Dass die Kirchensteuer ein gleichwohl effektives wie problematisches Modell für die Finanzierung kirchlicher Arbeit darstellt, ist lange bekannt. Ihre Akzeptanz sinkt weiter rapide und drückt sich im Mitgliederschwund aus. Gibt es Alternativen? Christian Grethlein beurteilt die gegenwärtige Praxis ökonomisch und theologisch und bewertet ein anderes Finanzierungssystem und damit auch Bild von Kirche.*
1. Empirische Ausgangslage
Empirisch ist seit der 1. EKD-Mitgliedschaftsumfrage, die 1972 durchgeführt wurde, klar: Kirchensteuer ist in Deutschland ein Auslaufmodell. Damals wurde eine repräsentative Stichprobe von 2000 Mitgliedern evangelischer Landeskirchen ab 14 Jahren befragt, u.a. zur Kirchensteuer: „Heute wird die Kirchensteuer mit der Lohn- bzw. der Einkommensteuer einbehalten. Es gäbe auch die Möglichkeit, daß sich die evangelische Kirche statt dessen durch freiwillige Zahlungen ihrer Mitglieder finanziert. Was erscheint Ihnen richtig? Kirchensteuer wie bisher oder freiwillige Zahlungen?“ 47%, also eine Minderheit, votierten für „Kirchensteuer wie bisher“, 52%, also die Mehrheit, für „freiwillige Zahlungen“, 1% machte „keine Angaben“.1 Der EKD-Berichtsband zu dieser Umfrage kommentierte hierzu – aus heutiger Sicht erstaunlich selbstkritisch: „Die Parallelität, in die die Kirche mit dem Staat tritt, indem sie auch ‚Steuern‘ nimmt, ist an sich schon anstößig, und der Steuerärger, den man dem Staat gegenüber empfindet, überträgt sich auch auf die Kirche. Das problematische Einzugsverfahren (samt dem an die Lohn- und Einkommenssteuer gekoppelten Berechnungsmodus) fällt zusätzlich ins Gewicht. Dazu kommt ein ganzes Bündel von eher moralischen Problemen. Das Verhältnis ‚Kirche und Geld‘ ist für die Mitglieder ungeklärt … Es gibt Vorwürfe der mangelnden Transparenz, der Ineffizienz, der Ungreifbarkeit vieler kirchlicher Leistungen.“2
Seither sind fünfzig Jahre vergangen. Die Kirchensteuer ist nach wie vor das wichtigste Finanzinstrument der evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Allerdings kommt zunehmend der Zusammenhang von Kirchensteuer und Kirchenaustritt in den Blick. Vor allem bei jüngeren Menschen scheinen Kirchensteuer und Kirchenaustritt eng miteinander verbunden.3 So wird bei einer Auswertung einer entsprechenden Befragung konstatiert: „Insgesamt erweist sich die erstmalige Zahlung der Kirchensteuer als ein entscheidender Punkt, der zum Nachdenken (sc. über den Kirchenaustritt, C.G.) anregt.“4 Die dabei leitende Logik formuliert ein junger Erwachsener bei der Befragung: „fragt man sich ja dann schon, wenn man seine Lohnabrechnung sieht, wieso zahle ich denen (.) so viel Geld jeden Monat, speziell wenn man auch weiß, dass es in anderen Ländern anders ist (…) und es (.) nicht automatisch abgebucht werden müsste.“5 In heutiger Nutzersicht handelt es sich also um ein „Abo-Modell, für das man lebenslang zahlen muss, um im Lauf des Lebens ein paar Leistungen in Anspruch nehmen zu können.“6 Von daher verwundert es nicht, dass hauptsächlich Kirchenmitglieder im Alter zwischen 25 und 35 Jahren aus der Kirche austreten. Etwa 30% der getauften Männer und 22% der getauften Frauen verließen bis zum 31. Lebensjahr die Kirche.7
2. Heutige Probleme
Steuer ist ein abstraktes, staatlich festgelegtes Finanzinstrument, von einem konkreten Zweck losgelöst. Sie setzt eine selbstverständliche und mit entsprechender Durchsetzungskraft agierende Autorität voraus. Demgegenüber verändert sich das Profil religiöser Kommunikation. Der Soziologe Armin Nassehi stellte bei der Auswertung entsprechender Interview-Äußerungen einen Wandel der Form religiöser Kommunikation von der „Autorität“ zur „Authentizität“ fest.8 Also nicht mehr: „Die Kirche sagt“, sondern konkrete, mitgeteilte Erfahrungen einzelner Menschen bestimmen heute religiöse Kommunikation und Plausibilität. Von daher verwundert es nicht, dass nach einer Repräsentativumfrage 2023 74% der Befragten die Kirchensteuer für nicht mehr zeitgemäß halten.9
