Was können Theologie und Kirche zur Stärkung der Demokratie beitragen? Wie demokratieaffin sind sie tatsächlich? Beim Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrertag 2024 in Kaiserslautern zum Thema „Religion und Demokratie“ hat Gerald Kretzschmar den Hauptvortrag gehalten. Dabei konzentrierte er sich einerseits auf das Verhältnis von Religion und Demokratie allgemein, andererseits auf die Frage nach der Rolle und Bedeutung demokratischer Praxis in der Kirche selbst. Letzteres soll zu einem späteren Zeitpunkt Thema im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt sein. Hier geht es um die Rolle von Kirche und Religion in einer demokratisch geprägten Öffentlichkeit.

 

Demokratie bedarf eines hörenden Herzens […]. […] Meine heute zu vertretende These lautet, dass es insbesondere die Kirchen sind, die über Narrationen, über ein kognitives Reservoir verfügen, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann.“1 Diese These entfaltet der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch „Demokratie braucht Religion“. Nicht zuletzt diese Bestsellerpublikation machte die Frage nach dem Zusammenhang von Demokratie und Religion in den vergangenen beiden Jahren zu einem vielbesprochenen Thema – in Kirche und Wissenschaft und darüber hinaus. Insbesondere die hohe Wertschätzung, die Hartmut Rosa den Kirchen in Bezug auf Demokratieförderung zuweist, motiviert zu der kritischen Rückfrage an Theologie und Kirche, welcher Stellenwert dem Phänomen Demokratie hier tatsächlich zukommt. Was können Theologie und Kirche tatsächlich zur Stärkung der Demokratie beitragen? In einer Zeit, in der Rechtspopulismus und Rechtsextremismus gesamtgesellschaftlich immer stärker Widerhall finden, ist diese Rückfrage besonders nachdrücklich zu stellen.

 

1. „Demokratie braucht Religion“ – eine kritische Würdigung der These Hartmut Rosas

In einer Zeit, in der die Kirchen medial nahezu ausschließlich im Zusammenhang mit gravierenden Problemen öffentlich wahrgenommen werden, überrascht die These Rosas. Der Religion, auf die sich Rosa exemplarisch vornehmlich in Gestalt der katholischen und der evangelischen Kirche bezieht, wird plötzlich etwas Positives zugetraut: Stärkung der Demokratie, ja mehr noch, eine regelrechte Notwendigkeit für den Erhalt und den Fortbestand der Demokratie. In kirchlich-religiös positiv geprägten Kreisen klingt das natürlich erst einmal erfreulich. Gleichzeitig führt nicht zuletzt ein wissenschaftlich akademischer Blick bei allem Erfreuen schnell vor Augen, dass kirchlich-institutionelle Religion und Demokratieförderung gerade in historischer Perspektive, aber auch in anderen Hinsichten, nicht automatisch in einem Atemzug genannt werden können. Was genau verbirgt sich also hinter Hartmut Rosas positiver Einschätzung?

Selbststeigerungszwang

Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Beschreibung unserer modernen Gesellschaft mit dem Begriff der „dynamischen Stabilisierung“.2 Rosa erläutert den Begriff so: „Eine Gesellschaft ist modern, wenn sie sich nur dynamisch stabilisieren kann, das heißt, wenn sie systematisch und strukturell auf permanente Steigerung angewiesen ist, um sich zu reproduzieren und den institutionellen Status quo zu erhalten.“3 Dieser Steigerungszwang betreffe auch die Menschen: „Ja, wir Menschen müssen nächstes Jahr schneller laufen als dieses Jahr.“4 Der Steigerungszwang stifte „systematisch ein Aggressionsverhältnis zur Welt […].“5 Der immer größer werdende Leistungsdruck bringe diese Aggression hervor. Die Aggressivität finde sich auch in der Politik wieder: Der „andere, der ständig eine andere Meinung hat, der ständig was anderes will, der anders liebt und anders glaubt und […] was sonst noch alles anders macht, der ist dann einfach nur ein Hindernis. Der soll’s Maul halten.“6

