In den Jahren 1940/41 ereignete sich in Deutschland eine systematische Vernichtungsaktion von erbkranken Menschen und Menschen mit Behinderung. In der historischen Forschung gilt sie als Vor- und Teststufe für die groß angelegten Vernichtungsaktionen in den NS-Konzentrationslagern der kommenden Jahre. Thomas Hörnig zeigt, welche Vorgeschichte die Krankenmorde hatten und wie die Kirchen daran ideologisch und praktisch beteiligt waren.*
Da die Angehörigen durch die erwähnte Seuchengefahr erschreckt waren, haben sie die Urne in aller Stille allein, ohne Geistlichen, beigesetzt. Es handelt sich hier aber um eine christliche Familie, die treu zur Kirche hält. Obgleich der plötzliche Heimgang unerklärlich schien und die Angehörigen in große Trauer versetzte, trösteten sie sich in dem Gedanken, daß die Abgeschiedene von ihren Leiden erlöst worden sei.“1
Dieser außergewöhnliche Vorgang, der sich am 19. Juni 1940 auf dem Kirchhof in Pfedelbach begeben hat, findet sich beschrieben und interpretiert in einer Antwort des Evang. Dekanatamtes Öhringen auf ein Anschreiben des Evang. Oberkirchenrates in Stuttgart vom 27. Juli 1940 an alle 49 württembergischen Dekanate.2 Landesbischof Theophil Wurm (1868-1953) hatte zurückhaltend nach „unheilvoll“ beurteilten staatlichen Maßnahmen „gegen Anstaltspfleglinge“ und daraus folgender Beunruhigung in der Bevölkerung gefragt. Die Mitteilungen aus Pfedelbach, aus dem traditionell kirchlichen Hohenlohe, vermeldeten im Grunde genommen zwei Skandale: im frommen Württemberg unübliche Kremierungen („wider Willen“) und eine eigenhändig vorgenommene Urnenbeisetzung3. Die mitgelieferte kirchliche Deutung hob ein „unerklärlich“ auf, ertrug Empörung und Trauer der Angehörigen nicht, bettete es ein bzw. verharmloste Mord durch die Deutekategorie „Erlösung“.
Wie konnte es dazu kommen? Wieviel Pietät, aber auch Scham („Erbkrank“?, „Seuchen“-Opfer?) und Misstrauen gegen staatliche und kirchliche Ämter verbargen sich in diesem eigensinnigen Vorgang? Wieviel gesellschaftliche Entwertung eines Menschen aus einer Pflegeanstalt führte zu dieser Unsichtbarmachung, wieviel Empathie dennoch zu widerständiger, resistenter Eigeninitiative? Wie war diese Absage an das kirchliche Ritenmonopol, die Dorfgemeinschaft, die Kirchengemeinschaft und die traditionelle ars moriendi einzuordnen?
Wandlung des Humanitätsbegriffes
Solch ein Ereignis stand in einer Kette von Exklusion und Diskriminierung von Menschen mit „Behinderung“, in dieser Zeit sozial-darwinistisch, rassenhygienisch und theologisch-anthropologisch akzentuiert. Entlastende Versuche, die in der Menschheitsgeschichte schon immer ableistische Züge zu finden gedachten, halte ich für bemüht. Also verzichten wir auf die Spartaner, Thomas Morus oder Martin Luther (Hörnig 2017), nicht unbedingt auf Nützlichkeitsbewertungen von Menschen in Kapitalismus und Kolonialismus. Der Erste Weltkrieg bleibt allerdings m.E. nach die Zäsur, dasMenetekel und die Blaupause für die Krankenmorde im Dritten Reich, für Selektion und Radikalität bei der „Lösung der sozialen Frage“ (Aly).
Hungerte der proletarische Teil der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg bei ca. 1000 Kalorien am Tag, war es in „totalen Institutionen“, Gefängnissen, Altenheimen, Pflegeanstalten bei abstumpfenden Skrupeln der Verantwortlichen und Mitwisser4, weit gravierender. Ödemkrankheit, Anämien, Durchfälle und TBC breiteten sich aus. Heinz Faulstich nennt dies Folgen der „Ernährungshierarchie“. Ab 1918 brach noch die „Spanische Grippe“ aus. Faulstich (1998: 37f) hat für den Ersten Weltkrieg ca. 70.000 Opfer in Psychiatrien und Pflegeanstalten allein für Preußen berechnet, was 30% der dortigen Anstaltsinsass*innen entsprach.
Prof. Dr. Karl Bonhoeffer (1869-1948), Vorsitzender des Deutschen Vereins für Psychiatrie, erwog auf einem Kongress in Hamburg (1920) im Geist der Zeit dieses Sterben in den Psychiatrien ethisch neu zu bewerten: „Fast könnte es scheinen, als ob wir in einer Zeit der Wandlung des Humanitätsbegriffes stünden. Ich meine nur das, daß wir unter den schweren Erlebnissen des Krieges das einzelne Menschenleben anders zu werten [!] genötigt werden als vordem und daß unsere Kranken in den Anstalten in Massen an Unterernährung dahinstarben, und dies fast gutzuheißen in dem Gedanken, daß durch diese Opfer vielleicht Gesunden das Leben erhalten bleiben könnte.“ Der Gedanke einer „opfermütigen Unterordnung der Gesunden“5 unter die Kranken verlöre an Kraft – dem hätten auch Funktionäre der Innere Mission (IM) nicht widersprochen.