Steuerpflicht und freiwillige Gaben
Vor allem fehlt der Steuer der Bezug auf etwas Konkretes; sie ist prinzipiell abstrakt. Gaben für bestimmte Anliegen und Zwecke sind dagegen beziehungsbezogen. Sie verbinden die Spendenden mit denen bzw. dem, wofür gespendet wird, und teilweise auch untereinander. So stellen sie einen Akt der Partizipation dar, etwas was bei der heutigen kirchensteuerbezogenen Finanz- und Mitgliedschaftsregel fehlt.10 Dies ist in einer Situation, in der die konkrete Beziehung zu Kirche und kirchlicher Arbeit bei vielen Menschen verloren geht bzw. – vor allem bei Jüngeren – nie vorhanden war, ein wichtiger Gesichtspunkt. Gewinnung finanzieller sowie sonstiger Mittel und Beziehungspflege gehören heute zusammen.
Kirchenmitgliedschaft
Kirchentheoretisch ist die mit der Kirchensteuer verbundene binäre Struktur der Kirchenmitgliedschaft ein Problem. Mit ihr werden frühere Differenzierungen und damit Dynamiken in der Kirchenzugehörigkeit11 unterlaufen bzw. ausgeblendet, die jedenfalls lebenspraktisch auch heute begegnen. So galten in der Alten Kirche Katechumenen bereits als kirchenzugehörig, ebenso die kurz vor der Taufe stehenden „Photizomenoi“. Umgekehrt bestanden bei den Getauften mit Verfehlungen, also den sog. Pönitenten, Akzentuierungen bei der Kirchenzugehörigkeit, etwa in Form besonderer Buß-Übungen.
Dass die exklusive Verbindung Kirchensteuer – Kirchenmitgliedschaft heute praktische Probleme aufwirft, macht ein rascher Blick ins kirchliche Arbeitsrecht deutlich, wenn es um die Beschäftigung Nichtgetaufter oder aus der Kirche Ausgetretener in kirchlichen oder diakonischen Einrichtungen geht. Stichwort: EKD-Loyalitäts- bzw. jetzt: Mitarbeitsrichtlinie.12 Auch kommt es in der Kasualpraxis, etwa hinsichtlich der gewünschten Patenschaft13 von Nichtkirchenmitgliedern oder der Bestattung Ausgetretener14 oft zu Problemen. Hier wird ein rein bürokratisch-rechtliches, an der binären Kirchenmitgliedschaftskodierung orientiertes Handeln, das die Pfarrperson zum Religionsbeamten degradiert, den konkreten Herausforderungen häufig nicht gerecht (und in der Praxis deshalb auch wohl meist nicht praktiziert).
Taufe und Geld
Theologisch führt schließlich die rechtlich direkte Verbindung von Taufe und Kirchenmitgliedschaft zum einen zu einer problematischen Verknüpfung von Taufe als sakramentaler Handlung und Geld, insofern diese mit Kirchensteuerpflicht verbunden ist. Dazu tritt eine schwierige Verkürzung des Kirchenverständnisses. Demgegenüber konstatierte Martin Luther etwa in seiner Schrift gegen Ambrosius Catharinus 1521: „An welchen Zeichen erkenne ich die Kirche? Es ist nämlich notwendig, daß ein sichtbares Zeichen gegeben wird, unter dem wir uns gemeinsam versammeln, um das Wort Gottes zu hören. Antwort: Ein Zeichen ist notwendig, und wir haben es auch, die Taufe nämlich, das Brot und, von allen am mächtigsten, das Evangelium. Diese drei sind Symbole, Wahrzeichen und Merkmale der Christen. Wo du nämlich siehst, daß Taufe, Brot und Evangelium sind, an welchem Ort auch immer, bei welchen Personen auch immer, dort ist unzweifelhaft die Kirche. In diesen Zeichen will Christus uns einigen (Eph 4).“ (WA 7,720)15 Es liegt auf der Hand, dass die beiden hier über die Taufe hinaus genannten „Zeichen“, das Abendmahl und das Evangelium, nicht einfach in eine binäre Kodierung zu übersetzen sind. Oder praktisch gefragt: Gehört ein Mensch – in theologischer Perspektive – der christlichen Kirche an, der nie am Abendmahl teilnimmt?16
Angesichts dieser Probleme muss über Alternativen zur Kirchensteuer nachgedacht werden.