Demokratie im Aggressionsmodus funktioniert nicht

Unter diesen Umständen werde der politisch anders Denkende nicht mehr als Dialogpartner gesehen, „sondern als ekelerregender Feind, den man zum Schweigen bringen muss.“7 Dieser Sachverhalt zeige, dass Demokratie im Aggressionsmodus nicht funktioniere. Funktionieren könne sie dagegen nur, wenn an die Stelle des Aggressionsmodus eine Haltung trete, die man mit dem Bild des hörenden Herzens umschreiben könne: Mit „den Ohren braucht es auch dieses hörende Herz, das die anderen hören und ihnen antworten will.“8

Im Zusammenhang mit den Kirchen formuliert Rosa die eingangs bereits zitierte These, wonach die Kirchen über Potentiale verfügten, mit deren Hilfe „ein hörendes Herz eingeübt und […] erfahren werden kann.“9 Diese Potentiale stünden für die Fähigkeit, sich anrufen zu lassen – eine Fähigkeit, derer die Demokratie und die Menschen, die in ihr leben, dringend bedürfen. Die Räume, über die die Kirche verfüge, oder die sie versucht hervorzubringen, können dazu befähigen, „aus dem Aggressionsmodus herauszutreten, für einen Moment nicht zu fragen: ‚Was habe ich davon?‘ ‚Was kriege ich?‘“10.

Vertikale Resonanzräume

Diese besonderen Räume bezeichnet Rosa im Anschluss an seine soziologische Resonanztheorie11 Resonanzräume. Zur Veranschaulichung nennt Rosa eine ganze Reihe sogenannter vertikaler Resonanzräume im kirchlich-religiösen Bereich. So habe der gesellschaftliche Aggressionsmodus im kirchlichen Zeitkonzept, praktisch greifbar im Modus des Kirchenjahres, keinen Platz. Hier gehe es nicht um Innovation, Steigerung und Wachstum. Wenn man in eine Kirche gehe, gäbe es nichts, was man verfügbar machen, unter Kontrolle bringen könne: „Der Aggressionsmodus findet da gar kein Ziel.“12 In einer Kirche komme man in einen Kontext, „in dem die Aggressionshaltung für einen Moment verschwindet.“13

Als weiteres Beispiel für einen vertikalen Resonanzraum in der Kirche nennt Rosa die Trinitätstheologie. Durch das Resonanzverhältnis zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist und in der Folge auch zu uns Menschen bestehe eine Resonanzverbindung der Welt zu einer anderen Welt. In dieser Verbindung stelle sich eine transformatorische Wirkung ein, in der der gesellschaftliche Aggressionsmodus ebenfalls keinen Anhalt habe.14

Als praktisch erlebbare Beispiele religiöser vertikaler Resonanzräume nennt Rosa das Abendmahl und das Gebet. Hier gehe es um „eine Beziehung zwischen den Menschen und eine Beziehung zum umfassenden Ganzen.“15

In Bezug auf die besondere Funktion der Religion hält Rosa fest: „Religion hat die Kraft, sie hat ein Ideenreservoir und ein rituelles Arsenal voller entsprechender Lieder, entsprechender Gesten, entsprechender Räume, entsprechender Traditionen und entsprechender Praktiken, die einen Sinn dafür öffnen, was es heißt, sich anrufen zu lassen, sich transformieren zu lassen, in Resonanz zu stehen.“16 Da der alltägliche gesellschaftliche Aggressionsmodus hier nicht den leitenden Kommunikationsmodus darstellt, fügen sich für Rosa Religion und Kirchen in die Reihe der gesellschaftlichen Formationen ein, ohne die eine demokratische Gesellschaftsform nicht überlebensfähig ist. So gesehen brauche Demokratie tatsächlich Religion.

In der Summe benennt Rosa überzeugend wichtige Aspekte, die zeigen, worin ein positiver Zusammenhang zwischen Religion und ihren konkreten Organisations- und Praxisformen einerseits und einer demokratischen Gesellschaftskultur andererseits bestehen kann. Doch gerade, um das demokratiefördernde Potential, das Rosa der Religion zuschreibt, besser greifen und einordnen zu können, ja, um es vielleicht auch gezielt stärken zu können, ist es notwendig, zunächst noch einmal einen Schritt beiseitezutreten und zu schauen, wie es bei der Kirche, und das ist im Folgenden exemplarisch die evangelische Kirche, um Demokratie und demokratische Strukturen bestellt ist. Das erfolgt nun schlaglichtartig in historischer und ideengeschichtlicher Perspektive.

