Die CDU tut es, die SPD mit Pistorius ungern – doch die Wehrpflicht ist wieder Thema. Angesichts der Bedrohungslage scheint hinsichtlich dieses Themas wieder alles möglich. Bundespräsident Steinmeier hatte sich bereits im Jahre 2022 das Thema „Verpflichtendes Gemeinschaftsjahr“ zu eigen gemacht. In einem Interview mit Tina Hassel im Rahmen der ARD-Themen-Woche 2022 „WIR GESUCHT – Was hält zusammen?“ sprach sich das Staatsoberhaupt für ein sog. „Pflichtjahr“ aus, sieht er darin einen wichtigen Beitrag des Einzelnen für das Gemeinwohl. Zustimmende Reaktionen vor allem aus seinem eigenen politischen Lager waren gleich Null. Angesichts der sich verschärfenden militärischen Krisen fordert Verteidigungsminister Boris Pistorius einen Mentalitätswechsel: „Wir müssen kriegstüchtig werden“ (ZEIT online vom 29.10.2023 u.ö.). Die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist wohl nur noch eine Frage der Zeit. Doch hier gilt es genauer hinzusehen.
In diesem Artikel lege ich meine Gedanken und Vorstellung zu einem Pflichtjahr dar, das ausdrücklich über die von Pistorius zur Diskussion gestellten Wehrpflicht hinausgeht, sehe ich nicht zuletzt auch aus christlicher Sicht darin, einen wichtigen Baustein für unseren immer fragiler werdenden gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Daher befürworte ich ein verpflichtendes Gemeinschaftsjahr. Bevor der geneigte Leser den moralischen Zeigefinger gegen mich erhebt und sich die Frage stellt: „Hat er als Pfarrer eigentlich seinen Dienst abgeleistet?“ eine Klarstellung vorab: Ich bin selbstverständlich der Dienstpflicht nachgekommen und habe den Zeitraum der derzeitigen Idee mit 15 Monaten Bundeswehr sogar noch um ein Viertel „übererfüllt“. Darüber hinaus war ich in den 2000er Jahren als geschäftsführender Pfarrer für die Durchführung des Zivildienstes verantwortlich. Von daher möchte ich diesen Artikel als Beitrag für eine notwendige Diskussion verstehen – wobei ich auch meine christliche Überzeugung hinsichtlich der Verantwortung für die Gemeinschaft im Hinterkopf behalte.
Sympathie für ein „Verpflichtendes Gemeinschaftsjahr“
Steinmeiers Vorschlag hat also meine Sympathie – und gerade deshalb werde ich hier kritische Einwände vorbringen. Zunächst die politischen Bedenken. Parteipolitisch schwimmt Steinmeier bestenfalls im Becken von CDU/CSU und Teilen der AfD. Hier dürften sich die meisten Anhänger eines Pflichtdiensts finden, obwohl es paradoxerweise der CSU-Minister zu Guttenberg war, unter dessen Ägide der Wehr- und damit auch der Ersatzdienst 2011 ausgesetzt wurde. In keiner Partei der Ampelkoalition hat Steinmeier auch nur annähernd eine Mehrheit für diesen Vorschlag, geschweige denn eine Grundsympathie. Am lautesten wird die FDP „Zeder und Mordio“ schreien, sieht sie doch die individuelle Freiheit als höchstes Gut und diese durch den Pflichtdienst eingeschränkt. Die Grünen werden als „Nicht-mehr-Friedenspartei“ einsehen müssen, dass mehr Waffen, wie von Anton Hofreiter (z.B. in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 10. Mai 2022) gefordert, auch bedient werden müssen und dazu Personal notwendig ist. Die Grünen werden überdies eine Geschichtsaufarbeitung bezüglich ihres militanten Umgangs mit Wehrdienstleistenden in 1980er und 1990er Jahren (selbst erlebt) durchführen. In der SPD wird es außerhalb ihrer links-woken Blase eines Kevin Kühnert und einer Saskia Esken noch ein paar weiße Männer und auch Frauen aus dem Umkreis von Steinmeier und Schröder geben, die in der Dienstpflicht einen positiven Aspekt sehen. Immerhin entdeckt nun Verteidigungsminister Boris Pistorius, als einzig Gedienter im gesamten Kabinett, der Not der geopolitischen Situation gehorchend, das Thema Wehrpflicht wieder. Durchsetzen wird er sich wegen der genannten Personen in den eigenen Reihen aber wohl kaum. Von einer wirklichen Mehrheit dürfte Steinmeiers eigene Partei jedoch ebenfalls weit entfernt sein.
