er damit zugleich ihre Wahrheit, die allein die „Wahrheit von Jesus von Nazareth“11 ist und auf die hin sich alle Kirchen selbst überschreiten müssen, damit sie sich nicht selbst absolut setzen und damit ihre „Wahrheit“ verfehlen. „Jesus Christus ist die Einheit dieser Kirchentümer als der eine Grund, auf den sich alles kirchentümliche Dasein bezieht und den es in allen Unterschieden zu bezeugen gilt – in Verkündigung und Tat. Jesus Christus ist auch das eine Verheißungsziel, auf das die Kirchentümer zugehen.“12 Darum überschreiten oder transzendieren sich alle Kirchen auf die sie begründende und erfüllende Einheit des „Leibes Christi“ oder des „regnum Christi“13 hin, das ihr Wahrheitskriterium darstellt.
Bleibender innerer Widerspruch
Dieses Geschehen des regnum Christi in den Kirchen ist nun einerseits ausschließlich Gottes Gnadenwirken, sola gratia. Andererseits stehen die Kirchen jedoch in ihrer körperschaftlichen Gestalt unter dem „Grundgesetz des Lebens, das ist die Kategorie der Wechselseitigkeit“14 und darum in einem bleibenden inneren Widerspruch zwischen der bedingungslosen Liebe als Grundgeschehen, das sie verkörpern, und den rechtlich verfassten Bedingungen ihres konkreten Lebens als Amtskirche, wie der Überwindung aller Grenzen durch das regnum Christi und der Notwendigkeit, kirchliches Leben durch Grenzen und Bestimmungen zu ordnen. „Transzendierung der notwendigen Wechselwirkungen und Transzendierung der notwendigen Schranken ist das Leben der Kirchen, in welchem sie sich der Gnade und Universalität des Handelns Jesu übergeben.“15
Alle Kirchen stehen in dieser Widersprüchlichkeit zwischen ihrem Gegründet- und Ausgerichtetsein auf das regnum Christi und dem Verhaftetbleiben ihrer Rechts- und Ordnungsgestalt als konkrete Körperschaft. Darin bleiben sie zugleich auf ihre Selbst-Transzendierung als Zeugnisgestalt des in Wort, Werk und Person Jesu Christi geschehenen und erfüllten Heilsgeschehens bezogen und ausgerichtet, indem sie in Gestalt des paulinischen Prinzips des „Leben als ob nicht“ (1. Kor. 7) darauf verweisen.
Durch das Wirken des Heiligen Geistes werden die Kirchen auf Jesu Wort, Werk und Person verwiesen und in dessen wirkmächtige Gegenwart gestellt, auf den hin sie sich selbst in ihrem Zeugnis transzendieren. In diesem Jesus wird Gott als „Vater-Gott gegenwärtig“16 und wirkungsvoll präsent als „heilvolle Gegenwart Gottes des Vaters“17. Dieser Gott, der die Geschicke und die Geschichte der Menschen durch seine Erlösung rettet, wird erkennbar als der Schöpfergott, der von Anfang an in seiner Vollmacht alles begründet hat und vollenden wird.
Kirchen und Religionen
„Wenn die Kirchentümer sich also auf die Einheit des regnum Christi transzendieren, so werden sie darin vor das kommende Reich des Vaters gestellt. Dies Reich des Vaters aber besteht in dem Erfüllungsgeschehen, das den ganzen Schöpfungskosmos auf den ‚neuen Himmel und die neue Erde‘ hin zu vollenden anhebt. Das Reich des Vaters ist Gottes vollendliches Handeln an seiner Schöpfung. In das regnum Christi gestellt wird die sogen. Welt in dieser Bestimmtheit sichtbar. Das Reich Gottes kommt auf den Kosmos zu.“18 Das Reich Gottes setzt sich in seiner kosmischen, in seiner geschichtlich-gesellschaftlichen und in seiner universalen Dimension und Bedeutsamkeit durch und vollendet Gottes Handeln an der Welt, am Menschen und unter den Religionen.
Bemerkenswert und wegweisend ist Ratschows Konsequenz für die Verhältnisbestimmung der Kirchen zu den Religionen, die in das universale Geschehen des Reiches Gottes einbegriffen und einbezogen sind: „Das Reich des Vaters hält sie alle in der Hand. Es geht Gott um ihrer aller Erlösung. Sein Heilswille leuchtet über ihnen allen. Dieser Gott aber läßt sein Heil – das ist unser Glaube – durch Israel, durch Jesus, durch die Kirche und ihre Zeugenschaft vermittelt sein … Das Wesen der christlichen Kirchen heißt von ihrem Ursprung her Mission. Die Bezeugung des Reiches Gottes von den Religionen der Welt ist daher in besonderer Weise Handeln der christlichen Kirchen, indem sie die Erfüllung dessen wahrmachen, was über den Religionen als Gottesbestimmung aufging.“19
Die Kirchen verweisen durch ihre Transzendierung, die der Geist wirkt und die in ihrem Zeugnis konkrete Gestalt annimmt, auf das eine regnum Christi und damit auf das Reich des Vaters, das mit Jesu Wort, Werk und Person in die Welt gekommen und erfüllt ist, um die Welt und die Menschen zu erlösen. Gottes Reich durchdringt den ganzen Kosmos in seiner Weite und Tiefe, sowie die ganze Geschichte und das Zusammenleben der Menschen in allen Gesellschaften und Religionen. Davon Zeugnis zu geben, entspricht dem Wesen der Kirche als Geschehen des Heiligen Geistes.