 

2. Kirche und Demokratie in historischer und ideengeschichtlicher Perspektive

Erst die mittelalterliche Aristoteles-Rezeption zur Zeit des Thomas von Aquin bringt die Begriffe der griechischen politeia und demokratia in das politische Denken ein. In der Summe wurde im späten Mittelalter die Demokratie zwar als Pöbelherrschaft abgelehnt, der potestas populi aber wurde seit Thomas eine gewisse Bedeutung beigemessen. Etliche Herrschaftsakte erhielten ihre Legitimität durch Praktiken wie Anhörung, Wahl und Zustimmung. Verweise auf biblische Texte, insbesondere im Zusammenhang mit der Rolle des Volkes im alten Israel standen hier im Hintergrund.17

Im Zuge der Reformation wurden biblische Bezüge in Bezug auf die herrschaftliche Beteiligung des Volkes bedeutsamer. Eine gewichtige Rolle spielen für Martin Luther unter anderem die „Lehre des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen, die Erinnerung daran, dass Gott die Gewaltigen vom Throne stößt und die Niedrigen, Armen, Rechtlosen erhebt […], weswegen auch das ‚Volk in allen seinen Ämtern‘ und die Niedrigen von Geburt mit obenan sitzen und beim Regieren helfen sollen […].“18 Auf der anderen Seite stehen allerdings auch Luthers ordnungstheologische Gedanken, die die Unterordnung des Volkes unter die von Gott eingesetzte Obrigkeit und den damit verbundenen Dienstgedanken stark machen. Somit verbinden sich bei Luther auf eine spezifische Weise hierarchisch-patriarchalische und im weitesten Sinn demokratische Vorstellungen.19

Ganz explizit heben Zwingli und Calvin hervor, dass Herrschaft auf die Legitimation durch das Volk angewiesen ist. Zwar sollte Herrschaft auf dieser Grundlage aristokratisch ausgeführt werden, dies allerdings begleitet vom Recht auf Widerstand des Volkes für den Fall, dass ein Fürst gegen die bei seinem Amtsantritt mit den Untertanen vereinbarten Bedingungen verstößt.

Bildung als demokratiefördernder Faktor

Im weiteren historischen Verlauf spielt die lutherische Tradition, vor allem in Deutschland, keine bedeutende Rolle bei der Entfaltung neuzeitlicher Demokratie. Im Vordergrund stehen vielmehr der Dienstgedanke und eine moralisch-rechtsstaatliche Verpflichtung der Herrschenden, allerdings ohne Widerstandsrecht der Untertanen. Implizit ist allerdings in Luthers Bildungsverständnis ein demokratiefördernder Faktor zu sehen. So ist es für Luther ein wichtiges Ziel, dass möglichst alle Gläubigen Lesen und Schreiben lernen. Sie sollen dadurch in die Lage versetzt werden, selbst in der Bibel zu lesen und sich in Glaubensdingen eigenständig zu informieren. Die Fähigkeit zur eigenen Urteilsbildung, die durch die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben maßgeblich gesteigert wird, beschränkt sich natürlich nicht nur auf Glaubensfragen, sondern auch auf alle weiteren Lebensbereiche wie zum Beispiel das soziale und politische Miteinander.

In calvinistisch geprägten Regionen entwickelt sich das Demokratiethema so, dass etwa aus dem biblischen Bundesgedanken und einem neuen Naturrecht eine Gesellschafts- und Herrschaftsvertragstheorie abgeleitet wurde, die dem Volk einen aktiven Anteil an der Gestaltung des politischen Geschehens einräumt. Am stärksten jedoch verlieh der „linke Flügel“ des Puritanismus dem Bundesgedanken eine demokratieanaloge Wendung. Vor allem Baptisten, Seeker und Quäker sahen die Gemeinden als brüderliche Zusammenschlüsse aller, die „vom Geist erleuchtet und getrieben werden.“20 Am kontinuierlichsten entfalteten sich demokratische Ideen im Umfeld des englischen Parlamentarismus, noch stärker jedoch in den amerikanischen Siedlerkolonien. Kongregationalisten, wie zum Beispiel John Wise, sahen „die demokratische Verfassung der Kirche als die ursprüngliche und die demokratische Staatsform als die angemessenste.“21

