Vor 150 Jahren, am 30. November 1874, wurde Winston Churchill geboren. Nicht nur starke Frauen, sondern auch starke Männer haben Vorbehalte gegen den Vatergott. Churchill war so stark, dass es ihm schwerfiel, einen Vatergott neben sich gelten zu lassen. Thomas Schleiff beschreibt Churchills religiöse Einstellung.

 

Ich bin Rentner und liege manchmal bis neun Uhr lange im Bett und dann und wann auch bis halb zehn. Da ist mir jeder sympathisch, der mir dafür ein gutes Gewissen macht, weil er auch nicht gerade durchs frühe Aufstehen glänzt. So einer ist Winston Churchill. Der lag sogar manchmal den ganzen Vormittag im Bett. Allerdings hat er dabei schon gearbeitet – und auch schon Whisky getrunken (Piers Brendon, 222). Also auch beim Whiskytrinken könnte Churchill einem ein gutes Gewissen machen – vielleicht sollte man sich Churchill doch nicht in allem zum Vorbild nehmen.

Wie stand dieser Staatsmann und eigenwillige Mensch zur Kirche und zum Glauben? Churchill gehörte zur anglikanischen Kirche. Er hatte aber nur eine lockere Beziehung zur Kirche und war auch persönlich kein „frommer“ Christ. Sein Biograf Thomas Kielinger bezeichnet ihn als Agnostiker. Aber Glaube und Gebet spielten bei ihm doch, wenigstens in Ausnahmesituationen, eine gewisse Rolle. So im Mai 1940. Frankreichs Niederlage gegen Deutschland war besiegelt. Der direkte Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien stand bevor. Am Sonntag, den 19. Mai, hielt Churchill eine Rundfunkansprache. Er erinnerte seine Landsleute ausdrücklich daran, dass dieser Sonntag der Sonntag Trinitatis war – und befahl das Land damit dem dreieinigen Gott an. Die Rede schloss mit einem Zitat aus dem zweiten Buch der Makkabäer: „Bewaffnet euch, seid Männer der Tapferkeit und bereit für den Konflikt. Denn es ist besser, wir kommen im Kampf um, als dass wir Zeuge werden der Entehrung unserer Nation und unseres Altars. Wie der Wille des Herrn im Himmel, so möge es geschehen.“ Man sollte es ohne jede Ironie so ausdrücken: Wenn es ums Ganze geht, besinnen sich auch sonst eher unreligiöse Persönlichkeiten auf den Herrn im Himmel. So erleben es ja viele von uns: Not lehrt beten.

 

In allem eine Art Fügung

Ende Mai warteten immer noch Zehntausende britische Soldaten auf ihre Evakuierung in Dünkirchen. Am 28. Mai ging Churchill, was er selten tat, zum Gottesdienst, und zwar zu einem Bittgottesdienst in die Westminster Abbey (Kielinger, 28).

Tatsächlich sah Churchill in allem Geschehen eine Art von Fügung. Nachdem ihn im Ersten Weltkrieg ein deutsches Geschoss knapp verfehlt hatte, schreibt er an seine Frau: „Da siehst Du mal, wie müßig es ist, sich Sorgen zu machen. Alles ist Zufall oder Schicksal, und unsere launischen Schritte sollten wir am besten ohne allzu viel Vorbedacht setzen. Man muss sich einfach und natürlich der Stimmung des Spiels hingeben. Gottvertrauen sagt das Gleiche, nur auf eine andere Weise.“ Dazu könnte man wohl noch die Frage stellen: „Ist „Gottvertrauen“ wirklich dasselbe wie „Schicksal“ und „Zufall“?

Churchill hatte das sichere Gefühl, dass über seinem Leben eine Bestimmung lag. Am 10. Mai 1940, in einer prekären Situation des Zweiten Weltkriegs, wird Churchill zum Premierminister ernannt. Er schreibt darüber: „Mir war zumute, als ob das Schicksal selbst mir den Weg wiese, als wäre mein ganzes bisheriges Leben nur eine Vorbereitung auf diesen Augenblick gewesen und auf diese Prüfung … Ich glaubte einen guten Überblick über die mir zufallenden Aufgaben zu haben und war sicher, dass ich nicht scheitern würde.“ Im englischen Original lautet der Kernsatz dieser Passage: „I felt as if I were walking with destiny.“

