Sie gehören zur künstlerischen Standardausstattung evangelischer Kirchen: die Paramente. Aber haben sie eine Zukunft? Viele Paramentenwerkstätten ringen jedenfalls um ihren Fortbestand oder sind schon vom Markt verschwunden. Katharina Hinz äußert sich anlässlich des 100jährigen Bestehens der Marienberger Vereinigung für Paramentik e.V. zur Wirkmächtigkeit eines veraltet geglaubten Altarschmucks.
Erster Akt
Nehmen wir einmal an, Sie sind als Pfarrer oder Pastorin mit der Vorbereitung eines festlichen Gottesdienstes beschäftigt, bei dem ein schlüssiges Konzept vorliegt, die Akteure eingeweiht sind, der Organist die Lieder geübt und die Predigt gelungen scheint. Nehmen wir an, Sie können am Samstagabend mit einem Glas Rotwein die ganze Situation überdenken und für gut befinden: eine Gemeinde, die Vertrauen hat, Arbeitskreise, in denen neue Gedanken entstehen und eine Jugendgruppe, in der es Gespräche gibt, die selbst in unruhigen Zeiten Perspektiven eröffnen.
Sie sitzen und können zufrieden durchatmen – als eine Vorstellung den inneren Frieden stört: Hat jemand an den Kirchenraum, den Altarschmuck gedacht? Wer war verantwortlich, gibt es jemanden, der Schuld sein könnte? Gibt es frische Blumen, trockene Streichhölzer – und in welcher Farbe sollten die Antependien aufliegen? Weshalb muss man sich immer um alles kümmern, weshalb denkt niemand anderes an so etwas – und wofür sollte das überhaupt gut sein? Braucht es die Sachen, die man immer erst suchen muss, die einem gefühlt unter den Fingern zerfallen und eine eher unangenehme Erinnerung auf den Spuren des Geruchssinns von der Nase in das Verarbeitungszentrum im Gehirn hinterlassen?
„Alles Blödsinn“, alles ist am PC, am Smartphone und im letzten Dreiergespräch vorbereitet, der Talar im Schrank und das Beffchen gebügelt – und dann die Konfrontation mit dem Kirchenraum. „Muss ich mir das alles eigentlich antun?“ Schließlich folgt ein Gedanke: beim nächsten Mal lasse ich das alles einfach weg. Mal sehen, ob es überhaupt jemand bemerkt, von den Jüngeren bestimmt niemand.
Zweiter Akt
Nehmen wir an, dass Sie Samstagabend für den nächsten Tag einen gemeinsamen Ausflug in eine etwas entlegene Stadt planen. Einen Tourismusführer benötigt man nicht, der Markt mit der historischen Kirche ist gut wiederzuerkennen, nach dem Gottesdienst ist sie sicherlich geöffnet. Alles läuft nach Plan, und Sie besichtigen den Innenraum mit den historischen Pfeilern, die Sie an die Vorstellung erinnern, dass mit den Stützen im übertragenen Sinn die Apostel die Gemeinschaft der Gläubigen tragen. Das Langhaus wird als Schiff bezeichnet; umgedreht könnte das Gewölbe mit etwas Phantasie zu dem Bild eines Schiffsrumpfs passen. Wie gut es tut, ohne Verantwortung unter Bögen und Gewölbekappen durch einen Kirchenraum zu wandeln. Zum Schluss fällt der besonders belichtete Chorraum ins Auge, der zusätzliche Altar, mit dem die Pfarrerinnen und Liturgen näher an der Gemeinde agieren. Der Altar fällt nicht weiter auf, weder negativ noch positiv, bis ein Detail die Aufmerksamkeit weckt: Weshalb hängt hier ein weißes Antependium, obwohl bereits die Trinitatiszeit begonnen hat? Außerdem sieht es schäbig aus, dreckig, und der Stern könne ja vermuten lassen, dass es hier seit Weihnachten vergessen sei. Mutmaßungen, sicherlich, aber nicht unrealistisch.