Antidemokratische Allüren

In Deutschland spielte in Kirche und Theologie spätestens seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon das Thema Demokratie keine Rolle mehr: „Der konfessionalistische Protestantismus orientierte sich […] an Autorität, am Gottesgnadentum des Monarchen, am christlichen oder zumindest sittlichen Obrigkeitsstaat, also antidemokratisch“22, so resümiert Eilert Herms. Auch die Revolution von 1848 spielte in den deutschen Protestantismus keine demokratischen Impulse ein. Demokratie war vor allem Sache der Sozialdemokratie sowie kleiner freiheitlich gesinnter Kreise des deutschen Bürgertums. Letztlich kaum nennenswerte kirchlich-theologische Ausnahmen bildeten der Evangelisch-Soziale Kongress und die Religiösen Sozialisten.

Während der Weimarer Republik opponierten lutherische Theologen wie Emanuel Hirsch und Paul Althaus gegen die von „westlicher, individualistischer Aufklärung geprägte, parlamentarische Mehr­heits­demo­kratie“23 und leisteten damit einen Beitrag zur antidemokratischen Prägung des Protestantismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen demokratiefördernde Impulse im theologisch-kirchlichen Bereich eher von emigrierten Theologen wie zum Beispiel Paul Tillich aus oder von der Weltkirchenkonferenz, die schon 1937 ein fundamentaldemokratisches sozialethisches Konzept vorlegte, das 1948 unter dem Stichwort „Verantwortliche Gesellschaft“ bei der Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen verkündet wurde.24

Positive Rezeption nach 1945

Auf Grund der deutlich überwiegenden Ablehnung westeuropäischer Demokratie fiel es der deutschen Theologie, so unterstreicht Eilert Herms, zunächst nicht leicht, diese nach 1945 in ihrer Ethik des Politischen zu rezipieren.25 Dies änderte sich allerdings dann doch deutlich zugunsten einer positiven und fördernden Haltung in Bezug auf die demokratische Verfasstheit des Staates. Dokumentiert ist die demokratiefördernde Haltung der evangelischen Kirche in zahlreichen Denkschriften und Texten der EKD zu sozialen und gesellschaftspolitischen Themen.26

Ein weiteres Beispiel für die unmissverständliche demokratiefördernde, ja demokratiefordernde Haltung der evangelischen Kirche ist die Rolle, die evangelische Christinnen und Christen, Pfarrerinnen und Pfarrer sowie Gemeinden im Zuge der friedlichen Revolution in der DDR gespielt haben. Hier hat die evangelische Kirche maßgeblich zur Etablierung eines demokratischen Gesellschaftssystems beigetragen.

In der Summe zeigt der historische Überblick zum Verhältnis von Kirche resp. Theologie zu Demokratie, dass demokratiefördernde theologische Denkfiguren zwar durchaus zum Wesen protestantischer Theologie zählen können, diese aber weder automatisch gesetzt noch – in historischer Perspektive – dominierend waren. In langer Sicht trägt für den Aspekt der Demokratieaffinität im deutschen Protestantismus wohl am ehesten das Bild des ‚zarten Pflänzchens‘. Zumindest für die jüngere Vergangenheit kann – mit Eilert Herms – jedoch festgehalten werden: „Zur Demokratie als Ordnung politischer Herrschaft verhält sich die Kirche affirmativ und stützend.“27 In Bezug auf die Kirche differenziert Herms allerdings: „In der Kirche hat diejenige Ordnung zu herrschen, die dem christlichen Verständnis vom Wesen des Menschen und vom Auftrag der Kirche entspricht. Das ist nicht eine Ordnung politischer Herrschaft.“28

 

3. Wie kann Religion Demokratie stärken?

Wie genau kann Religion Demokratie fördern? Für meinen ersten Antwortvorschlag auf diese Frage greife ich Gedanken des Münsteraner Islamwissenschaftlers Thomas Bauer auf.29 Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht das Phänomen der Ambiguitätstoleranz, also der Umgang mit dem Phänomen der Mehrdeutigkeit in modernen Gesellschaften.