3. Alternativen zur Kirchensteuer
Mandats- bzw. Kultursteuer
Bei alternativen Finanzierungsmodellen für Kirche wird gegenwärtig wohl am meisten das u.a. in Italien gebräuchlicheModell der sog. Mandats- bzw. Kultursteuer „otto per mille“ diskutiert. „Mit der Mandatssteuer kann der Steuerpflichtige selbst wählen, welcher sozial tätigen gemeinnützigen Organisation die Abgabe zugutekommen soll, einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, dem Staat oder einer gemeinnützigen Vereinigung. Im Gegensatz zur Kirchensteuer kann man sich der Mandatssteuer nicht entziehen. Sie stellt eine Pflichtabgabe dar, die von allen Steuerzahlern verbindlich gezahlt wird. Der Steuerzahler hat lediglich die freie Wahl, welcher Institution sein Beitrag zugutekommt.“17 In Italien können seit 1990 die Steuerpflichtigen per Steuererklärung über die Verteilung von 8 Promille der staatlichen Einkommenssteuereinnahmen entscheiden. Damit hat dieses Modell einen egalitären Charakter, „denn das Votum eines jeden Bürgers, einer jeden Bürgerin zählt gleich viel, und zwar unabhängig von der Höhe des Einkommens.“18 Etwa 40% der Steuerzahler*innen machen zur Zeit von diesem Wahlrecht Gebrauch. „Für diejenigen, die kein Mandat erteilt haben, werden die gewählten Präferenzen auf alle beteiligten Institutionen prozentual aufgeteilt.“19 Gegenwärtig profitiert z.B. die kleine, aber diakonisch sehr engagierte Waldenserkirche von diesem Verfahren. Bei einem Bevölkerungsanteil von 0,7% erhielt sie 2018 3,34% des „otto per mille“.20 Mit der Mandats- bzw. Kultursteuer wird der Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements für den Staat Rechnung getragen. Dadurch, dass nur zugelassene Organisationen21 gewählt werden können, wird ein eventueller Missbrauch durch radikale Gruppierungen verhindert.
Allerdings machen Juristen darauf aufmerksam, dass eine solche Steuerform in Deutschland wohl22 eine Verfassungsänderung erforderte, weil sie die Gesamtverantwortung des Parlaments für die Staatsausgaben einschränkte und so gegen das „Demokratieprinzip“ verstieße.23 Auch verletze eine direkte Übertragung des „otto per mille“ die grundgesetzlich gebotene Trennung von Staat und Kirche.24 Europarechtlich ist sie aber zweifellos möglich.
Ökonomisch weist Frank Weyen zu Recht darauf hin, dass der Umfang der Mandatssteuer – in Italien 0,8%, in Spanien 0,52% und in Ungarn 1% der Einkommenssteuer – deutlich unter dem der deutschen Kirchensteuer mit 9 bzw. 8% der Einkommenssteuer liegt,25 wobei mittlerweile noch Kirchensteuer auf Kapitalerträge erhoben wird.26 Es ist in der Tat nicht vorstellbar, dass in der gegenwärtigen politischen Situation in Deutschland eine Mandatssteuer eingeführt wird, deren Erträge in der Größenordnung heutiger Kirchensteuer lägen. Von daher kann sie nur ein Baustein bei der Neuordnung kirchlicher Finanzierung sein. Dieser allerdings wäre in kommunikationstheoretischer Perspektive von erheblicher Bedeutung. Denn die mit diesem Modell verbundene Öffentlichkeit ermöglicht und erfordert einen Kontakt auch zu und mit Menschen, die nicht zur sog. Kerngemeinde gehören.