Kernaufgabe der Kirche
Die Kernaufgabe der Kirchen trägt „den Charakter der missionarischen Selbstentfremdung der Kirchentümer auf ‚Welt‘ hin. ‚Welt‘, das heißt hier der Kosmos in der Weite seiner naturhaften Erstreckung und in der Tiefe seiner geschichtlichen Verwandlung unter seiner Bestimmung zum ‚neuen Himmel und der neuen Erde‘, die als Nähe des Reiches Gottes auf sie zukommt.“20 Gegenüber der Welt und den Menschen ist die Kirche durch ihr Gegründetsein im Herkommen von dem regnum Christi und ihr Ausgerichtetsein auf dessen Vollendung gewiesen und aufgefordert, Zeugnis zu geben, indem sie das regnum Christi darstellt und vermittelt als Grund der Erfüllung und der Verheißung des Heilshandelns Gottes an der Welt und den Menschen. Dieses Zeugnis wird zur Wahrheitsfrage und zur Krisis, in die Kirche in ihrem Selbstverständnis und allem Handeln gestellt ist, weil sie nur in der Einheit, in der Teilhabe und dem Verwiesensein auf das Reich Gottes hin ihrem eigenen Herkommen und Ausgerichtetsein und damit ihrem Grund entspricht.
Zeugnis zu geben von der Erfüllung des Reiches Gottes und seiner Vollendung in der Welt und am Menschen, heißt für die Kirche, sich „missionarisch“ in die Welt hineinzustellen, um die Verheißung des neuen Himmels und der neuen Erde so darzustellen und zu vermitteln, dass ihre Erfüllung in dem Heilshandeln Gottes durch Jesu Wort, Werk und Person wahrnehmbar, wirksam, erfahrbar und erkennbar wird, und zugleich damit sich selbst in ihrer konkreten Gestalt auf dieses regnum Christi hin zu überschreiten bzw. sich darin „von sich selbst zu entfremden“ und sich als Institution in Frage zu stellen.
Das Zeugnis der Kirche in einer postreligiösen Welt
Wie kann dieses Zeugnis der Kirche als „missionarische Selbstentfremdung auf Welt hin“ nun aussehen, die unter die Bestimmung und in die Vollendung des Reiches Gottes gestellt ist, und konkrete Gestalt annehmen in einer postreligiösen, säkularen Gesellschaft, in der die Frage nach „einem neuen Himmel und einer neuen Erde“ und nach Gottes Heilshandeln zur „größten Nebensache der Welt“ geworden zu sein scheint, ja, in der es offensichtlich kein Bedürfnis mehr nach Religion zu geben scheint?
Wer bei Carl Heinz Ratschow studiert hat, wird sich daran erinnern, dass er schnelle, einfache Antworten nicht stehen ließ, sondern auf ihren theologischen Grund und ihre konkrete Konsequenz hin stets kritisch hinterfragte. Die Anstrengungen der evangelischen Kirchen, durch Strukturveränderungen und „Transformationsprozesse“ sich der veränderten gesellschaftlichen Situation anzupassen, würde er wohl nicht einmal kommentieren, sondern mit seiner schlichten Nachfrage: „Ja, und dann, was heißt das denn für das Woher und Woraufhin der Kirchen?“ ihrer Desillusionierung überführen, weil sie kein Zeugnis von der Erfüllung und Vollendung des Heilshandelns Gottes im regnum Christi geben, sondern eher von „Verlustängsten und -sorgen“, denen sie die Zukunft der Kirche verschrieben haben.
Es entspricht dem Wesen der Kirche, Zeugnis zu geben von dem Heilshandeln Gottes, das in Jesu Wort, Werk und Person erfüllt ist und damit auf die Vollendung des regnum Christi durch Gott zu verweisen. Die Aufgabe der Kirche ist demnach die Darstellung und Vermittlung des Reiches Gottes als Erfüllung und Verheißung. D.h. in ihrem Dasein, Handeln und Denken muss die Wirklichkeit dieses Reiches Gottes als Identifikation, Teilhabe und Selbst-Überschreitung bzw. -Transzendierung der Kirche sichtbar und wahrnehmbar, bedeutsam und wirksam, erfahrbar und erkennbar werden. In allem, was Kirche sagt und tut, muss durch ihr Zeugnis die Wirklichkeit des Reiches Gottes und ihre Verheißung erkennbar, präsent und wirksam werden.