M.E. war in dieser öffentlichen Deutung eine sozialdarwinistisch-utilitaristische Verrohung durch einen neuen „Humanitätsbegriff“ zu sehen, der wie in kolonialen Zeiten guten Gewissens (!) von Menschen als „Material“ (Meltzer) sprach, sie noch lange wie „chemische Moleküle“, Frösche oder Versuchskaninchen (Klage von Viktor v. Weizsäcker) behandelte.
Akzeptierte Sozialtriage
Psychiater wie Prof. Dr. Paul Nitsche (1876-1948), in der Zwischenkriegszeit Anhänger einer Reformpsychiatrie, dann „T4“-Obergutachter6 und als „Euthanasie“-Haupttäter in Sachsen hingerichtet, berichtete noch 1948 vor Gericht von seinen einschneidenden Erfahrungen von Hilflosigkeit und Ohnmacht während des Ersten Weltkrieges. Hunger und Tod von Patient*innen wurden bleibend Optionen, „Therapie“ und „Normalität“. Sie verursachten eine akzeptierte Sozialtriage.
Die Versorgung der Patient*innen nach Wirtschaftslage blieb bestehen, gestaltete sich in der Weimar Zeit unterschiedlich auskömmlich (Notverordnungen!), verstärkte sich im Dritten Reich als bedrohliche Finanzierungstalfahrt für die Schwächsten und Ärmsten. Wert und Würde von Menschen wurden „ermittelt“ durch Nützlichkeit (Arbeitskraft). Skandalisiert wurden Pflegeaufwand, mangelnde Kommunikation mit der Umwelt („Fremdkörpercharakter der geistig Toten“), das Fehlen an Bewusstsein, Gefühlsbeziehungen oder Willensregungen.
Es gab zudem in der Psychiatrie die modernen, entwertenden Paradigmen vom darwinistisch-monistisch inspirierten „Niedergang“ von Mensch zum Tier oder von fließenden Übergängen (Entwicklungsstufen) zwischen Tier und Menschen7: vom Tier zum Idioten, vom „Unterentwickelten“ zum „Untermenschen“ („mongoloid“), vom Debilen zum Minderwertigen.8 Es entstand eine grausame „Kaskade der Exklusion“ (Schmuhl): Schwachsinnige9, daher eigentlich bildungsfähige Menschen („Halbidioten“; „Imbezille“ (Paul Sollier)), versus „unheilbare Blödsinnige“ und „Vollidioten“; moralisch Verwahrloste versus sittlich nicht zu hebende „geistig Tote“. So wurden auch die Heil- und Pflegeanstalten organisiert, die Menschen selektiert.
Waren bei Darwin10 die Zufluchtsstätten für Krüppel, Kranke und Schwachsinnige sowie Armengesetze Schuld daran, dass sich Zivilisation „kontraselektorisch“ entwickeln würde, wurde nach 1918 ein neuer Grund für genetische Degeneration oder Bevölkerungsentwertung ausgemacht: rechte, linke, christliche oder jüdische Sozialdarwinisten sprachen nun von der „kontraselektorischen Wirkung des Krieges“. Die jungen Gesunden wären auf dem Schlachtfeld verblieben, die Blinden, Blödsinnigen, Epileptiker, Skrofulöse oder Zwerge durchgefüttert und aufgepäppelt (Nicolai11 u.a.) worden und könnten sich nun „fortpflanzen“.
„Vernichtung unwerten Lebens“
Ein Paukenschlag erfolgte 1920 durch die Veröffentlichung eines kleinen Büchleins von 62 Seiten. Die prominenten Gelehrten, der Leipziger Jurist Prof. Dr. iur. et phil. Karl Lorenz Binding (1841-1920) und der Freiburger Psychiater und Neuropathologe Prof. Dr. med. Alfred Erich Hoche (1865-1943) teilten sich die Seiten in „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“: Binding 1-41, Hoche 43-62. Ein Unwort war „aus der Flasche“; ethisch12 verbrämt; ein konstruierender, determinierender Begriff. Die Diskussionen dauern an (u.a. Grübler 2005).
