Dass das christliche bzw. kirchliche Liedgut nicht für alle Zeiten als Kanon festgeschrieben, sondern ständig „im Fluss“ ist, das ist eine Binsenweisheit. Das liegt schon allein an den sich mit der Zeit ändernden sprachlichen und musikalischen Ausdrucksformen und -vorlieben. Vor allem brachten geistliche „Umbruchszeiten“ neue Liedschöpfungen mit sich. Man denke nur an die Reformationszeit. Auch erweckliche Aufbrüche und unterschiedliche Frömmigkeitsstile führten zu ganz eigenen Liedgutbedürfnissen.
Beispielhaft seien genannt:
▮ die Herrnhuter Brüdergemeine, die in ihrer Entstehungszeit unermüdlich neue Liedschöpfungen hervorbrachte – nicht zuletzt durch ihren genialen Gründer Ludwig Graf von Zinzendorf;
▮ der Methodismus, über dessen Mitbegründer Charles Wesley es heißt, dass er „unter Berücksichtigung von Quantität und Qualität vielleicht der größte Hymnenschreiber aller Zeiten war“;
▮ die interkonfessionelle angloamerikanische Erweckungs- und Heiligungsbewegung im 19. Jh., die auch nach Deutschland und in andere europäische Länder ausstrahlte und den besonderen Typus der Heils- und Evangelisationslieder schuf.
Zeitbedingtes und zeitlos Gültiges
Für die Neuzeit muss an die Charismatische Bewegung erinnert werden mit ihren Lobpreis- und Anbetungsliedern. Auch schufen seit den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts „Liedermacher“ wie Peter Strauch, Manfred Siebald, Theo Lehmann und andere ein neues, modernes Liedgut, dessen ein oder anderer Text sich inzwischen ebenfalls als Liedklassiker durchgesetzt und den Weg in die Kirchenliederbücher gefunden hat. Und es verdrängten (in den Freikirchen wohl mehr als in den Landeskirchen) seit jener Zeit zunehmend Bands mit Schlagzeug und E-Gitarre die traditionelle Orgelbegleitung beim Singen von christlichen Liedern – oder ersetzten im Vorprogramm mit ihrem Auftritt den Chor.
Gleichwohl haben sich einige der schönsten Choräle aus dem 16. bis 19. Jh. bis heute halten können. Ich erwähne hier beispielhaft Lieder wie „Befiehl du deine Wege“ (Paul Gerhardt), „Ich bete an die Macht der Liebe“ (Gerhard Tersteegen), „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ (Joachim Neander) oder „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ (Georg Neumark). Sie sind aufgrund ihrer inhaltlichen Aussagen nicht nur zeitlos gültig, sondern (mit den ihnen zugeordneten Melodien) auch zeitlos „schön“.
Der freikirchliche Pastor Siegmar Assmann hat Anfang 2024 in der Zeitschrift „LebensLauf“ von folgender Erfahrung berichtet, die sehr bezeichnend ist: „Wie gut es ist, Texte auswendig zu kennen, habe ich erlebt, als ich in einem Altenheim Gottesdienste für Demenzkranke gehalten habe. Beim ersten Mal war es ein ganz normaler, evangelischer Gottesdienst, aber ich hatte das Gefühl: Die Leute bekommen gar nichts mit. Als ich aber einen alten Choral auf der Gitarre gespielt habe, haben alle ihre Augen aufgerissen und den Text auswendig mitgesungen. Ab da haben wir 20 Minuten lang gesungen, dann das Glaubensbekenntnis gesprochen und das Vaterunser gebetet. Alle waren voll dabei und glücklich. Die ältere Generation kennt noch viele Texte auswendig.“ Leider kann jedoch solcher im Gedächtnis fest verankerte Fundus von geistlichen Liedern zukünftig immer weniger vorausgesetzt werden.
Droht geistlicher Substanzverlust?