Anschließend folgt eine Stärkung auf einem belebten Platz im Zentrum, an solch einem Tag darf es ein leckeres Rindersteak für Ihn sein, bestenfalls medium gebraten, ein Pils, und für Sie eher Salat, mit Baguette. Man genießt die Stimmung, den Abstand von Aufgaben und Sorgen, kann sich immer mehr entspannen und spürt seit Langem das Gefühl von Gemeinsamkeit. Da man auch nach dem Espresso gern noch sitzen bleibt, folgen zwei Gläser Weißwein, trocken natürlich, bis die Sonne hinter den Giebeln verschwunden ist.
Das mit dem Parament wird dann doch noch thematisiert, also zu Ihrer Studienzeit wäre so etwas nicht vorgekommen, und überhaupt, müsse man ja sogar Rot zu Pfingsten vergessen haben. Aber wahrscheinlich sei den jungen Leuten das alles auch nicht mehr wichtig – wofür es keine App auf dem Smartphone gäbe, könne ja niemand mehr etwas erwarten. Außerdem bedauert man, dass die Symbole heute kaum noch verstanden würden, weder ein Schiff, noch ein Netz mit Fischen, noch zweimal fünf Öllampen. Man müsse ja froh sein, wenn die Konfirmanden noch das Zeichen der Krippe erkennen – oder gar die Bedeutung eines Kreuzes deuten können.
Die Überlegungen zur Bedeutung hergebrachter Symbole stärkt die Eintracht Ihrer Gemeinschaft, die Sie bei der Diskussion über Predigttexte schon lange nicht mehr verspürten. Es tat unbemerkt gut, für das kritische Gerede, das nicht nur unter Eheleuten Gemeinschaft stiftet, unverfängliche Objekte gefunden zu haben, bei denen gelegentlich die eigene Überforderung fernliegt.
Da auf den Höhen, die den Ort begrenzen, die Sonne noch scheint, nutzen Sie abschließend Ihre Zeit für einen Spaziergang durch den noch lichten Wald. Die Strahlen, die zwischen den Baumstämmen helle Diagonalen zeichnen, stellen das Zusammensein noch einmal in ein besonders schönes Licht. Hier auf den Wegen kehrt die Erinnerung an die Schiffe im Kirchenraum zurück, die dort durch Pfeiler und hier durch Baumstämme strukturiert werden. Das Blätterdach sei mit dem Gewölbe zu vergleichen – und sehen nicht einige Astansätze oder Pilze aus, als hätten die Stämme Gesichter? Erinnern sie nicht ein wenig an die Apostelfiguren der Kirchenpfeiler?
Der Tag bleibt in wunderschöner Erinnerung. Die Stärkung – das blutrote Steak, das Brot, das Glas Wein. Das Licht, die besonderen Strahlen auf dem Waldweg, die Unterhaltung, die auf Einigkeit gründete. Weshalb nicht jeden Sonntag Lichtstrahlen unter dem hoffnungsgrünen Blätterdach!
Dritter Akt
Nehmen wir einmal an, am Samstagabend, lassen Sie die vergangene Woche Revue passieren und schwenken zur Planung eines freien Sonntags. Sollte man trotzdem zeitig aufstehen, um nach einem kurzen Frühstück zum Gottesdienst zu gehen? Neulich war es so angenehm, die Neige Kaffee in der Tasse nicht herunterzustürzen, sondern noch sitzen zu bleiben. Zu spüren, dass sich der Körper langsam entspannen konnte; Sie nahmen seit langem Ihren Atem wahr, Gedanken breiteten sich aus, ohne dass zuvor der PC hochgefahren wurde. Sie hatten den Eindruck, am Stuhl fixiert zu sein und konnten sich von dieser Anziehungskraft erst lösen, als Sie sich gestärkt fühlten. Lohnt es sich wirklich, oder bleibt wieder ein vertrautes, fahles Gefühl zurück, vom Gottesdienst kaum profitiert zu haben? Sollte man sich mehr einsetzen, neben den vorhandenen Aufgaben oder es sich auf dem Kissen derer bequem machen, denen die Unsicherheit über die Zukunft der eigenen Gemeinde und der Institution Kirche ohnehin über den Kopf wächst? Allerdings – der Alltag ist auch ohne ein weiteres Engagement weder bequem noch langweilig.