Reform kirchlichen Selbstverständnisses
Wenn das Heilshandeln Gottes in Jesu Wort, Werk und Person geschehen und erfüllt ist, so dass alles unter dem Vorzeichen der Vollendung des Reiches Gottes steht, und wenn wir davon überzeugt sind und daran glauben, dann können wir eigentlich nicht anders, als das eine zu tun, was nottut: mit allem Denken und Handeln zu bekennen und zu bezeugen, dass wir in Gottes Heilshandeln hineingestellt sind und darum in Gegenwart und Zukunft uns nichts anderes entgegen kommt als die Vollendung von Gottes Reich. Wenn wir das ernst nehmen, für wirklich und wahr halten, dann wird dies unsere Haltung und unser Denken grundlegend verändern, dass in allem präsent, wahrnehmbar, wirksam, bedeutsam, erfahrbar und erkennbar wird, für wen und was wir als Kirche reden, handeln und stehen in der Welt und unter welchem Vorzeichen alle Zukunft steht: die Erfüllung vom Kommen des Reiches Gottes und der Verheißung von seiner Vollendung.
Ohne an dieser Stelle und in diesem Kontext angemessen auf die (Un-)Tiefen der kirchlichen Reformen eingehen zu können, so liegt doch offen zutage, dass die aktuellen „Transformationsprozesse“, die dem Bedeutungsverlust der institutionalisierten Kirche mit mehr Institutionalisierung entgegenzuwirken versuchen, die fortschreitende Säkularisierung unserer Gesellschaft und aller Lebenszusammenhänge nicht aufhalten, sondern verstärken und beschleunigen werden, weil sie selbstreferentiell bleiben und alle Energie in den Binnenstrukturen ihrer Selbstorganisation und Verwaltung binden. „Selbst-Transzendierung“ im Sinne von Ratschows Ekklesiologie könnte stattdessen bedeuten, nicht die eigene Gestalt als Institution in den Mittelpunkt aller Anstrengungen zu stellen, sondern einen Perspektivwechsel, ja eine „Umkehr“, zu vollziehen und alles Denken und Handeln danach auszurichten, dass es über sich selbst hinausweist auf das Kommen und die Vollendung des Reiches Gottes hin und davon Zeugnis gibt. Das hieße auch, die konkrete Gestalt von Kirche auf ihr Woher und Woraufhin kritisch zu hinterfragen, ob und wie sie ihrer Bestimmung und Ausrichtung durch das Reich Gottes entspricht und wie sie davon Zeugnis gibt in einer religionslosen Gesellschaft.
Denn zuerst und vor allem ist und bleibt Kirche ihrer Herkunft und ihrer Verheißung als Zeugnis von dem Kommen und der Vollendung des Reiches Gottes verpflichtet. Darin liegt das Kriterium ihrer Wahrheit begründet und darin erschließt sich ihre Wirksamkeit und Relevanz für die Gegenwart und Zukunft. Dieses „Zeugnis“ in den Mittelpunkt zu stellen, zum Erkennungsmerkmal zu machen und für die Menschen zu erschließen, ist erste und oberste Aufgabe von Kirche. Konsequenterweise würde das für Reformen der Institution bedeuten, über eine „Ent-Institutionalisierung“ und „Verschlankung“ von Organisation und Verwaltung zur Stärkung der Ressourcen für die praktischen kirchlichen Handlungsfelder nachzudenken, um dort wahrnehmbar, wirksam, relevant, erfahrbar und erkennbar Zeugnis zu geben für das Reich Gottes, was unserer eigentlichen Kernaufgabe als Kirche entspricht.
Anmerkungen
1 Christoph Schwöbel, Der angefochtene Glaube, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie. Sonderheft zum Gedenken an Carl Heinz Ratschow, 2001, 7-24; 7.
2 Carl Heinz Ratschow, Die Lehre von der Kirche, in: Kirche und Gemeinde. Präses D. Dr. Hans Thimme zum 65. Geburtstag, hrsg. von Werner Danielsmeyer und Carl Heinz Ratschow, Witten, 1974, 205-218; wieder abgedruckt in: Carl Heinz Ratschow, Von den Wandlungen Gottes. Beiträge zur Systematischen Theologie. Zum 75. Geburtstag hrsg. von Christel Keller-Wentorf und Martin Repp, Berlin/New York 1986, 244-258.
3 Ratschow, Von den Wandlungen Gottes, 244.
4 Detlef Pollack, Theologen auf dem Holzweg, in: FAZ 15.11.2023, 12.
5 Ratschow, a.a.O., 246.
6 A.a.O., 245.
7 A.a.O., 246.
8 A.a.O., 247.
9 A.a.O., 248.
10 Ebd.
11 Vgl. ders., a.a.O., 251.
12 A.a.O., 251.
13 Ebd.
14 A.a.O., 252.
15 A.a.O., 253.
16 A.a.O., 254.
17 Ebd.
18 Ebd.
19 A.a.O., 255f.
20 A.a.O., 258.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2024