Doch die schleichende Eliminierung der alten Choräle bei gottesdienstlichen oder anderen christlichen Veranstaltungen und ihre damit verbundene sukzessiv fortschreitende mangelnde Präsenz im Erinnerungsschatz von Christinnen und Christen kann für die Gemeinden und ihre Mitglieder zu einem geistlichen Substanzverlust führen. Dieser Ansicht ist selbst der eine oder andere jener „Liedermacher“ aus den letzten Jahrzehnten, deren (beste) Lieder fraglos zu einer Bereicherung des traditionellen kirchlichen Liedgutes beigetragen haben. So meinte zwar Siegfried Fietz, der als Pionier und Bahnbrecher der modernen christlichen Popmusik und des „Neuen Geistlichen Liedes“ im deutschsprachigen Raum gilt, 2002 in einem IDEA-Interview, dass „jede Zeit ihre Sprache braucht“ und sich daher das christliche Liedgut nebst zugehöriger Musik in zeitgemäßer Form präsentieren müsse. Dennoch äußerte er auf die Frage, ob „die Zeit der Gerhard-Tersteegen- oder Paul-Gerhardt-Choräle vorbei“ sei: „Überhaupt nicht! Es gibt geradezu ewige Lieder wie ‚Nun danket alle Gott‘ oder ,O Haupt voll Blut und Wunden‘. Und ich mache Gemeinden Mut, diese Schätze immer wieder auszugraben, also auch singen zu lassen. Diese Lieder überdauern vieles, was wir heute machen.“
Und auch Peter Strauch plädiert in seiner Autobiografie „Meine Zeit steht in deinen Händen“ dafür, das alte, traditionelle Liedgut wertzuschätzen und in den Gemeinden nicht auf eine allzu einseitige Liedauswahl zu setzen. Zwar habe das Gemeindesingen in den letzten Jahrzehnten einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Dabei sei eine große Kreativität freigesetzt worden, die manche gute Lieder habe entstehen lassen. Doch Strauch gibt auch zu bedenken: „Wir beginnen nicht im Jahr ‚Null‘, sondern sind immer auch Teil einer langen Geschichte. Das gilt auch für die Kirchenmusik bzw. den Gemeindegesang. Wer das nicht sieht oder nicht sehen will, schneidet sich damit von einer Segensgeschichte ab.“
Christoph Zehendner wiederum hat 2020 in einem Interview bekannt, dass für ihn „in Krisenzeiten alte Choräle wie ‚Befiehl du deine Wege‘ oder ‚Wer nur den lieben Gott lässt walten‘ eine ganz besondere Bedeutung (haben).“
Für viele Kirchenlieder, die sich durch die Jahrhunderte gehalten und bewährt haben, gilt das Gütesiegel: unbedingt be- und erhaltenswert! Daher wäre es auch sinnvoll, wenn im Religions- und Konfirmandenunterricht (zumindest) die markantesten und aussagestärksten Strophen einiger Choräle wieder auswendig gelernt werden würden. (Das gilt auch für das eine oder andere „neue“ Lied der bereits erwähnten „Liedermacher“.) Hilfreich für das Heranführen der Jugendlichen an ein älteres Liedgut könnte u.U. eine möglichst plastische Darstellung der Entstehungsumstände und des Hintergrundes dieser Lieder sein. Doch mit Liedern, die in ihrer antiquierten Sprache nur noch von Älteren verstanden werden und/oder mit schwerfälligen und wenig eingängigen Melodien versehen sind, sollte man die Jugendlichen (und die Gottesdienstbesucher) nicht malträtieren.
Heils- und Evangeliumslieder
In den Vereinigten Staaten setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine besonders gefühlvolle geistliche Liedart mit volkstümlichen Melodien durch: die Heils- und Erweckungslieder (oder auch Evangeliums- und Evangelisationslieder). Dieses neue Liedgut stand in Verbindung mit erwecklichen Aufbrüchen, die damals das Land erfassten und bei denen sich viele Menschen für den Glauben öffneten und sich zu Jesus Christus bekehrten. Auch solche, die vorher nicht viel bis gar nichts mit der Kirche zu tun hatten. Vor allem der Evangelist Dwight L. Moody erreichte gemeinsam mit seinem Sänger Ira Sankey bei seinen Evangelisationskampagnen die Massen. In diesen Veranstaltungen, aber auch bei den Evangelisationen anderer Evangelisten und bald schon ganz allgemein in den kirchlichen Gottesdiensten wie auch im Alltag der Menschen kam immer mehr jener neue, populäre Liedtypus in Gebrauch.
Über diese Art von Liedgut die Nase zu rümpfen, wäre m.E. borniert. Denn diese Lieder erreichten tatsächlich die Menschen: ihre Seele, ihr Gewissen, ihr Gemüt. Durch sie wurden Glaubenswahrheiten und -erfahrungen in einer Weise ausgedrückt, dass sie persönliche Betroffenheit auslösten. Die Lieder waren nicht nur auf den sakralen Raum beschränkt, sondern begleiteten die Menschen wie moderne Schlager auch in ihrem alltäglichen Leben. Sie spiegelten ihre eigenen Gefühle und Empfindungen wider und waren Ausdruck einer intensiven, persönlichen Beziehung zu Gott. Sie vergewisserten und stärkten den Glauben. Und die (noch) ungläubig waren, luden sie eindringlich zum Glauben ein.