Fundraising
Ähnliches gilt für das Instrument des Fundraising, verstanden als „die strategisch geplante Beschaffung von finanziellen Ressourcen oder von Sachwerten, von Zeitkontingenten ehrenamtlicher Mitarbeiter zur Verwirklichung von am Gemeinwohl orientierten Zwecken unter Verwendung von Marketingsprinzipien.“27 In Form von Kollekten, Sammlungen, Erbschaften und Stiftungen hat es durchaus auch im deutschen Protestantismus Tradition.28 Vor allem sind beim Fundraising Geben und persönliche Beziehung miteinander verbunden: „Eine Unterstützerleistung bzw. Spende enthält das intendierte Signal der Gebenden, Gemeinschaft mit anderen Menschen teilen und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe (Kirchengemeinde) haben zu wollen.“29 Insgesamt kann gelten – und zeigt den engen Zusammenhang zwischen dieser Finanzierungsmethode und dem Gemeindeaufbau: „Die Methoden und Technika des Fundraisings zur Einnahmeerzielung machen nur dann innerkirchlich Sinn, wenn diese einen Beitrag zur Verbesserung der kommunikativen Nähe zum Gemeindeglied leisten können und so Gemeinde entwickeln helfen.“30 Finanzierung von Kirche bzw. kirchlicher Arbeit durch Fundraising bekommt einen partizipativen Charakter, wenn das Sammeln von Spenden nicht nur einem vorgegebenen Zweck folgt, sondern zugleich offen ist für Anliegen, die die Spendenden selbst einbringen und für wichtig erachten. Allerdings ist insgesamt zu beachten, dass in Deutschland jedenfalls gegenwärtig eine zurückhaltendere Kultur des Gebens herrscht als z.B. in den USA.31 Weyen merkt an: „Die Implementierung des Fundraisings in Deutschland ist abhängig von einer grundlegenden Lebenshaltung der Bürgerinnen und Bürger. Ohne eine großzügige Lebenshaltung des Einzelnen kann Fundraising niemals US-amerikanische Dimensionen erreichen“.32
So liegen mit der Mandatssteuer sowie dem Fundraising zwei wichtige Vorschläge zur alternativen Finanzierung von Kirche vor, die heutigen Verhältnissen und religiösen Einstellungen entsprechen. Beide zeichnen sich durch eine inhaltliche Profilierung sowie damit stärkeren persönlichen Bezug zwischen Gebenden und Zweck der Gabe als die Kirchensteuer aus. Allerdings dürften sie – zumindest in absehbarer Zeit – nicht den zumindest gegenwärtig33 noch durch die Kirchensteuer erzielten Ertrag einbringen. Es stellen sich also bei abzusehendem Wegfall der Kirchensteuer grundsätzliche Fragen zur Gestaltung von Kirche, die bisher in Deutschland wesentlich als staatsanaloge Institution – in Form einer Körperschaft des öffentlichen Rechts – verfasst ist und agiert.
4. Was ist Kirche? – Relativierung der Frage nach der Kirchensteuer
Bei den bisherigen Überlegungen wurde – entsprechend der rechtlichen Verankerung von Kirchensteuer – unter Kirche eine Körperschaft des öffentlichen Rechts verstanden,34 wozu sowohl die Landeskirchen als auch die Kirchengemeinden gehören. Ein Blick ins Neue Testament – hier exemplarisch am Begriff „ekklesia“ durchgeführt – zeigt aber die sachlich problematische Beschränktheit dieser Begriffsverwendung:
„▬ Ekklesia bezeichnet die Christen im ökumenischen, also den ganzen bewohnten Erdkreis umspannenden Sinn (1Kor 4,17; Mt 16,18).
„▬ ‚Ekklesiai‘ (Plural) begegnen in Städten, etwa in Korinth (1Kor 1,2),
„▬ oder in Landschaften, z.B. in Syrien und Zilizien (Apg 15,41).