Das Problem liegt allerdings nicht nur in schwindenden Zahlen der Gottesdienstbesucher, sondern auch in einem besorgniserregenden Zustand des Gebäudes. Der Glaube an ewige Beständigkeit von Stahlbeton wurde genauso erschüttert wie die Zuversicht auf eine raumfüllende Kirchenmitgliedschaft. Daher stellt sich die Frage nach einer Nutzung des Kirchenraumes, mit der anstehende Sanierungen zu finanzieren sind. Dabei besteht die Gemeinde etwa zur Hälfte aus Menschen, die sich an den Neubau ihrer Kirche gut erinnern können. Dazu gehören die zahlreich zugezogenen Familien, die Planungen des Gemeindezentrums, weil kirchliches Leben mehr als Gottesdienste und Kasualien beinhalten und die Angebote für die verschiedenen Altersgruppen. Die Aufbruchstimmung in den Jahrzehnten, in denen rauchende Industrieschlote noch Zeichen von Fortschritt und Zukunft bedeuteten, schien grenzenlos zu sein. Zwar führen äußere Einflüsse in Gesellschaft und Politik zu neuen Fragen, nur dass man ihnen lange Zeit kaum Glauben schenken wollte. Weshalb werden nicht mehr alle Kinder der Umgebung getauft und weshalb stellt die Konfirmation nicht mehr die einzige Form einer Feier zur Lebenswende dar? Und die Berichte, dass in vielen Schulen mit Rücksicht auf die interkulturelle Vielfalt der Familien weder eine Weihnachtsfeier stattfinden noch ein symbolträchtiger Baum aufgestellt werden darf? Bei der Umschreibung der Engel als „Jahresendpüppchen“ bleibt nur noch wenigen der Mund offenstehen, weil sie in Abgrenzung zur sozialistischen Festkultur wenigen bekannt ist.
Die wachsende Vielfalt kultureller Einflüsse und Bedürfnisse wirkt unüberschaubar und ist diffus. Dabei gehen damit Chancen einher, die Mut machen. Dennoch bleibt der Eindruck zurück, dass das alles zu viel ist, dass man sich Zeit nehmen müsste, dem nachzuspüren, sich umfassend zu informieren, einen eigenverantwortlichen Umgang mit Vielfalt zu entwickeln: nur wann? Gäbe es einen Ort, an dem man mal kurz aus dem Alltag, dem Schreibtisch mit Akten und dem alles beherrschenden PC, dem Radio und dem Handy entfliehen könnte. Einen Ort, an dem Ruhe herrscht, an dem nicht tausend Eindrücke auf einen niederprasseln, einen Ort, der nichts von einem erwartet und der die Wirkmächtigkeit besäße, aus einer inneren Kraft zu schöpfen. Gibt es nicht doch einen Raum, in den man mit diesen imaginären Lasten eintreten kann? Oder müsste man ihn dafür aufräumen, mit professioneller Hilfe gestalten, vielleicht baulich verkleinern?
Vierter Akt
Sie als Pfarrerin, Pfarrer gehen ohne Zeitdruck in die Kirche und laufen herum. Sie sind schon lange dort, es müsste eine Veränderung geben, bald würde Ihre Stelle ausgeschrieben werden, und man kann sich nicht sicher sein, ob sich ein geeigneter Nachfolger fände. Sie setzen sich und werden von der Vielfältigkeit der Erinnerungen, die mit dieser Kirche zu tun haben, wie an die Bank fixiert. Das Vertrauen, das Sie genießen, bestärkt Sie, aber auch Sie brauchen die Menschen und spüren, dass das alles nicht selbstverständlich ist. Als Sie die Gemeinde übernahmen, gab es eine zukunftsgerichtete Aufbruchstimmung. Vielleicht während des Vikariats erlebten Sie das Ausschreibungsverfahren für den Neubau der Kirche mit. Sie staunten, wie viele Details zu bedenken sind, haben mit offenen Ohren die Begründungen für diese und jene Gestaltung verfolgt und fragten sich, weshalb ästhetische Fragen im Studium keinen Platz hatten. Künstler, Architekten und Designer verknüpften mit einer bestimmten Formensprache Glaubensinhalte, was aufgrund des lutherischen „sola scriptura“ zunächst irritierend wirkte. Mittlerweile sind die Eindrücke diffus geworden, die Erinnerung an die überzeugenden Begründungen des Architekten für den konkreten Baukörper ungenau.