Tatsächlich kann auch der Betrachter von außen sich dem Eindruck nicht entziehen, dass Churchill „für diese Stunde“ geschaffen war. Er hatte viele Schwächen, er war ein Exzentriker und ein Egozentriker. Aber das, was in dieser Stunde nötig war, besaß er in herausragendem Maße: eine instinktive, vitale Entschlossenheit und Zuversicht. Und dem, der sonst nicht so viel von Jesus hatte, war in dieser Situation geschenkt, was Jesus auf dem See Genezareth gegeben war: ein guter Schlaf. Churchill schlief immer gut. Und er konnte in jeder ­Situation schnell einschlafen.

 

„I felt, as if I were walking with destiny“

Churchill spürte also so etwas wie die Gewissheit, in einem höheren metaphysischen Zusammenhang zu stehen. Aber eine persönliche Gottesvorstellung oder eine persönliche Gottesbeziehung scheint Churchill doch nicht gehabt zu haben. Destiny – ja. Vatergott – kaum. Aber immerhin ist dieses Schicksal, diese Bestimmung nicht „blind“. Aber, so frage ich, wenn es nicht blind ist – dann kann es doch „sehen“. Und sehen kann doch wohl nur „so etwas“ wie eine Person. Trotzdem spürt man bei Churchill nichts vom Glauben an den „Vatergott“. Er spricht einerseits von einer Vorsehung, in die man sich vertrauensvoll ergeben kann. Er hält aber nichts von „Ich glaube an Gott den Vater“. Wie kann man an eine gute Fügung glauben – aber den Vater, der ver-„fügt“, ablehnen oder ignorieren?

Ich denke, der Grund dafür liegt darin, dass in dem Bekenntnis zu Gott dem Vater, eine Demütigung des Menschen liegt. „Du bist der Vater“ – das heißt zugleich: Ich bin dein Kind. Wer Gott als „Vater“ bekennt, versteht sich „irgendwie“ als Kind – und das passt wohl nicht zu so einem Haudegen wie Churchill. Gerade Männer, nicht nur Frauen, können etwas gegen den „Vatergott“ haben. Denn gerade Männer, so stolze und tüchtige wie Churchill, müssen sich sagen lassen: „Du bist nicht Gott. Über uns ist der Vater im Himmel.“

Bei Shakespeare sagt Coriolan: „Ich steh’, als wär der Mensch sein eigener Schöpfer, / und niemand blutsverwandt.“ Der Biograf Kielinger münzt dieses Wort auf Churchill: Er sei immer der „Tonangeber“ seiner selbst gewesen. Das ist sehr schön gesagt – und wer von uns möchte das nicht selber auch sein: der Herr seiner selbst, der Tonangeber seiner selbst?

Aber was heißt das denn: der Herr seiner selbst zu sein? Wir selbst sind uns ja geschenkt und gehören dem, der uns geschaffen hat. Und wir kommen erst in die Wahrheit, indem wir Gott über uns anerkennen, lieben und ehren. Wir werden erst frei, wenn wir nicht mehr der Tonangeber unseres eigenen Lebens sein wollen: „Ich lebe; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal. 2,20)

 

Aufgefangen in der eigenen Überzeugung

Wie stand der „Tonangeber“ seines eigenen Lebens dazu, dass ihm die Stimmgabel eines Tages aus der Hand genommen werden würde? Wie stand Churchill zum Tod? Auch da hatte der Spaßvogel einen Scherz bei der Hand. Zu seinem 75. Geburtstag erklärte er: „Ich bin bereit, meinem Schöpfer zu begegnen. Ob mein Schöpfer allerdings bereit ist für die Prüfung, mich zu treffen, ist eine andere Frage.“ Das ist natürlich ein schönes Stück vieldeutiger Selbstironie. Als 40jähriger hatte er vor seinem Abmarsch an die Front im Ersten Weltkrieg für den Fall seines Todes seiner Frau geschrieben: „Trauere nicht zu viel um mich. Ich bin ein Geist, aufgefangen in der Überzeugung vom rechten Weg. Der Tod ist nur ein Vorfall und nicht einmal der wichtigste, der uns in unserem Sein zustößt.“

Das sind natürlich auch sehr vieldeutige Worte, die man nicht auf die Goldwaage legen sollte. Aber hier sagt jemand eben nicht: „Mein Leben ist in Gottes Hand.“ Sondern er sagt: Mein Leben ist aufgefangen in einer eigenen (?) Überzeugung. Und dass der Tod „nur ein Vorfall“ ist, ist doch wohl eher eine Verlegenheitsformulierung. Aber wer ist dem Tod gegenüber nicht „verlegen“?