„▬ Auch die Institution des Hauses, also die soziale Vorform der Familie, wird mehrfach ‚ekklesia‘ genannt (Röm 16,5; 1Kor 16,19; Phlm 2; Kol 4,13).“35
Die Rechtsfigur der Körperschaft des öffentlichen Rechts umfasst lediglich die beiden mittleren Sozialformen von „Ekklesia“ im Neuen Testament. Theologisch gesehen geht es also bei der heutigen Frage nach der kirchlichen Finanzierung nur um zwei Formen von Kirche. Soziologisch gesehen sind sie diejenigen, deren Bedeutung in der Gegenwart zurückgeht. Menschen haben – wie auch ein Blick auf Vereine und Parteien zeigt – heute eher Interesse an zeitlich begrenzten, konkreten Projekten als an langdauernden (formalen) Mitgliedschaften. Demgegenüber gewinnen durch die digitale Kommunikation die direkten personalen Kommunikationen, angefangen von multilokalen Mehrgenerationenfamilien bis hin zu Social Communities, an Bedeutung. Dagegen verlieren durch die Mobilität vieler Menschen die früher in agrarisch strukturierten Gesellschaften wichtigen lokalen Stabilitäten an Gewicht, wie sie etwa durch die kirchlichen Parochien repräsentiert werden. Die globale Internet-Kommunikation lässt zugleich die früher so wichtigen konfessionellen und zunehmend auch religiösen Differenzen zurücktreten.
Vor allem die Netzwerk-Struktur entspricht der von Nassehi festgestellten Tendenz religiöser Kommunikation zur Form der Authentizität in hohem Maß. Damit sind besondere Herausforderungen an Einzelpersonen verbunden, die durchaus – wie ein Blick in die Influencer-Szene zeigt – auch problematische Seiten haben.36 Zugleich lassen sich aber auch erfolgreiche Modelle des „Community-Building“ im Netz beobachten.37 Entscheidend sind hier – theologisch formuliert – das Charisma sowie – sozialpsychologisch gesehen – das persönliche Engagement der in das Netzwerk Eingebundenen.
5. Was kommt nach der Kirchensteuer?
Offenkundig war die Einführung der Kirchensteuer in Deutschland ein wichtiges Instrument beim Übergang von den Kirchen als staatlichen zu staatsanalogen Institutionen. Zugleich kann aber nicht behauptet werden, dass die mit der Kirchensteuer verbundene staatsanaloge Institutionalisierung von Kirche heute die Verbundenheit der Menschen mit ihr fördert. Das zeigt z.B. ein Vergleich mit den USA, wie Felix Roleder konstatiert: „Das Gemeindeleben dort ist zumeist erheblich stärker von regelmäßiger Teilnahme und individueller Geselligkeit geprägt als in Deutschland. … In den USA nehmen viel größere Bevölkerungsteile regelmäßig an kirchlichen Angeboten teil und die sozialen Netzwerke unter den Teilnehmerinnen sind im Durchschnitt viel dichter.“38 Dies verwundert nicht, da dort die Finanzierung kirchlicher Arbeit wesentlich durch Fundraising und damit projekt- und beziehungsbezogen erfolgt. Die Abstraktion vom konkreten Verwendungszweck und persönlichen Beziehungen ist dagegen ein Merkmal von Steuern.
Theologisch besonders problematisch ist bei der Distanz der meisten Kirchenmitglieder in Deutschland – nicht nur in reformatorischer Perspektive – deren Abstinenz vom Abendmahl. Denn die damit auf Gemeinschaft bezogene Kommunikation ist von Anfang an ein wesentliches Charakteristikum der christlichen Lebensform.39 Im Miteinander-Essen und -Trinken sowie der dabei inkludierten gegenseitigen Rücksichtnahme aufeinander rekurriert sie auf eine für Leben grundlegende Sozialform.
Formen der Finanzierung von Kirche wie die Mandatssteuer und das Fundraising machen das Geben persönlicher und fördern damit die Beziehung zwischen Kirche und den Menschen. Ich vermute, dass Verhandlungen mit staatlichen Stellen über eine Mandatssteuer – und die hierfür eventuell notwendige Verfassungsänderung – nicht aussichtslos wären. Nicht zuletzt angesichts der Herausforderungen durch Flüchtlinge haben Kirchengemeinden ihre Bedeutung für die Gesamtgesellschaft deutlich gemacht. Das „Sozialkapital“40 von Kirche ist auch sonst sowohl in diakonischer als auch pädagogischer Hinsicht unübersehbar. Allerdings wäre dadurch – wie erwähnt – keine vollständige Kompensation der Kirchensteuer gegeben. Auch deshalb kommt weiter dem Fundraising große Bedeutung zu. Hierzu eröffnen sich im Bereich der Zivilgesellschaft neue Räume. Der zunehmende Einfluss von NGOs (Nongovernmental Organizations) – und deren Finanzierung durch freiwillige Gaben – auch in Deutschland zeigt dies deutlich.