Der Altarraum wurde durch lange schmale Fenster mit starken Vertikalen gegliedert, durch die besonders viel Licht einfallen kann. Er ist sehr hell und die Lichtführung ändert sich gemäß dem täglichen Lauf der Sonne sowie dem Einfallswinkel der Jahreszeiten. Der Altar, den ein Künstler aus besonderem Holz gestaltet hat, steht im Zentrum einer abgestuften Außenwand. Eine große Öffnung in der Mitte lässt den Blick durch den Altar gleiten, als könne man durch eine Barriere in eine andere Welt sehen. Das Kreuz auf der schmalen Wandfläche besteht aus Holz und ist übermächtig groß, für manche zu groß, aber es konnte von jemandem preiswert aus der Gemeinde gezimmert werden und gehört zum Inventar wie die ältesten Mitglieder.
Aber weil die Oberflächenbeschaffenheit der Prinzipalstücke für die Gestaltung wesentlich ist, dürfen diese nicht abgedeckt werden. Bei Abendmahlsgottesdiensten finden es manche störend, wenn der Kelch ungedämpft auf der Altarplatte landet. Das sei aber unvermeidlich, schließlich könne es auch zum Nachdenken anregen – so die Antwort auf die Kritik. Leider gehen mit dem Fehlen einer Altardecke auch Flecken auf der Mensa einher, die nicht wie bei einem Leinenstoff in Seifenlauge abzuwaschen sind. Schließlich fand jemand eine ältere Decke, hatte sie gewaschen und breitete sie über dem Altartisch aus. Sie war zwar schmaler, aber die Funktion erfüllt sie dennoch. Und bei dieser Gelegenheit kamen auch die alten Antependien zum Vorschein – nicht gerade modern, aber doch ganz hübsch? Diese und andere Details wurden während des Ausschreibungsprozesses nicht thematisiert und begleiten die Besprechungen mehr oder weniger über die Jahre.
Das riesige, polygonal gebrochene Kirchenschiff sollte als in sich geschlossener Raum erscheinen, in dem die Gottesdienstbesucher von der Außenwelt abgeschirmt sein können, sich geborgen fühlen und in der sich eine heilige Atmosphäre, eine transzendente Kraft auszubreiten vermag. Allerdings stören sich andere an den hohen Betonwänden, durch das schmale Fensterband könne man die Natur gar nicht wahrnehmen. Jemand hatte sogar den Begriff „Bunker“ benutzt: die Außenwelt sei nichts, von der man sich abgrenzen müsse, sie ist vertraut, dort spielt sich das Leben ab, dort seien sie zu Hause.
Aus Anlass eines Jubiläums hatten Sie den Architekten und den Künstler eingeladen, die in ihren Grußworten die Beständigkeit der Gemeinde und ihr Interesse für kulturelle Werte lobten. Aber beide gossen unerwartet Öl in ein Feuer, das bisher nur schwelte: der Architekt störte sich nicht nur an Einbauten von praktischen Schränken, knallroten Aufklebern mit Feuerlöschern, Garderoben und Kissenstapeln. Er verwies gut ausformuliert auf die Rechte, die mit seiner Idee und Konzeption bestünden und die beispielsweise mit der einschneidenden Sanierung der Nebengebäude, bei der auf überflüssig erscheinende Gestaltungselemente verzichtet wurde, verletzt wurden. Denn sowohl die Idee als auch die Gesamtkonzeption sind mit dem Namen und Qualitätsansprüchen des Architekturbüros verbunden.