Binding & Hoche kategorisierten die zu Vernichtenden in a) „unrettbar Verlorene, die im Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen“, b) „unheilbar Blödsinnigen“, deren Leben „absolut zwecklos ist“, deren „Tod nicht „die geringste Lücke“ reißt, die „das furchtbare Gegenbild echter Menschen13 bilden und fast in jedermann Entsetzen erwecken, der ihnen begegnet“, c) diejenigen geistig Gesunden, die durch ein Ereignis in Bewusstlosigkeit gefallen sind und, wenn sie erwachen sollten, „zu einem namenlosen Elend erwachen würden“.14
Die Schrift fiel mit hoher Plausibilität in die Werterschütterung nach dem Ersten Weltkrieg; auch für Theologen. So schuf sie eine Marke, eine wenig inhaltlich bestimmte, aber vernichtungsgesättigte Kategorie: „lebensunwertes Leben“. 1929 tauchte dieser Begriff dann ohne Anführungszeichen neben der „Eugenik“ in der zweiten Auflage der RGG auf, auch die nächsten Auflagen kennen noch das „lebensunwerte Leben“.15
„Wohltat als Plage“
Wenn Hoche bemängelte, dass „Wohltat zur Plage!“ würde, hätte die Innere Mission (IM) nicht widersprochen, sondern bestätigt, dass die Weimarer Wohlfahrtspflege auch sie durch behördliche Maßnahmen „zu einer Lebenserhaltung“ zwänge, die Asoziale, Schwache, Unproduktive übertrieben fördere und „risikolose Massenmenschen“ züchten würde. Bereits 1906 hatte Gustav Heinrich von Rhoden (1855-1942) als Gefängnisgeistlicher und Angehöriger der Sittlichkeitsbewegung seine Gedanken zu „erblicher Belastung und ethischer Verantwortung“ verbreitet. Von Rhoden bewegte sich kenntnisreich in den modernen Theorien von Medizin, Biologie und Psychiatrie, integrierte sie in ein konservatives Gesellschaftsbild, nachgerade in eine frühe, heikle Ästhetiko-Theologie. Er sah in den Vererbungstheorien einen Beweis für den Sündenfall des Menschen, für Erbsünde, das „traurige Vätererbe“, physische und psychische Degeneration und Entartung. Der Mensch sei durch genetische Disposition festgelegt und zudem zu sittlichem Fehlverhalten zu verführen. Beispiele wären Alkoholismus, Prostitution, TBC, „Konfitüre-Seuche“ und deren Folgen.
Später wurde das verändertes Reproduktionsverhalten von Frauen aus der Oberschicht (z.B. bei Paul Althaus) ergänzt. Aber, so die Überzeugung, durch Erziehung und Unterricht könnte eine genetische Disposition zum Positiven gewendet werden. Mit Ex. 34,7 bestünde Hoffnung bis in das tausendste Glied: Regeneration sei wichtiger als Degeneration, Reintegration in die Gesellschaft sei möglich, Geburten und Aufartung erwünscht. Das Gewissen könne Menschen über rein egoistisches Empfinden zu Freiheit und Menschenwürde heben.
Völkisch konnotierte Schöpfungsordnung
Reinhold Seeberg (1859-1935), u.a. 1923-1931 Präsident des Zentralausschuss für Innere Mission, führte den eingeschlagenen Weg vom Glauben zur Sittlichkeit, von Sittlichkeit zur Rassenhygiene (als angewandte Wissenschaft) weiter. Protestantische Sozialethik16 verstand sich durchaus im Rahmen einer völkisch akzentuierten Schöpfungsordnung. Es gab auch in der Inneren Mission keine „normale Variation Mensch“ (Bock). Die Kategorie „Volk“ wurde theologischer Bestandteil einer Kirche, für die Verantwortung für die Zukunft von Volk und Volkstum zu einer wichtigen Aufgabe aus Nächstenliebe wurde. Völkisch konnotierte Schöpfungstheologie dachte Christentum und Deutschtum in einer „natürlichen Ordnung“ (Althaus) eng zusammen. Eugenik wurde zum Dienst am Volk, an der nächsten Generation. Damit sollten Folgen von Sünde und Unsittlichkeit überwunden werden: Die Innere Mission fühlte sich dem Wohl der kommenden Generation verpflichtet; das Stichwort hieß „Aufartung“; Konzept war die „Differenzierte Fürsorge“.
So wurden nach der Weltwirtschaftskrise in einer erneuten „Überfüllungskrise“ (Schmuhl) Maßnahmen gegen „erbbiologisch minderwertige“ Menschen auf der Konferenz von Treysa bereits 1931 gefordert. Hans Harmsen17(1899-1989) rechnete vor, dass die „Aufzucht eines tauben Kindes“ zehnmal mehr als die eines „normalen“ Kindes kosten würde. Der Wert eines Menschen wurde nach biologischen und volkswirtschaftlichen Kriterien erhoben. Die Innere Mission trat in antinatalistischem Geist für die Verhinderung der Fortpflanzung „Asozialer“ und „Minderwertiger“ durch Asylierung und „freiwillige oder auch zwangsmäßige operative Unfruchtbarmachung“ ein. Durch ihre Sittlichkeitsbewegung wurde protonatalistisch agiert.
Nationalsozialistische „Rassenhygiene“
Das politische Vorgehen des Nationalsozialismus verwirklichte radikal die rassenhygienisch-sozialdarwinistischen Konzepte rund um eine erbgesunde, „aufgeartete“ Volksgemeinschaft. Der Begriff „Eugenik“ wurde weitgehend von Rassenhygiene- oder Rassenpflege ersetzt. Rassenhygiene war den Prinzipien des Gesundheitswesens übergeordnet: juristisch wie institutionell. Der „Norm-“Druck durch engmaschige soziale Kontrolle auf Menschen wuchs kontinuierlich; Anstalten entzogen bis 1940 bereits den schwächsten, unruhigsten, ältesten, pflegebedürftigsten Menschen die Lebensgrundlage.