Es dürfte wohl jedem/jeder einleuchten, dass ein System wie die Kirchensteuer nicht von Heute auf Morgen abgeschafft werden kann, ohne zu erheblichen Turbulenzen und Problemen zu führen. Von daher schlage ich „eine rechtzeitig angekündigte und vielfältig kommunizierte, jedes zweite Jahr stattfindende Absenkung der Kirchsteuerquote vor. Wenn es zu einer Absenkung jeweils um 1% käme (also nach zwei Jahren von 9% der Lohn- bzw. Einkommenssteuer auf 8%; zwei Jahre später auf 7% usw.) wäre der Ausstieg aus dem System Steuer innerhalb von knapp zwanzig Jahren … zu bewerkstelligen. … Wie schon erwähnt, müsste dieser Prozess auch hinsichtlich der Veränderung in anderen Finanzierungsformen begleitet werden“41, also die Einführung einer Mandatssteuer sowie den Ausbau von Fundraising. Schon bisher mancherorts gebräuchliche Finanzierungen wie das Kirchgeld könnten in diesem Zusammenhang stärkere Beachtung finden.
Auf jeden Fall wäre aber mit einem Wegfall der Kirchensteuer ein erheblicher Umbau der Organisation von Kirche von einer staatsanalogen Institution zu einem fluiden Netzwerk zu bewältigen. Geht man von den drei, aus dem ntl. Zeugnis des Wirkens Jesu abgeleiteten Modi der Kommunikation des Evangeliums42 aus, ergeben sich folgende Perspektiven:
Wie auch die neueste Kirchenmitgliedschaftsumfrage zeigt, ist die Einstellung der meisten Menschen, nicht nur der Kirchenmitglieder, zu diakonischen Aktivitäten positiv.43 Hier geschieht jenseits der staatsanalogen Kirchenstrukturen heute bereits Kommunikation des Evangeliums in intensiver, allgemein evidenter Weise. So bieten sich z.B. diakonische Einrichtungen, also der Modus des Helfens zum Leben, als Kristallisationspunkte für kirchliche Gemeinschaften an. Stichwort: diakonische Kirche.44
Zum zweiten legt sich – sowohl aus theologischen Gründen als auch auf Grund der Einstellung der meisten Menschen in Deutschland – eine sehr viel engere ökumenische Kooperation nahe. Für die meisten Menschen spielen die aus dem 16. Jh. überkommenen Lehren und damit auch Lehrtrennungen keine Rolle mehr. Das gemeinschaftliche Feiern kann hier neue Impulse erhalten. Stichwort: eucharistische Kirche.45
Schließlich bedarf der Modus des Lehrens und Lernens heute aktueller Konkretionen. Hier führen Ansätze weiter, kirchliches Handeln an den jeweiligen Gegebenheiten des konkreten Sozialraums zu orientieren.46 Damit dürften zunehmend Formen der digitalen Kommunikation und damit der ästhetischen Präsentation verbunden sein. Stichwort: alltagsnahe Kirche.47
Insgesamt bahnt sich also eine Umprofilierung des Verständnisses von Kirche an. War diese seit dem 4. Jh. durch obrigkeitlich formulierte Glaubenssätze, Hierarchien und Liturgien bestimmt, so tritt heute wieder mehr das Christsein als umfassende Lebensform48 in den Blick. Informelle Kommunikationen, angefangen von familiären über nachbarschaftliche bis hin zu digitalen Verbindungen, haben hier größere Bedeutung als institutionelle Organisationsformen mit umfangreichen Verwaltungen und festen Stellenplänen. Ihnen kommt Assistenzfunktion für die Gestaltung alltäglichen Lebens zu. Diese Einsicht schafft nicht zuletzt größere finanzielle Spielräume.