Auch der Künstler, der die Ausschreibung für die Prinzipalien gewonnen hatte, begann mit lobenden Worten für die Gemeinde und die Wirkung des Kirchenraums, um dann seinerseits mit Kritik nicht zurückzuhalten. Eine Gestaltung der Einrichtungsobjekte Altar, Ambo und Taufe wäre als Gesamtkonzept zu verstehen, das für diesen konkreten Kirchenraum entwickelt worden war. Das Material, die Oberflächenstruktur spiele dabei eine außerordentliche Rolle und stünde in Beziehung zu anderen Objekten. Zu sehen, dass sie zugedeckt waren, täte ihm persönlich in der Seele weh. Vor allem aber verletze ihn der farbige Stoff am Altar, der die ausdifferenzierte Öffnung und deren Kontur verdecke, die sich mit der Änderung der Betrachterstandpunkte auf spannungsvolle Weise verschiebe. Dem Künstler war seine Enttäuschung anzumerken, seine Stimme drohte zu brechen, niemand aus der Gemeinde hatte wahrgenommen, wie sehr er sich mit diesen Arbeiten identifizierte. Der Künstler fühlte sich unverstanden, weil er mit diesem Entwurf unter Beteiligung der Gemeinde das langwierige Ausschreibungsverfahren gewonnen hatte. Auch die Gemeinde hatte sich im Vertrauen auf kirchlich und liturgisch geschulte Gestalter auf den teuren Wettbewerb eingelassen, weshalb die unbeteiligten Gemeindeglieder entsetzt reagierten: ihnen sei doch ein Kreuz wichtig, eine Altardecke, die man reinigen kann, Antependien mit den liturgischen Farben am Altar und an der Kanzel – das sei doch immer so gewesen. Liturgische Funktion, Bedeutung, Pflege und Verschleiß, Rechte der Kirche sowie Bild- und Gestaltungsrechte der Architekten und Künstler waren nicht thematisiert worden. Dabei hüllte der damalige Pfarrer sein Unbehagen in Zurückhaltung, die während des Bauprozesses verebbte.
Mittlerweile stehen ganz andere Probleme im Vordergrund, der Raum ist viel zu groß für diejenigen, die noch zu kirchlichen Veranstaltungen kommen, unter dem Glockenturm klaffen Risse und die Gedanken an die Zukunft dieses Ortes, dieser Kirche, sind alles andere als zuversichtlich. Die alten Probleme wären nicht mehr zu lösen und stünden zu den Fragen, ob und wie die Kirche überhaupt zu halten sei, in keinem Verhältnis.
Fünfter Akt
Szene im Sommerurlaub. Unsere Gedanken werden leichter: Bilder von weiten Wiesen, Schmetterlingen, Meer oder Bergen erscheinen vor dem inneren Auge. Gefühle lassen sich mit Zeitlosigkeit, Erhabenheit oder Würde umschreiben. Beim Gehen verändert sich die Landschaft immer wieder, man wechselt die Perspektiven und wird von Ausblicken überrascht. Mit der Bewegung gehen auch die Gedanken spazieren, Wahrnehmung wird zum Thema.
Nehmen wir für diese Imagination an, dass eine Kapelle in der Landschaft zum Ziel wird. Man erwartet vom Innenraum nicht viel, denkt an den Geruch von feuchtem Mauerwerk, verwelkten Blumen und dreckigen Bänken. Menschen kommen Ihnen entgegen, die Kamera noch in der Hand. Weil es manchmal Überraschungen gibt, einen guten Spruch, eine mittelalterliche Figur oder Wandmalereien, mag man nicht achtlos vorübergehen. Außerdem könnte es angenehm kühl sein. Und dann erfüllt Sie ein unerwarteter Eindruck: frisch gelüftet, Blumen wie aus einem alten Pfarrgarten stehen auf einem Altar mit sauberer weißer Altardecke ohne Spitzenmuster, die Kerzen sind angezündet und die Farben der Paramente passen zum Kirchenjahr. Sie tauchen in eine andere Welt ein, Sie setzen sich, weil Sie Zeit brauchen, um die Eindrücke zu fassen. Auch wenn die Figuren des historischen Altarretabels ungelenk wirken, zieht die Lichtführung des Gemäldes auch Ihre Blicke zu den wesentlichen Details der Darstellungen mit Szenen der Passion Jesu: zentrale Glaubenssätze, zu denen Ihnen sofort die entsprechenden Bibelstellen einfallen.
Die Blicke wandern zwischen Altarretabel und Antependium hin und her, es ist gar nicht konventionell mit Symbolen bestickt, sondern Farben und Formen korrelieren mit dem Altarbild, die Lichtführung scheint hier eine Fortsetzung zu finden – als würde jemand mit den Lichtstrahlen spielen, sie brechen, verschatten, ineinander verschmelzen lassen. Die Gestaltung ist so vielfältig, dass der Blick hin und her wandert, immer neue Details entdeckt, Ihr Interesse auf Farbspektren fokussiert. In Ihnen geschieht etwas, Gefühle von Lebendigkeit, Weite machen sich breit, auch, weil die Eindrücke nicht plakativ, eindeutig, vielleicht sogar doktrinär entstanden. Vor diesem Hintergrund haben Sie selbst ein obligatorisches Kreuz nicht vermisst.