Harmsen in seiner Nähe zur NS-Sozialfürsorge hatte mit großen Teilen der IM das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“18 (Erbgesundheitsgesetz, GzVeN) vom 14. Juli 1933 begrüßt, sogar bei der Formulierung beraten und war bereit zu Zwangssterilisierungen in den eigenen Einrichtungen. Wenige wie Martin Ulbrich (Rothenburg) und Paul Althaus taten sich schwer mit dem Gesetz; sie fürchteten „geschlechtliche Zügellosigkeit“. Katholische Einrichtungen setzten auf strikte Asylierung ohne Sterilisierung.
Im Zentrum der nationalsozialistischen Wertehierarchie stand im Blick auf die Loyalität der Bevölkerung das Konzept „Volksgemeinschaft“. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ – solch völkischer Kollektivismus war zunächst ein säkulares Konzept. Daraus folgte eine gedachte hierarchische Ordnung, dann Inklusion und Exklusion und zuletzt eine Sozialformation, die durch Auf- und Abstieg gekennzeichnet war. Religionsgemeinschaften hätten dem NS-Absolutheitsanspruch eine transzendente Gegen-Ordnung entgegensetzen können, wenn der Glaube an Gott und sein Reich, eine Lebenspraxis fern von Leistung (Gnade) und sozialem Milieu als Basis für Würde und Wertschätzung von Menschen gedient hätten. Beerdigungen wären Möglichkeiten gewesen sichtbar zu demonstrieren, dass vernichtete kranke Menschen in der (Kirchen-)Gemeinschaft inkludiert blieben. Tatsächlich fanden aber exkludierende Annäherungs- und Amalgamierungsprozesse zwischen Staat und Glaubensgemeinschaften im Frame der Volksgemeinschaft statt.
Fatale Kooperation
Zurück nach Württemberg: Dekan Josenhans (Schorndorf) sprach in seiner Antwort an den Evang. Oberkirchenrat von „anwidernder Mystifikation“ bei der „kasernierten und staatlich konzessionierten Tötung“. Seit Juli 1940 war allgemein in Württemberg bekannt, was sich in der Landesanstalt Grafeneck ereignet. Die T4-Aktion hatte zudem eine öffentliche Seite: Angehörige erhielten von den Anstalten, aus denen ihre Verwandten aus „wehrwichtigen Gründen“ aufgrund einer „Anordnung des zuständigen Reichsverteidigungskommissars“ (Gauleiters) „verlegt“ (Stetten) oder verschleppt worden waren, Nachricht. Die nächste offizielle Mitteilung war die über den Sterbefall mit fingierten Angaben aus den Tötungsanstalten. Insgesamt kam den Anstaltsleitungen, denen bis dahin bedingungslos vertraut worden war, eine wichtige Funktion als legitimierendes Bindeglied zu. Sie hatten der Verlegung zugestimmt, mitgewirkt, fatal kooperiert. Sie missbrauchten ihre Garantenstellung, stellten insgeheim die einen zurück, opferten die anderen. Ohne diese ambivalente Kooperation wäre ein reibungsloser Ablauf nicht möglich gewesen. Häufig wurde dies mit vorabendlicher Andacht (ev.) bzw. Messfeier (kath.) liturgisch begleitet. Opfer wurden vorbereitet, Wertgegenstände und Krankenakten ordnungsgemäß bereitgelegt, zu den „Grauen Bussen“ begleitet.
Die Urnen, wenn angefordert, kamen unverzüglich zurück, auf dem Land über die Bürgermeisterämter, in der Stadt über die Friedhofsämter. Es gab erneut offizielle Kenntnisgabe bzw. amtliche Vorgänge. Nicht vergessen werden dürfen die Pfarrämter. Immer wieder gab es Briefe an Anstalten der Inneren Mission, die die Pfarrämter, selten Dekanatämter für im Umgang mit Behörden ungeübte Angehörige schrieben. Pfarrämter repräsentierten Obrigkeit und Ehrbarkeit, standen für Ritenmonopol, Moral und Sitte; von der Taufe bis zur Abendmahlszulassung. Folglich spielten Pfarrämter bei der Beisetzung der „peinlichen“ Aschenurnen erneut eine wichtige Rolle. Gab es noch Kenntnisse, wenn Verwandte jahre- bis jahrzehntelang in Einrichtung asyliert gewesen waren? Wie sah die Einstellung zu und Kenntnis von psychischen Erkrankungen bei Pfarrern aus? Menschen aus der Unterschicht hatten häufig diskriminierende Diagnosen rund um „Schwachsinn“ erhalten, die aus der Mittelschicht eher „Schizophrenie“. Was sollte, konnte dazu gesagt werden?19 Welche Konflikte mit staatlichen Behörden waren zu vermeiden?