Zwang wird allgemein abgelehnt
Wenden wir uns daher weiter denen zu, die von einem Pflichtjahr betroffen wären. Fragt man potenziell betroffene Schülerinnen und Schüler, ist die Meinung einhellig: Ein verpflichtender Zwangsdienst wird abgelehnt. Dies ergab eine sicherlich nicht repräsentative, aber sehr breite Umfrage unter mehr als 100 Schülerinnen und Schülern in einem Beruflichen Gymnasium und in Klassen der Berufsausbildung. Zwang wird abgelehnt. Immerhin interessiert sich rund ein Viertel für die Freiwilligendienste bzw. den Dienst bei der Bundeswehr. Hier wäre also noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten.
Ein Kritikpunkt der jungen Leute hat vor allem mit den ohnehin langen Ausbildungszeiten zu tun. Ein zusätzliches Jahr in jungen Jahren zu „verschwenden“, wird als vermeidbare Härte angesehen. Daher gehen meine konstruktiven Vorschläge auch in diese Richtung: Es müsste eine enge Abstimmung zwischen Dienst, Schule und Berufswelt geben. Der Pflichtdienst müsste demnach einen Mehrwert für den Beruf erzeugen; die Akzeptanz würde sicherlich zunehmen. Der Pflichtdienst müsste somit Teil der Berufsausbildung sein und die vorgesehene Ausbildungszeit verkürzen oder im Rahmen der akademischen Ausbildung zumindest Teile der Pflichtpraktika ersetzen. Ein wichtiger, aber organisatorisch sicherlich nicht ganz unmöglich zu bewältigender Aspekt.
Finanziell hätte sich der Sold wenigstens auf der Ebene eines Praktikantengehaltes zu bewegen, also um die 1000 EUR pro Monat. Ein Sold von umgerechnet 200 EUR – weniger als ein Taschengeld, wie ich es noch aus Helmut Kohls (selig) Zeiten kenne – ist indiskutabel. Hier wird der Staat also erhebliche Summen in die Hand nehmen müssen. Ebenfalls kostenträchtig wird die noch einzurichtende Infrastruktur sein. Es sind für mindestens 500.000 junge Leute zusätzlich Tätigkeitsplätze einzurichten und auf Dauer zu betreuen. Auch das wird finanzielle Mittel binden und darüber hinaus auch Arbeitskraft im Bereich der Betreuung der Dienstleistenden in Anspruch nehmen.
Ausnahmen darf es nicht geben
Das zentrale Problem hinsichtlich der Durchführung liegt aber auf einer ganzen anderen Ebene oder kurz gesagt: Beim Personal selbst. Bei der Einführung des Wehr- und Ersatzdienstes in der „alten“ Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren waren alle Dienstverpflichtenden deutsche Staatsangehörige. Auf nahezu 100 Prozent der Bevölkerung hatte der Staat Zugriff, nur einige hatten sich vor der Wehrerfassung (vor dem vollendeten 17. Lebensjahr) nach Berlin „gerettet“. In einer „Einwanderungsgesellschaft“ wird die praktische Erfassung der gesamten Bevölkerung schwieriger, wie die zunehmenden Beispiele mehrfacher Auszahlung an sozialen Leistungen zeigen – warum sollte das nicht auch umgekehrt gehen?!
Das heißt nun aber: Alle in Deutschland mit Lebensschwerpunkt gemeldeten Personen, haben den Pflichtdienst zu leisten. Für nicht-deutsche Migrantinnen und Migranten gilt die Zahlungsverpflichtung des Staates als Verpflichtung zum Dienst. Eine de-facto-Bevorzugung Nichtdeutscher durch einen mangelnden organisatorischen Zugriff darf es nicht geben. Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft sind so zu behandeln, als hätten sie nur die deutsche Staatsangehörigkeit, oder müssen nachweisen, dass sie den Dienst im jeweils anderen Land (z.B. Österreich, Israel, Türkei) auch tatsächlich abgeleistet haben.