Noch am Abend sind die Eindrücke der Kapelle präsent, aber Sie reflektieren sie anders. Sie denken, dass dem ein künstlerisch professionell erarbeitetes Konzept zu Grunde liegen müsse, dass ein saniertes Gebäude, einen restaurierten Altar und liturgische Textilien mit hervorragender Gestaltung in professioneller Ausführung umfasst.
Man möchte davon berichten, andere an dieser wunderbaren Erfahrung teilhaben lassen, aber man muss sich eingestehen, dass die Worte und Formulierungen für eine überzeugende Beschreibung nicht ausreichen. Farben unter den entsprechenden Lichtverhältnissen führen ein Eigenleben und sind in jedem Augenblick Veränderungen unterworfen, sofern z.B. die direkte Sonneneinstrahlung aufhört, sobald Kunstlicht mit gezielt zu bedienenden Leuchtkörpern eingesetzt wird oder sich die Tageszeiten ändern.
Dabei verändern sich im Gedächtnis mit der Zeit die Proportionen und Konturen der einzelnen Objekte. Ihre Statik, ihre Anordnung und Staffelung verschwimmen, weil sie für den Eindruck des Erlebten nicht wesentlich sind. Aber sie verknüpfen sich mit einem Gefühlsgemisch, dass spezifisch für diesen Kirchenraum ist. Als imaginierte Bilder wirken sie in Ihrem Inneren, wenn man bewusst darauf zurückzugreifen versteht, bestärkend, lebendig, bewusstseinsbildend. Modern ausgedrückt, stärken gute Erinnerungen die persönliche Resilienz, sind eher ein immaterielles Geschenk, mit Freude zu vergleichen. Gleichzeitig analysiert das Gehirn nicht, inwieweit sich das innere Bild über die Zeit vom Original weiterentwickelt hat, Fragen von „richtig“ und „falsch“ sind unerheblich, sind unwesentlich. Lichtwirkung und Farbgebung unterlaufen während der Erinnerungen einen Prozess, bei dem sich der Eindruck des inneren Bildes an die Gefühlslagen des nachhaltigen Betrachters angleicht. An sonnigen Tagen leuchtet und strahlt das erinnerte Bild regelrecht, sobald die Erinnerung im Alltag zurückkehrt, verschwinden die Konturen, und an trüben Tagen überwiegen Grautöne und alles wirkt flach und leblos. Aber sobald Ihnen bewusst wurde, dass hier etwas verblasst, konnten Sie gegensteuern und eine Lichtquelle in der Gestaltung spüren.
Sechster Akt
Im Pfarrkonvent wurde ungewöhnlich lange über die Probleme gesprochen, die Gemeinden und die Kirchengebäude in die Zukunft zu führen. Dabei erschienen die letzten Jahrzehnte fast rosig, obwohl man auch damals vor allem über Schwierigkeiten debattiert hatte. Im Rückblick wirkte alles klarer, strukturierter, es gab nicht um jedes zweite Ausstattungsstück einen Wettbewerb, die Versicherung klagte keine Handläufe, Rampen und Schutzgitter ein, und Ausstattungsstücke konnte man bei speziellen Händlern und Werkstätten in der Region beziehen.
In diesen Gesprächen wurden auch die allenthalben alternden Paramente thematisiert, die man wohl nicht waschen könne. Dabei stellte sich die Frage, ob man so etwas überhaupt erneuern wolle oder ob der Altar nicht auch ohne die Bekleidung schön anzusehen sei? Notwendig wäre sie nicht, und der Blumenschmuck, um den sich mehrere Gemeindemitglieder zuverlässig kümmern, sähe auf jeden Fall anspruchsvoller aus. Eher unerwartet erhebt jemand Einspruch und kann von einem positiven Prozess innerhalb der Gemeinde berichten, seitdem die Gestaltung der Paramente in den Blick genommen wurde. Die Beratung durch eine erfahrene Paramentikerin in Zusammenarbeit mit einer Kunstwissenschaftlerin hätte ihnen die Augen für den Kirchenraum als Ganzen geöffnet. Man mochte sich auf wesentliche Ausstattungsstücke fokussieren und nicht mehr jede verfügbare Ecke für eine weitere Aussage nutzen wollen. Und man einigte sich darauf, dass in einen Kirchenraum keine Geschenke, keine kleinen Kunstwerke und keine Zimmerpflanzen gehören. Die Beobachtung, wie an den Fenstern, der Bemalung, dem Gestühl, verschiedene Farbtöne verteilt sind, ergab, dass man ausschließlich den Altar mit Paramenten schmücken möchte.