Liturgisch unsichtbar gemacht
Katholische wie bayrisch-evangelische Vorgehensweisen waren sich ähnlich. Es ging darum, unauffällig liturgisch zu gestalten und „seelsorglich“ zu agieren; dem Konformitätsdruck zu gehorchen. Kein „kirchlicher Pomp“ verbunden mit „Ehrung“20 bei der evangelischen Beerdigung, keine „Tumba“21 als liturgischer Scheinsarg in der katholischen Kirche wie bei gefallenen Soldaten, nur eine reduzierte Liturgie. Es war eine differenzierte Liturgie – liturgische Unsichtbarmachung am Morgen oder Abend. Amtiert wurde in aller Stille, möglichst am Grab, ohne „Grabrede“, Gesang und Geläut. Urnen allenfalls in einen Kindersarg legen. Hier trafen sich staatskonformes, evangelisches Erlösungsverständnis und reduziert-öffentlichkeitsscheue katholische Kirchengemeinschaft: beides Opfer liturgisch unsichtbar machend.
Es handelte sich ja nicht um ein Kriegsopfer, um einen heldischen, „guten“ Tod. Bei jenem wurde, agendarisch geregelt, an Ehrung und Liturgie, Lob des „dankbaren Gehorsams“ und der Bewährung im Tod, Fürbitte und Trost, nicht gespart.22 Ermordete Kranke unterlagen maximaler Diskriminierung: seuchengeplagt, kremiert, erbkrank. Sie wurden nicht als „Opfer für“ angesehen, nicht für Volksgemeinschaft, „Führer, Volk und Vaterland“. Sondern „durch“… aber solches zu thematisieren verbot sich, auch wenn, nicht nur für die Volksfrömmigkeit, die Frage nach dem „Warum“ nicht von der Hand zu weisen war. Manch eine Antwort ging in Richtung individueller Schuld (Inzest, Erbanlagen) oder Erbsünde.
Versäumt wurde die Gelegenheit, sich gegen Diskriminierung und Exklusion von Menschen zu stemmen, die Wissenschaft und Gesellschaft als „Ballastexistenzen“, als Pseudonatur, Rück- und Nachtseite der Natur oder „das furchtbare Gegenbild echter Menschen“ stigmatisiert hatten. Solche Menschen tauchten auch in kirchlicher Rede als „unheilbar geisteskrank“ oder theologisch als „Afterschöpfung“ auf. Propaganda (Filme), Lehrbücher, Zeitungen („Das schwarze Korps“), Fortbildungen, massenhafte Vorführungen ausgesuchter Kranker und Missgestalteter in Anstalten dienten zudem präventiver „Erbpflege“ und der Dehumanisierung von Patient*innen.
Wenn Angehörige nun dachten, dass mit dem Todesfall, dem Fall von Krankentötung, die Tragödie an ein Ende gekommen wäre, so folgten weitere Erschwernisse. Staatliche Behörden (Bürgermeisterämter) und insbesondere Pfarrämter waren bereits bei Zwangssterilisierungen und dann nach Krankenmorden zu Amtshilfe bei der Erstellung von Sippengenealogien mit der Übersicht über (Erb-)Krankheiten, Suiziden, sozialer oder psychischer „Auffälligkeiten“, herangezogen worden. Zur Abfrage übergenerationaler Kenntnisse und schwieriger Verwandtenbeziehungen waren sie unersetzlich. Dies war unentgeltlich zu erledigen gewesen. Allem was sich unter der Grenze vermeintlicher Normalität befand, sei es körperlich oder geistig, wurde nachgespürt und solches erfasst. Es drohten Familien weitere Zwangssterilisationen, Probleme für Beruf und Karriere (Verbeamtung, SS- oder Parteimitgliedschaft), für Studienbeihilfen, Heiratserlaubnisse und Ehestandsdarlehen.
Zusammenfassend ist m.E. festzuhalten: Fragen aus evangelischem Kontext thematisierten im Zusammenhang einer statisch verstandenen Zwei-Reiche-Lehre vor allem die Legitimität staatlichen Handelns bei den T4-Krankenmorden nach dem Motto: Gab es dazu ein Gesetz? Folgte dies folgerichtig auf das Zwangssterilisationsgesetz aus der Kabinettssitzung vom 14. Juli 1933? Katholischer Kontext fragte eher: Wurden sie wenigstens „versehen“23? Hier ging es vor allem um einen Kampf gegen die Abschwächung des sakramentalen Lebens der Kirche.24 Wurden also entsprechend der katholischen Sitte Seelsorge und Sterbesakramente vollzogen, gemäß den Zusicherungen des in der Kabinettsitzung vom 14. Juli 1933 verabschiedeten Reichskonkordats?
Bleiben die Stimmen der Opfer stumm?