Anmerkungen
* Vortrag auf dem Theologischen Tag der Nordkirche am 14. Mai 2024; s. grundlegend aus kirchrechtlicher Perspektive: Christian Grethlein, Evangelische Kirche im Transformationsprozess – eine Herausforderung für Evangelisches Kirchenrecht, in: ZevKR 61 (2016), 376-393; ders., Kirchensteuer im Transformationsprozess heutiger evangelischer Landeskirchen in Deutschland, in: KuR 22 (2016), 188-195.
1 S. Helmut Hild, Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung, Gelnhausen/Berlin 1974, 97.
2 A.a.O., 96f.
3 S. die entsprechende Grafik bei Fabian Peters/David Gutmann/André Kendel/Tobias Faix/Ulrich Riegel, Mitgliederorientierung als Zukunftsaufgabe von Kirche, in: Dies., Kirche – ja bitte! Innovative Modelle und strategische Perspektiven von gelungener Mitgliederorientierung, Neukirchen-Vluyn ²2020, 14-28, 19.
4 Michael Ebertz/Monika Eberhardt/Anna Lang, Kirchenaustritt als Prozess: Gehen oder bleiben? Eine empirisch gewonnene Typologie (KirchenZukunft konkret 7), Berlin 2012, 171.
5 A.a.O.; s. auch Tilmann Haberer, Kirche am Ende. 16 Anfänge für das Christsein von morgen, Gütersloh 2023, 23f.
6 Haberer, Kirche, 23.
7 S. Sophie Thieme, Reformvorschläge der Kirchensteuer in der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2022 (Göttinger Universitätsdrucke), 22.
8 S. Armin Nassehi, Religiöse Kommunikation. Religionssoziologische Konsequenzen einer qualitativen Untersuchung, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009, 169-203, 176-178.
9 Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov (dpa-Meldung vom 17.07.2023).
10 Udo Schnieders, Mitgliederorientierung – Stresstest für eine missionarische Kirche, in: Gutmann/Peters/Kendel/Faix/Riegel (Hg.), Kirche – ja bitte, 183-195. 193 nennt Fundraising eine „Sonderform des Bindungsmarketings“.
11 S. Christian Grethlein, Taufen (Praktische Theologie konkret 1), Göttingen 2020, 116f.
12 „Richtlinie des Rates der EKD über kirchliche Anforderungen der beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie“ (Abl. EKD 2017.11) sowie mittlerweile überarbeitet und am 8.12.2023 veröffentlicht „Richtlinie des Rates über die Anforderungen an die berufliche Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie (Mitarbeitsrichtlinie)“, die allerdings erst noch von Gliedkirchen und diakonischen Verbänden bzw. Einrichtungen rezipiert werden muss.
13 S. hierzu Grethlein, Taufen, 112-115.
14 S. Lutz Friedrichs, Bestatten (Praktische Theologie konkret 2), Göttingen 2020, 82-89.
15 Zitiert bei Wolfgang Huber, Auf dem Weg zu einer Kirche der offenen Grenzen, in: Christine Lienemann-Perrin (Hg.), Taufe und Kirchenzugehörigkeit. Studien zur Bedeutung der Taufe für Verkündigung, Gestalt und Ordnung der Kirche, München 1983, 488-514, 500.
16 S. zu diesbezüglichen Statistiken und empirischen Befunden: Christian Grethlein, Abendmahl feiern in Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Leipzig 2015, 124-132.
17 Frank Weyen, Kirche in der finanziellen Transformation. Fundraising für evangelische Kirchengemeinden (APrTh 50), Leipzig 2012, 205.
18 Franz Segbers, Neuausrichtung der Finanzierung von Religionsgemeinschaften im säkularen Staat (Studien 11/2020), Berlin, Oktober 2020, 26.
19 Ebd.
20 S. ebd.
21 In Italien müssen die Organisationen einen entsprechenden Vertrag mit dem Staat abschließen, den das Parlament ratifiziert. „Der Vertrag regelt die organisatorischen Anforderungen im Einzelfall und sorgt dafür, dass die Mittel transparent verwendet werden.“ (a.a.O., 33)
22 Zu den nur historisch erklärbaren, in sich spannungsvollen und so unterschiedliche Interpretationen ermöglichenden Bestimmungen des Staat-Kirche-Verhältnisses in Deutschland s. systematisierend: Elias Bornemann, Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates (JusEcc 129), Tübingen 2020, 101f.