Weil bei Tageslicht die Sonne durch das Ostfenster scheint, und die Vorderseite manchmal verschattet ist, einigt man sich auf eine transparente Gestaltung mittels abwechslungsreicher Gewebetechnik. Damit erscheint bei Auflicht die Oberflächenstruktur in mannigfaltigen Überkreuzungen der Gewebefäden und bei Durchlicht flimmern Lichtpunkte und überlagern sich, ohne dass das Gewebe genau zu erkennen wäre. Obwohl manche ein Musterbuch mit christlichen Motiven erwartet hatten, aus denen man etwas aussuchen könnte, waren die Überlegungen über die Symbolik der liturgischen Farben so überzeugend, dass sie für sich spricht.
Die Teilnehmende berichtet sehr glücklich über die Zeit, die sie sich für diesen Prozess genommen hatten und der auch der Gemeinde ganz neue Impulse vermittelte. Informationen über die Bedeutung der einzelnen Bestandteile, ihre Geschichte, Symbolik und die Vielfalt der Möglichkeiten in Formensprache, Technik und Material waren auf großes Interesse gestoßen. Immer häufiger blieben Gottesdienstbesucher nach dem Orgelausklang sitzen, um die Gestaltung auf sich wirken und die Gedanken schweifen zu lassen. Man erzählt, dass Leute aus dem Ort gekommen wären, um sich im Detail anzuschauen, wovon nach der Einweihung in der Presse berichtet wurde. Die Pfarrer waren sich sicher, dass ein gut gestaltetes Parament, dass ein eher dezenter Beitrag innerhalb des großen Kirchenraumes eine Wirkung entfalten kann, die den ganzen Raum verändert. Ja, die überkommenen Paramente sind alt und mittlerweile aus der Zeit gefallen. Aber moderne Zeiten sind auch Einfallstore für zeitgenössische Paramente!
Epilog: Paramente sind Gottesdienst in nonverbaler Vertretung
Diese Szenen sind selbstverständlich konstruiert. Sonst würde ich nicht um den Gottesdienst an sich herumargumentieren. Aber sie nehmen Situationen in den Blick, die für die Wirkung auf Gemeindemitglieder und Besucher von Bedeutung sind und meist marginal behandelt werden. Mit der Szene im Sommer mag angeklungen sein, dass moderne Paramente eine nachhaltige Wirkung beim Betrachter ausüben. Paramente, die in einem professionell begleiteten Prozess innerhalb einer spezifisch geprägten Gemeinde, eines konkreten Raumes und einer aktuellen Situation entwickelt werden, sind wirkmächtig, nachhaltig und sinnstiftend. Paramente sind der Tradition nach aus natürlichen Materialien geschaffen, deshalb altern sie wie Schnittblumen in der Vase und verfehlen ihre Wirkung nicht, wenn sie in zeitgenössischer Formensprache den Charakter des Kirchenjahres anzeigen. Moderne Paramente bewegen sich im Spannungsfeld zwischen angewandter Kunst und traditionellem, hochqualifiziert ausgeführtem Handwerk. Im Gegensatz zu einem solitären Kunstwerk, das kein Umfeld verträgt und die Räumlichkeit wechseln kann, zeichnen sich Paramente durch ihre Bezüge zum Gottesdienstgeschehen, dem Verweischarakter auf die Glaubensinhalte und den Raum aus.
Deshalb sind im Ausblick die Werkstätten der Marienberger Vereinigung e.V. zu empfehlen, die in diesem Jahr ihr 100jähriges Jubiläum feiern kann. Schauen Sie auf die Homepage der Marienberger Vereinigung für Paramentik und lassen Sie sich zu den Angeboten der einzelnen Mitgliedswerkstätten leiten!
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2024