Anmerkungen
* Ob der Fülle des bearbeiteten Materials und des begrenzten Umfangs des Artikels wählt der Verfasser eine essayistische, literaturunterlegte Form. Für Einzelbelege, s.: Aly, Götz [Hrsg.] (1989): Aktion T4. 1939-1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin: Hentrich; Binding, Karl & Alfred Hoche (1920): Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig: Meiner; Bock, Gisela (1985): Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen: Westdeutscher Verlag; Eriksen, Robert P. (1986): Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus. München-Wien: Hanser; Faulstich, Heinz (1998): Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1945. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg im Breisgau: Lambertus; Grübler, Gerd [Hrsg.] (2007): Quellen zur deutschen Euthanasie-Diskussion 1895-1941. Berlin: LIT; Hörnig, J. Thomas & Ylva Söderfeldt (2017): Von Wechselbälgen und verkörperter Differenz. Zwei Beiträge zu den Disability Studies. Stuttgart: Verlag der Evangelischen Gesellschaft; Hörnig, J. Thomas (2023): Körperbilder – Krankenmorde. Die nationalsozialistische T4-Aktion und die Reaktion von Angehörigen. Stuttgart: Kohlhammer; Klee, Ernst (1985): „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt: Fischer; Meltzer, Dr. med. Ewald (1925): Das Problem der Abkürzung „lebensunwerten“ Lebens, Halle: Marhold; Nowak, Kurt (1980): „Euthanasie“ und die Sterilisierung im „Dritten Reich“, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Schleiermacher, Sabine (1998): Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassenhygiene. Der Mediziner Hans Harmsen im Centralausschuß für die Innere Mission. Husum: Matthiesen; Schmuhl, Hans-Walter (1987): Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Scholder, Klaus (1986): Die Kirche und das Dritte Reich, Bd. 1. Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934, Frankfurt/Berlin: Ullstein.
1 Aussagen des Amtsverwesers von Pfedelbach über das Dekanatamt Öhringen zu Opfern aus der ev. Kirchengemeinde, Bestand der Kirchenleitung: LKA Stuttgart A 126. Er ging zum Zeitpunkt der Antwort von fünf Opfern aus. Im Kirchenbuch eingetragen wurden für 1940 als Amtshandlungen insgesamt drei – gewohnte – Beerdigungen von Opfern der „Euthanasie“ (Texte: 2. Kor. 4,17f; Joh. 16,22; 2. Petr. 3,13), zweimal hieß es „Grabrede und Gebet“, einmal „ohne Geistlichen still beigesetzt“. In der Rubrik „Bemerkungen“ zu Todesursachen wurde vermerkt: „soll“ an „Bauchfellentzündung“ oder „an einer Seuche“ in Pirna-Sonnenstein bzw. Hartheim/Linz verstorben sein. Mittlerweile wurde in Pfedelbach weiter im Einwohnermeldeamt recherchiert und daraufhin Stolpersteine für zwölf Opfer der „Euthanasie“ verlegt.
2 Zunächst ist der übersichtliche Rücklauf der Antworten im Bestand des Oberkirchenrates irritierend. Aus großen Dekanaten wie Stuttgart, Tübingen, Esslingen, Reutlingen wurden in der Registratur keine Antworten abgelegt. Die Anzahl der gemeldeten Beisetzungen war auch für die ländlichen Dekanate auffallend gering. Bei ca. 4000 Opfern der „Euthanasie“ aus Städten und Dörfern Württembergs, bei denen sicher über 3000 evangelisch-landeskirchlich waren, fanden sich in den Akten des Oberkirchenrates keine 100 Meldungen für vorgenommene Beisetzungen. Auch im Diözesanarchiv in Rottenburg sind 1940 nur ca. 10 Anfragen nach Beerdigungen von Urnen eingegangen und wurden im Ordner „Euthanasie“ abgelegt. Sicherlich mag manches unter der Hand bzw. auf „kleinem“ Dienstweg geregelt worden sein; die Zahlen bleiben erklärungsbedürftig.
3 Urnenbeisetzung stellten auch evangelischerseits ein Problem dar. Sie hatten in der Bevölkerung häufig eine pietätlose, religionsverneinende Konnotation. Urnen konnte auf dem Land nur in bestehenden Gräbern beigelegt werden. Urnengräber gab es allenfalls in größeren Städten. Katholischerseits waren Urnenbeisetzungen bis zum II. Vaticanum verboten; aufgrund der vorliegenden Unfreiwilligkeit wurde von der Fuldaer Bischofskonferenz 1940 eine Ausnahmeregelung eingeräumt. Offiziell wurde 1963 das Kremationsverbot aufgehoben, ab 1966 wurden Kremierten die vollen Trauerzeremonien zugestanden.
4 Theophil Wurm, ehedem Pfarrer der Inneren Mission, schrieb noch 1940 an Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877-1946) von einer wachsenden Zahl an Beerdigungen in der von ihm betreuten Anstalt während des Ersten Weltkrieges: Für ihn war die alleinige Ursache die Blockade der Alliierten, kombiniert mit dem Wirken des „allmächtigen Gottes“ und seines „unerforschlichen Ratschlusses“. Die Zahl der Beerdigungen sei um 150% gestiegen, „da hat dies jedermann als eine natürliche Folge des Krieges und als eine Schickung Gottes hingenommen, und in vielen Fällen konnte man dankbar dafür sein, daß das Ende gekommen war.“ (Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, 2/39-187).
5 Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (AZP), 76 (1920): 597; ähnlich Binding, Gaupp, Hoche.
6 „T4“ war die Abkürzung für die Aktion der Krankenmorde, benannt nach der Zentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin.