Da anders als zu Zeiten der Wehrpflicht nicht mehr die Tauglichkeit für die Bundeswehr den Referenzrahmen darstellt, darf es aus Gründen der Gerechtigkeit keinerlei Ausnahme vom Dienst mehr geben. Eine Freistellung ist grundsätzlich nicht möglich. Alle hier Lebenden gleich welchen Geschlechtes und egal, welchen Status sie haben, haben den Dienst abzuleisten. Analog gilt dies auch für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Jemand, der beispielsweise im Rollstuhl sitzt, kann durchaus Verwaltungsaufgaben wahrnehmen. Eine Totalverweigerung ist nicht möglich und zu sanktionieren. Denkbar wäre ein grundsätzlicher und lebenslanger Ausschluss von Arbeitsstellen, die in irgendeiner Form von öffentlichen Geldern bezahlt werden – und das sind sehr viele. Ebenfalls schließt eine Totalverweigerung ein Studium an einer staatlichen Hochschule grundsätzlich aus.
Dennoch wird es unterschiedliche Dienstarten und Dienstlängen geben müssen. Da die Mitarbeit bei der Bundeswehr zwangsläufig räumlich anders organisiert wird, wäre es denkbar, diesen Dienst gegenüber dem ortsnah stattfindenden zivilen Dienst zu verkürzen. Die Bundeswehr dürfte, anders als die 8-Kameraden-Stube aus vergangenen Zeiten, nur noch Doppel-, höchstens aber Dreierzimmer, mit Nasszelle zur Verfügung stellen. Eine andere Infrastruktur halte ich an dieser Stelle nicht mehr für zumutbar, wird aber zusätzliche Kosten verursachen. Beim zivilen Dienst können auf die Erfahrungen des Zivildienstes mit den bewährten Trägern wie Kirchen, Diakonie, Caritas sowie den Rettungseinrichtungen zurückgegriffen werden. Wegen des Vorteils der Wohnortnähe der im zivilen Dienst tätigen Personen, muss hier eine zeitliche oder finanzielle Kompensierung gegenüber den Bundeswehrangehörigen ermöglicht werden.
Prinzip Gerechtigkeit?
Einen eigenen Bereich stellt die Gruppe der nichtdeutschen und erst kürzlich eingereisten Menschen dar. Auch diese sind selbstverständlich ohne Ausnahmen zum Pflichtdienst heranzuziehen. Allerdings stellen sich einige unbedingt in den Blick zu nehmende Fragen: Da ist zunächst das Loyalitätsthema, das eine Verwendung bei der Bundeswehr ausschließt. Zudem ist Menschen aus Krisengebieten der Dienst an der Waffe weder zumutbar noch erscheint er als sinnvoll. Ich möchte auch nicht, dass Menschen aus Bürgerkriegsgebieten Zugang zu Waffen erhalten. Ein ziviler Dienst für diese Gruppe müsste in den meisten Fälle speziell organisiert und diese betreut werden. Das wird zusätzliche Kosten verursachen, wobei die sozialen Leistungen mit dem Pflichtzeitengehalt selbstverständlich verrechnet werden. Allerdings wäre der Betreuungsaufwand höher, wobei dieser Dienst gegenüber den Bundeswehrangehörigen aus Gründen der Gerechtigkeit auch länger sein müsste. Vor allem bezüglich des letzten Aspektes sehe ich einer Diskussion mit großem Interesse entgegen. Aufgrund der deutschen Leidenschaft, alles absolut „gerecht“ lösen zu wollen, wird spätestens an dieser Stelle die Idee des Pflichtdiensts scheitern.
Weiterhin impliziert das Modell des Bundespräsidenten ebenfalls die Möglichkeit, den Pflichtdienst im „fortgeschrittenen Lebensalter“ noch abzuleisten. Diesen Gedanken habe ich in diesen Ausführungen nicht weiter berücksichtigt, da der größte Teil der Männer den Dienst über Wehr- und Zivildienst ohnehin bereits abgeleistet haben und ich eine sich daraus resultierende Frage: „Was ist jetzt mit den Frauen?“ nicht führen möchte, zumal sie durch ihre Lebensleistung genug für das Funktionieren dieses Staates beigetragen haben.
Ich möchte diesen Artikel im Kontext von kirchlicher Publizistik als Diskussionsbeitrag verstanden sehen. Gewisse Schärfen sehe ich als notwendig an, um eine Diskussion – wie von Steinmeier gewünscht – in Gang zu setzen. Ich selbst bin auf Rückmeldungen gespannt, sehe der Diskussion aber gelassen entgegen, habe ich doch persönlich alle von unserem Staatsoberhaupt geforderten Aspekte erfüllt.
▬ Michael Lapp
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2024