Ambiguitätstoleranz

In Bezug auf die Demokratie stellt Bauer fest: „Jede Demokratie ist auf ein relativ hohes Maß an Ambiguitätstoleranz angewiesen.“30 Das sei der Fall, weil demokratisch getroffene Entscheidungen nie die alleinige Wahrheit für sich beanspruchen können, sondern allenfalls, die wahrscheinlich beste Lösung zu sein – und das wiederrum nur bis zu dem Zeitpunkt, bis eine andere Entscheidung getroffen wird. „Einen Anspruch auf Wahrheit, Reinheit und überzeitliche Gültigkeit können demokratische Entscheidungen nicht erheben“31, so Bauer. Wer in demokratischen Strukturen agiert, muss somit ein positives Verhältnis zu der Tatsache haben, dass es neben der eigenen Meinung viele andere gibt, die ihrerseits auch mehrheitlich unterstützt werden, so dass die eigene Meinung nicht zwingend zum Zuge kommt. Bei allem Bestreben, die eigene politische Position zur Geltung und zur Umsetzung zu bringen, kann Demokratie nur funktionieren und stabil gehalten werden, wenn ein gewisses Maß an Ambiguitätstoleranz herrscht und Meinungsvielfalt nicht als Bedrohung, sondern regelrecht als Voraussetzung für die Realisierung demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse betrachtet wird.

In Bezug auf so etwas wie Demokratieförderung ist es somit wichtig, dass Ambiguitätstoleranz als Teil einer Mentalität verstanden wird, die bewusst gepflegt werden sollte. Diese Pflege ist möglich, indem sich Menschen mit Lebens- und Kulturbereichen befassen, die sich durch ein hohes Maß an Ambiguität auszeichnen wie zum Beispiel Kunst, Musik, Literatur und nicht zuletzt die Religion. Für die Religion stellt Bauer fest: „Eine relativ hohe Ambiguitätstoleranz bildet allerdings eine unabdingbare Voraussetzung für das Gedeihen von Religion […].“32

Dafür nennt Bauer zwei Gründe. Der erste Grund besteht in der Notwendigkeit, Transzendenz zu akzeptieren. Mit dem Glauben „an etwas, das größer und anders ist als wir“33, bleibt, bei allen Versuchen, das Transzendente begrifflich zu durchdringen, immer „ein Rest an Vagheit, Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit, also: an Ambiguität.“34 Der zweite Grund hat damit zu tun, dass Religion vor allem Kommunikation ist. Dies geschieht auf zweierlei Weise: Zum einen gleichsam horizontal unter Menschen und zum anderen, zumindest in den Offenbarungsreligionen, vertikal als Kommunikation zwischen Menschen und dem Göttlichen. Letztere Form der Kommunikation findet ihren Niederschlag in schriftlicher Form. Bauer nennt als Beispiele nicht nur „Tora, Evangelium und Koran […], sondern auch die Überlieferungen über die Urgemeinde, das Leben des Religionsstifters und die Schriften der frühen und deshalb besonders autoritätsträchtigen Kirchenväter, Tora- und Islamgelehrten und dergleichen mehr.“35 All das seien komplexe Texte mit einem ausgesprochen hohen Maß an Ambiguität. Besonders hoch sei das Maß der Ambiguität hier, weil diese Texte „über ein besonders ambiguitätshaltiges Feld wie Religion und Glauben sprechen […].“36

Mit dem Gesichtspunkt der Ambiguitätstoleranz in den Religionen nimmt Bauer etwas in den Blick, das zweierlei leistet: Einerseits hält sie Religion am Leben, indem sie sie in vielfältiger Weise auf die Fülle menschlicher Lebens- und Glaubenserfahrungen beziehbar macht. Andererseits kennzeichnet er sie als so etwas wie ein gesellschaftliches oder kulturelles Übungsfeld, das Ambiguitätstoleranz als Mentalität oder Kompetenz ausbildet, die zum Beispiel auch die Vitalität demokratischer Strukturen einer Gesellschaft stärkt.

Das Gegenteil zur religiösen Ambiguitätstoleranz ist religiöse Ambiguitätsintoleranz als Basis des Fundamentalismus. Dessen Kennzeichen seien, so Bauer, „Wahrheitsobsession, Geschichtsverneinung und Reinheitsstreben […].“37 Denkt man Bauers Argumentation an dieser Stelle weiter, kann der Schluss gezogen werden, dass Fundamentalismus nicht nur die Religion, sondern letztlich auch die Demokratie gefährdet.