7 „Die geistig Toten stehen auf einem intellektuellen Niveau, das wir erst tief unten in der Tierreihe wiederfinden, und auch die Gefühlsregungen erheben sich nicht über die Linie elementarster, an das animalische Leben gebundener Vorgänge.“ (Binding & Hoche 1920: 57 f) „‚Mitleid‘ ist den geistig Toten gegenüber im Leben und im Sterbensfall die an letzter Stelle angebrachte Gefühlsregung; wo kein Leiden ist, ist auch kein mit-Leiden.“ (59) Der Ton entsprach den streng materialistischen, atheistischen und antiklerikalen Vorstellungen von Haeckel und anderen. Einer „Heiligkeit des Lebens“ wurde abgesagt; der Mensch hatte per se keine besondere ethische Stellung.
8 In einem Entwurf zu einem „Euthanasie“-Gesetz (vor dem 11.08.1939), das nie kam, war die Rede von Geisteskranken, derer „Mißgestalt in der Öffentlichkeit Schauder“ erregen würde, die auf „niedrigster tierischer Stufe“ stünden. Später ist vage, dégoûtant, entwertend die Rede von „sich oder andere stark belästigenden, oder sicher zum Tode führenden Krankheiten“ oder Menschen, die „im Leben nicht zu bestehen [vermögen]“ (Belege bei Hörnig 2023: 163f).
9 An Schwach-Sinnigen haftete bei allen frühen Bildungsversuchen (Idiotenanstalten, Hilfsklasse der 1890er-Jahre) häufig das Odium von Verwahrlosung, arbeitsscheuer, psychopathischer Minderwertigkeit oder „moralischem Schwachsinn“ (Bleuler; Koch). Diskurse (Kölle 1901) spekulierten darüber, ob „Idiotismus“ eine Form von Atavismus sei, ob somit im Sinne eines Darwinismus eine „Rückwärtsentwicklung“ stattgefunden hätte. Dieser Atavismus war bereits bei Trisomie 21 („mongoloid idiocy“) vermutet worden.
10 Darwin, Charles (1875): Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. 3. Aufl. Bd. 1, Stuttgart: Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Koch), 174.
11 Nicolai, Georg Friedrich (1917): Biologie des Krieges. Betrachtungen eines Naturforschers, Bd. 1. Zürich: Orell Füssli, 81.
12 Binding & Hoche (1920) nehmen den Staat als Garanten der Ethik in die Pflicht, formulieren die „Pflicht zu gesetzlichem Mitleid“ (31), sprechen von „höherer staatlichen Sittlichkeit“ (56) und zielen dabei auf die Vernichtung „lebensunwertem Lebens“ „geistig Toter“ und weiterer „Ballastexistenzen“.
13 Für die diffamierten „Gegenbilder“ wird nie der Begriff „Menschen“ gebraucht. Es wird allenfalls von „Menschenleben“, „Lebensträgern“ oder schlicht „Leben“ gesprochen. Leben ist kreatürlich; dadurch haben Menschen per se keinen Sonderstatus oder -wert in Schöpfung oder Evolution.
14 Binding & Hoche 1920: 29-33. Gruppe a) würde heute unter assistierten Suizid fallen und war Ausgangspunkt der gesamten Diskussion, Gruppe c) betraf vor allem das Heer komatöser Kriegsopfer, die auf grausame Weise zwangsernährt wurden, Gruppe b), die mit vager, undiagnostischer Rede beschrieben wurde, die aus postchristlichem „Mitleid“ (Binding) getötet werden sollten als „unverbotenes Heilswerk von segensreichster Wirkung“. Dies wurde 1895 bei Adolf Jost („Recht auf den Tod“) erstmals thematisiert; ähnliche Gedanken finden sich bei Paul Sollier. Binding & Hoche (1920: 51) beziffern die Anzahl der sich „in Anstaltspflege befindenden Idioten“ auf 20-30.000, von diesen „unheilbar Blödsinnigen“ und „geistig völlig Toten“ ohne „Rapport zur Umgebung“ seien gerade einmal 3-4000 zur Vernichtung vorzusehen. Eugenik (Zwangssterilisationen) war kein Thema.
15 Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen: J.C.B. Mohr, 2. Aufl. Bd. II (1928), Art. „Eugenik“ (Gaupp), Sp. 406-408. Der Professor für Psychiatrie in Tübingen, Robert Eugen Gaupp (1870-1953), entschiedener Rassenhygieniker, Monist, schulbildend, erläuterte „Fortpflanzungshygiene“ und Sterilisationen, dann anti- und pronatalistischen den Begriff „Eugenik. Er hatte in einer Besprechung (Deutsche Strafrechtszeitung, 7. Jahrgang, 1920, Heft 11/12, 338) ausgeführt, dass der „Hauptgegner“ der Schrift von Binding & Hoche „im religiösen Lager“ stünde und die „Unantastbarkeit des Lebens“ postulieren würde. RGG, 2. Aufl. Bd. III (1929), Art. „Lebensunwertes Leben“ (Faber), Sp. 1513-1516; RGG, 3. Aufl. Bd. IV (1960), Art „Lebensunwertes Leben“ (L. Loeffler), Sp. 255-257, und RGG, 4. Aufl., Bd. V (2002), „Lebensunwertes Leben“ (Martin Honecker), Sp. 160-162. Der Begriff wird zunehmend kritischer behandelt.