Als fast 80jähriger hat Churchill in einem Gespräch mit Harold Macmillan und seinem Arzt seine Skepsis bekräftigt. Er glaube nicht an eine Welt danach. Aber immerhin hoffe er auf einen ewigen Schlaf. Und da gerade er eigentlich immer gern und gut geschlafen hat, kann das so eine schlechte Perspektive für ihn nicht gewesen sein.

Das A und O seiner persönlichen Lebensfreude war für Churchill die Malerei. Im Malen lag für ihn etwas Erlösendes. Dem Direktor der Tate-Galerie bekannte er: „Wenn es nicht das Malen gäbe, könnte ich nicht leben. Ich könnte die Anspannung der Dinge nicht ertragen.“ Das Malen hat ihn gefühlsmäßig mit der Ewigkeit verbunden. Und so hat er in dem Gespräch mit dem Tate-Direktor auch gesagt: „Wenn ich dereinst im Himmel bin, werde ich eine beträchtliche Zeit dem Malen widmen und so dem Thema auf dem Grund gehen.“ Ich denke, in seiner Liebe zur Malerei hat Churchill ein Bekenntnis zur Harmonie der Welt abgelegt. Und damit auch ein Bekenntnis zur Güte Gottes – nur dass er das ausdrücklich nicht so gesagt hat.

 

Christlich motivierte Selbstkritik

Vielleicht gibt es etwas in Churchills Gefühlswelt, was man nicht auf den ersten Blick als christlich erkennt, was aber doch christliche Wurzeln hat. Ich meine seine selbstkritische Haltung. Er verbrämt sein politisches Engagement nicht idealistisch. „Natürlich bin ich ein Egoist“, frotzelt er noch in seinen späten Jahren, und: „Wo käme man hin, wenn man keiner wäre.“ Bereits als junger Minister reflektiert er: „Manchmal möchte ich Gutes tun in der Welt, dann wieder scheine ich mich um nichts anderes zu kümmern als um meine eigene Karriere.“ Hat solche Fähigkeit zur Selbstkritik christliche Wurzeln? Ich würde sagen: ja. Wenigstens kann ich mir solche Worte nicht aus dem Munde Stalins oder Hitlers vorstellen, auch nicht aus dem Munde von Mullahs oder Stammeshäuptlingen. Und wo immer Menschen auftreten (links oder rechts), die behaupten, sie setzten sich „nur für die Sache ein“, da werde ich misstrauisch. Wir sind keine Engel, und im öffentlichen Wirken liegt immer auch eine gute Portion Ehrgeiz. Dieser Ehrgeiz ist nicht „böse“ – aber er sollte reflektiert werden. Churchill hat das getan.

Nun noch ein kleiner „parapsychologischer“ Nachtrag: Dass es „zwischen Himmel und Erde mehr gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt“, hat Churchill im November 1947 als 73jähriger erlebt. Er ist gerade in seinem Gartenhaus damit beschäftigt, von einem leicht beschädigten Porträt seines verstorbenen Vaters eine Kopie anzufertigen. Er hat die Palette in der Hand. Wie vom Lufthauch einer Ahnung berührt, dreht er sich um – und sieht seinen Vater, der in einem Lederlehnstuhl sitzt. Sie führen ein langes Gespräch über die Ereignisse des Jahrhunderts und über Winstons Leben. Das Gespräch ist sozusagen ganz „normal“ und interessanterweise ist Winstons Vater durchaus nicht allwissend. Er weiß z.B. nichts über Winstons politische Karriere. Genial ist der Schluss der Begebenheit: Als der Vater versucht, sich eine Zigarette anzuzünden, verschwindet die Erscheinung beim Bewegen des Streichholzes.

Grundlagen dieses Artikels: Piers Brendon, Churchill, 1984; 
Thomas ­Kielinger, Winston Churchill, 2014

 

 Thomas Schleiff

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2024

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