Grundmotive des biblischen Glaubens

Wo von Ambiguitätstoleranz als demokratieförderndem Faktor die Rede ist, stellt sich nahezu zwangsläufig auch die Frage, wo die Grenzen demokratischer Meinungsvielfalt liegen. Konkret geht es um die Frage: Wie lange fördern bestimmte Aussagen und Positionen den demokratischen Diskurs? Und: Ab wann schaden sie dem demokratischen Diskurs oder zielen gar auf die Abschaffung der Demokratie? Damit die mit der Ambiguitätstoleranz einhergehende Mentalität auch diese Fragen im Blick behält, lohnt sich die Orientierung an Grundaussagen des christlichen Glaubens, wie sie sich zum Beispiel in biblischen Grundmotiven niederschlagen, die Gerd Theißen im Rahmen homiletischer Überlegungen zusammengetragen hat.38

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aber getragen von dem Bewusstsein, alles Wesentliche zu berücksichtigen, nennt Theißen insgesamt 15 Grundmotive des biblischen Glaubens. Legt man demokratische Grundprinzipien zugrunde, wie sie sich zum Beispiel in der Parole der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ niederschlagen, dann zeigt der Blick auf biblische Grundmotive, dass sie letztlich alle einen demokratieaffinen Charakter aufweisen.

Das demokratische Grundprinzip der Freiheit beispielsweise tangiert das biblische Exodusmotiv. Sowohl die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel als auch Leben, Tod und Auferstehung Jesu stehen dafür, dass Gott für uns Menschen in einem ganz umfassenden Sinn Freiheit will – von Unterdrückung und Willkür, von inneren Zwängen, von der Wirkmacht des Todes. Auch das biblische Positionswechselmotiv oder das Umkehrmotiv stehen für die Freiheit, die Gott uns Menschen eröffnet. Jeder Mensch ist vor Gott frei, sich und die Welt auch in einem neuen Licht zu sehen. Befreiung bis hin zu einem neuen Leben ist im Glauben möglich.

Beim demokratischen Gleichheitsprinzip gibt es Berührungspunkte mit dem biblischen Schöpfungsmotiv, dem Gerichtsmotiv und dem Rechtfertigungsmotiv. Gott hat jeden Menschen nach seinem Bild geschaffen und verleiht Jeder und Jedem seine bzw. ihre ganz eigene Würde – säkular gesprochen: Menschenwürde. Die Schöpfung ist der Lebensraum, den Gott jedem Menschen in gleicher Weise als verantwortlich zu bewahrende Lebensgrundlage zur Verfügung stellt. In Bezug auf das je eigene Verhältnis zu Gott ist jeder Mensch gleichgestellt. Unterschiede sieht allein Gott. Er begegnet ihnen mit seiner rechtfertigenden Gnade. Das gilt für alle Menschen in gleicher Weise.

Schließlich zur Brüderlichkeit, oder zeitgemäßer formuliert zum Aspekt gerechter zwischenmenschlicher Teilhabe und ihren biblischen Berührungspunkten, die zum Beispiel im biblischen Stellvertretungsmotiv, im Agapemotiv und im Distanzmotiv zu sehen sind. Der solidarische Einsatz für andere, für Ausgegrenzte, Unterdrückte, materiell und sozial Benachteiligte sowie Gottes bedingungslose Liebe zu jedem Menschen zielen auf eine umfassende und gerechte Teilhabe an allen zur Verfügung stehenden Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten für jeden Menschen – und das sowohl in Bezug auf das zwischenmenschliche und gesellschaftliche Miteinander als auch in Bezug auf das Verhältnis zu Gott.

Die genannten Beispiele zeigen, dass es „verbindliche Affinitäten zwischen Orientierung aus Glauben und Orientierung gemäß demokratischem Ethos“39 gibt. Somit sind Grundaussagen des christlichen Glaubens nicht identisch mit einem neuzeitlichen Demokratieverständnis. Aber sie öffnen einen ambiguitären Raum, in dessen Rahmen demokratische Strukturen und Meinungsvielfalt praktiziert und gelebt werden können.