16 Sabine Schleiermacher (1998: 277) fasst die Integration eugenischer und rassenhygienischer Gedanken in die protestantische Sozialethik, vornehmlich durch die Praktiker im Centralausschuss der Inneren Mission, wie folgt zusammen: „1. Die Integration der Darwinschen Evolutionstheorie in die protestantische Soziallehre, 2. Die Definition des christlichen Fürsorgeauftrages im Licht der wissenschaftlichen Sozialhygiene, 3. Die Ausrichtung des Fürsorgegedankens am Wohl der Gemeinschaft als einem über dem Individuum stehenden, nun christlichen Wert, 4. Die Überformung des Gemeinschaftsgedankens durch nationale, völkische und rassische Kategorien.“ Es fehlte Trennschärfe zum Darwinismus wie zur NS-Ideologie.
17 Dr. Dr. Hans Harmsen (1899-1989), Sozialhygieniker und Bevölkerungswissenschaftler im Dienste der IM, inspirierte die Treysaer Beschlüsse (1931). Galt als „Hakenkreuzler“; sympathisierte mit „Euthanasie“. Später Mitbegründer von Pro Familia.
18 Das Gesetz, war eine verschärfte Fassung eines Entwurfes des Preußischen Landtages (1932). Insbesondere die Zustimmung wurde deutlich eingeschränkt. Es wurde ab 01.01.1934 umgesetzt. Für die Insassen von Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalten sowie Gefängnissen konnten Anstaltsleiter oder Amtsärzte eine Sterilisation beantragen, wenn die „seelsorgerliche“ Beeinflussung nicht zielführend, also zustimmend, gewesen war. Dann schritten Erbgesundheitsgerichte unverzüglich zur Tat.
19 „Was dürfen wir sagen?“ war die Frage z.B. an das württembergische Dekanat Münsingen. In Sichtweite von Stadt und Amtsgericht lag die Tötungsanstalt Grafeneck. „Was sollen wir sagen?“ war die Frage an Oberkirchenräte in München, Stuttgart, Bielefeld oder München. Pfarrämter fragten vergeblich nach Gebeten und Ansprachen. Reaktionen gab es nur in Westfalen und Bayern. Die von Pastor Ernst Wilm und Hilfsprediger Ulrich Dähne 1941 erstellten „Ratschläge zur Bestattung Geisteskranker“ wurden leider komplett durch die GESTAPO eingezogen und vernichtet. Beide wurden bestraft. Bayern bot im Dezember 1940 eine hektographierte Notagende zur „URNENBEISETZUNG“ an: „Von in Anstalten verstorbenen und verbrannten Gemeindegliedern. (Vorbem.: Es kann wie üblich geläutet werden, auch zu Beginn und am Schluß ein geeignetes Lied gesungen werden. Die Urne kann allein oder nach Wunsch der Angehörigen in einem Sarg getragen werden. Von einer Ansprache ist abzusehen und nur das folgende Formular zu gebrauchen.)“ Punkt 3 war die „Verlesung des Lebenslaufes.“ Ansonsten waren es beerdigungsübliche Texte und Lesungen; keinerlei Hinweise auf die näheren Umstände (LkAN-KKU 12/III; Umdruck des LKR an die Dekanate vom 02.12.1940).
20 Art. „Begräbnis“, in RGG (1929), 2. Aufl. Bd. I, Sp. 851-859 (Greßmann; Thümmel; Schian). Tübingen: Mohr Siebeck. Ausgeführt wurden klassische Topoi: Danksagung für das Leben, Verkündigung des Glaubens von der Auferstehung, Bestätigung der christlichen Gemeinschaft. Die für die Opfer der Krankenmorde gewählte Form kam der sepultura minus honesta von Selbstmördern oder ungetauften Kindern nahe. Auf die Biographie, die gewohnte „Ehrerweisung“, Gesang, Geläut oder Öffentlichkeit wurde in der Regel verzichtet.
21 Bei einer „Tumba“ handelte es sich um eine Sargattrappe oder ein Scheinsarg, ein hölzernes, meist zusammenklappbares Lattengerüst mit einem schwarzen Überwurf. Am Ende der Totenmesse konnte dort die Absolutio super tumulum (lat. „Lossprechung über dem Grab“), ein fürbittendes Gebet, abgehalten werden.
22 Erlaß des Ev. Oberkirchenrats [Stuttgart] über Gottesdienst zum Gedächtnis Gefallener, 4. Juni 1940, Nr. A 5332.
23 Gemeint war die traditionelle, kirchlich vorgeschriebene sakramentale Kommunion (Sterbekommunion) am Lebensende (das „Brot der Pilgerschaft“) als Wegzehrung für das Hinübergehen (Viaticum) in das ewige Leben. Gläubige sollten nicht ohne dieses Sakrament aus dem Leben scheiden. Die Kommunion mit Leib und Blut Christ galt als besonders wichtig, als Same des ewigen Lebens und Kraft zur Auferstehung (Joh. 6,54). Dies konnte eine Messfeier am Krankenbett beinhalten, Beichte, Krankensalbung, Eucharistie.
24 Vielleicht sollten diese Forderungen, wenn erfüllt, „Sand in das Getriebe“ der Tötungen streuen. Versehgänge wären nicht reibungslos ins industrielle Tötungsgeschehen zu integrieren gewesen.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2024