23 So Thieme, Reformvorschläge 143.
24 S. a.a.O., 148.
25 Weyen, Kirche, 205.
26 Auch das in Italien seit 2006 zusätzlich eingeführte System des „cinque per mille“, also der Möglichkeit für Steuerpflichtige, 0,5% der Einkommenssteuer zugunsten von Non-Profit-Organisationen u.Ä. zweckzubestimmen (s. Thieme, Reformvorschläge 140), ändert daran nichts Grundsätzliches.
27 Weyen, Kirche, 104.
28 S. a.a.O., 22.
29 A.a.O., 63.
30 A.a.O., 23.
31 S. a.a.O., 129-137.
32 A.a.O., 138.
33 Allerdings zeichnet sich hier – nicht zuletzt als Konsequenz der Verrentung der Babyboomer-Generation sowie der gehäuften Austritte Jüngerer – ein rapider Rückgang der Kirchensteuer-Höhe ab, wie sich bereits 2023 zeigt (Rückgang des Kirchensteueraufkommens – ohne Berücksichtigung der Inflation – 53%; EKD, Kirchensteuerstatistik 2023. Statistischer Bericht, April 2024, 4).
34 S. zur juristischen Ambivalenz dieses Konzepts für Kirche Hans-Peter Hübner, Evangelisches Kirchenrecht in Bayern, München 2020, 155-157; vgl. umfassender Stefan Magen, Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit. Zur Bedeutung des Art. 137 Abs. 5 WRV im Kontext des Grundgesetzes (JusEccl 75), Tübingen 2004.
35 Christian Grethlein, Praktische Theologie, Berlin ²2016, 338; s. zu den einzelnen Textbefunden Karl Ludwig Schmidt, Ekklesia, in: ThWNT Bd. 3 (1938/1957), 502-535; s. zum paulinischen Kirchenverständnis Hans-Joachim Eckstein, Gottesdienst im Neuen Testament, in: Ders./Ulrich Heckel/Birgit Weyel (Hg.), Kompendium Gottesdienst, Tübingen 2011, 22-41, 40.
36 S. z.B. Kristin Merle, Religion und Öffentlichkeit. Digitalisierung als Herausforderung für kirchliche Kommunikationskulturen (PTHW 22), Berlin 2019, 395f.
37 S. a.a.O., 397-401.
38 Entsprechende empirische Ergebnisse zusammenfassend Felix Roleder, Die relationale Gestalt von Kirche. Der Beitrag der Netzwerkforschung zur Kirchentheorie (PTHe 169), Stuttgart 2020, 256; s. auch zur Spendenkultur Reicher in den USA Maja Göpel, Wir können auch anders. Aufbruch in die Welt von morgen, Berlin 2022, 285-294.
39 S. hierzu grundsätzlich und ausführlich Christian Grethlein, Christliche Lebensform. Eine Geschichte christlicher Liturgie, Bildung und Spiritualität, Berlin 2022.
40 S. Gert Pickel, Evangelische Kirche als Motor gesellschaftlichen Engagements, in: Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.), Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, März 2014, 108-116.
41 Grethlein, Kirchensteuer, 195.
42 S. Jürgen Becker, Jesus von Nazaret, Berlin 1996, 176-233.
43 S. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.), Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Erste Ergebnisse der 6. EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, Leipzig 2023, 64.
44 S. Christian Grethlein, Diakonisches Handeln als Form der Kommunikation des Evangeliums, in: PTh 2024/3.
45 S. hierzu, nach wie vor anregend, Dorothea Sattler/Friederike Nüssel, Menschenstimmen zu Abendmahl und Eucharistie. Erinnerungen – Anfragen – Erwartungen, Frankfurt 2004.
46 S. hierzu grundlegend Ralf Kötter, Im Lande Wir. Geschichten zur Menschwerdung für eine Kirche im Gemeinwesen, Leipzig 2020.
47 S. die „Praxisbeispiele kontextbezogene(r) Kommunikation des Evangeliums“, in: Christian Grethlein, Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext, Berlin 2018.
48 S. Grethlein, Lebensform, 17f.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2024