 

4. Fazit

Kirche ist „Christokratie“40, keine Demokratie. Aber: als Christokratie stärkt die Kirche die Demokratie. Sie ist in hohem Maße demokratieaffin und gehört auf dieser Basis zu den gesellschaftlichen Akteuren, die die Demokratie fördern. Allerdings ist die Demokratieaffinität der Kirche nicht per se gegeben. Die Demokratieaffinität der Kirche ist etwas, das immer wieder infrage gestellt wird und an dessen Erhalt kontinuierlich und mit großer Aufmerksamkeit gearbeitet werden muss. Gerade in historischer Perspektive tritt dies deutlich zutage. So gesehen schlage ich vor, Hartmut Rosas These wie folgt zu modifizieren: Demokratie kann Religion gut gebrauchen, wenn eine Religion in ihrem Selbstverständnis und ihren Praxisformen die ihr innewohnenden demokratieaffinen Aspekte stark macht. Tut eine Religion das nicht, etwa indem in ihr fundamentalistische oder esoterisch-egozentrische Strukturen dominieren, ist sie in Bezug auf Demokratie nicht brauchbar. Die Demokratieaffinität von Religion ist kein Automatismus. 

 

Anmerkungen

1 Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion, München 2022, 55f.

2 A.a.O., 28.

3 A.a.O., 29.

4 A.a.O., 41.

5 Ebd.

6 A.a.O., 42.

7 A.a.O., 43.

8 A.a.O., 53.

9 A.a.O., 56.

10 A.a.O., 66f.

11 Vgl. ders., Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2019.

12 Rosa, Demokratie, 68.

13 Ebd.

14 Vgl. a.a.O., 69.

15 A.a.O., 73.

16 A.a.O., 74.

17 Vgl. Eilert Herms, Art. Demokratie, I. Ethisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 8, Berlin/Boston 1981, 435.

18 Ebd.

19 Vgl. ebd.

20 A.a.O., 436.

21 A.a.O., 437.

22 Ebd.

23 A.a.O., 439.

24 Vgl. ebd.

25 Vgl. a.a.O., 443.

26 Vgl. z.B.: Kirchenamt der EKD (Hg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Gütersloh 1985; dass. (Hg.), Christentum und politische Kultur. Eine Erklärung des Rates der EKD. EKD-Text Nr. 63, Hannover 1997; Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Demokratie, Bildung und Religion: Gesellschaftliche Veränderungen in Freiheit mitgestalten. Impulse der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend und für die demokratiebezogene Bildungsarbeit in kirchlichen Handlungsfeldern. EKD-Text Nr. 134, Hannover 2020.

27 Eilert Herms, Art. Demokratie, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (4. Aufl.), Bd. 2, Tübingen 1999, 652.

28 Ebd.

29 Vgl. Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018.

30 A.a.O., 84.

31 Ebd.

32 A.a.O., 33f.

33 A.a.O., 34.

34 Ebd.

35 A.a.O., 35.

36 Ebd.

37 A.a.O., 29.

38 Vgl. Gerd Theißen, Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994, 29-34. Theißen greift hier Dietrich Ritschls Story-Konzept auf, in dem er den christlichen Glauben als durch sogenannte implizite Axiome konstituiert beschreibt. Theißens biblische Grundmotive stehen in einer Nähe zu Ritschls Denkfigur der impliziten Axiome. Vgl. Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1984.

39 Herms, Art. Demokratie, I. Ethisch, 450.

40 Erik Wolf, zit. bei Karl-Wilhelm Dahm, Art. Demokratie, II. Praktisch-Theologisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 8, Berlin/Boston 1981, 453.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Gerald Kretzschmar, Jahrgang 1971, 1990-1996 Studium der Evang. Theologie, 1999 Promotion mit einer prakt.-theol. Studie über die empirisch-sozialwissenschaftliche und theologische Wahrnehmung distanzierter Kirchlichkeit, 1998-2001 Vikariat in Frankenthal/Pfalz, Pfarrer der Evang. Kirche in der Pfalz, PD für Prakt. Theologie an der Universität Bonn, seit 2015 Prof. für Prakt. Theologie mit den Schwerpunkten Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Universität Tübingen.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2024

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.