Eine der bekanntesten und populärsten Verfasserinnen von Heilsliedern war die als „Queen of Gospel Song Writers“ bezeichnete blinde Dichterin Fanny Crosby (1820-1915), deren Absicht es nach ihrem eigenen Bekunden war, „für ganz normale, einfache Leute, so wie sie uns im Leben begegnen“, zu schreiben. Viele ihrer Lieder wurden in andere Sprachen übersetzt. „Spitzenreiter“ sollte dabei „Sicher in Jesu Armen“ werden, das es auf über 200 Übersetzungen brachte.
Einen Durchbruch im deutschsprachigen Raum sollten die Heils- und Evangelisationslieder vor allem durch den methodistischen Pastor Ernst Gebhardt (1832-1899) erleben. Er trat nicht nur selber auf christlichen Veranstaltungen als Sänger auf, sondern gab auch zahlreiche Liederbücher mit „Evangeliumsliedern“ heraus. Wie groß die Akzeptanz und Beliebtheit dieser Lieder damals war, beweist die Tatsache, dass allein sein Liederbuch-Bestseller „Frohe Botschaft in Liedern“ am Ende eine Gesamtauflage von fast 900.000 erreicht haben soll. Ein großer Teil der von Gebhardt veröffentlichten Lieder stammte naturgemäß aus dem angloamerikanischen Raum. Viele von ihnen hat er kongenial ins Deutsche übertragen; einige Lieder sind aber auch selbst von ihm im Original gedichtet worden. Und auch durch den auf seine Initiative hin entstandenen „Christlichen Sängerbund“, dessen Präsident er zeitweise war, sorgte Gebhardt für eine weite Verbreitung der Heilslieder in Deutschland, wo sie vor allem in der innerkirchlichen Gemeinschaftsbewegung und den Freikirchen begeistert aufgenommen wurden.
Es blieb allerdings nicht aus, dass diese leicht einprägsamen Erweckungslieder, die sich durch schwung- wie gefühlvolle Melodien auszeichnen, auch auf Kritik und Ablehnung stießen. So bemängelte man etwa, dass sie zu anspruchslos und zu einfach in der Aussage und zu volksliedhaft in der Melodie seien. Immer noch bemerkens- und bedenkenswert ist in dem Zusammenhang allerdings, worauf Theophil Funk schon vor vielen Jahren in seiner Lebensbeschreibung über Ernst Gebhardt hingewiesen hat, indem er meinte, dass „wir heute mehr denn je (wissen), dass Menschen verschiedener Geschmacksstufe, Veranlagung und Bildung auch verschiedene Musik lieben und zum Ausdruck ihres Empfindens brauchen. Und das Evangelium will den Menschen nicht erst von einem bestimmten Niveau an ansprechen; es sucht ihn dort auf, wo er geistig zu finden und zu Hause ist.“
Auch wenn die Erweckungslieder inzwischen ihre größte Zeit hinter sich haben, so haben doch auch solche Lieder, die in besonderer Weise einer persönlichen Gottesbeziehung Ausdruck verleihen und/oder zum Glauben an Jesus Christus einladen, ihre Berechtigung. Dass diese Lieder (und ihre Melodien) sehr gefühlsbetont sind, darf kein Ausschlusskriterium sein. Menschen sind nicht nur „Kopfwesen“, ihre Gefühlsebene will und muss ebenso erreicht werden – auch bei der Vermittlung der christlichen Botschaft in Lied und Predigt. Es wäre daher gut, wenn sich zumindest einige der schönsten und besten dieser „Heilslieder“ in unsere Zeit „hinüberretten“ ließen und man zugleich offen ist für neue Lieder, die an die Tradition der „Heilslieder“ anknüpfen.
Worship Songs
Auch den sog. „Worship Songs“ (Anbetungs- und Lobpreislieder) ist in den Gottesdiensten ihr Recht einzuräumen. Sie werden nicht selten von einer Lobpreisband vorgetragen bzw. begleitet und sprechen vor allem jüngere Menschen an. Das hängt auch damit zusammen, weil diesen nach Meinung des Kulturbeauftragten der EKD, Johann Hinrich Claussen, die Klänge und die Instrumente – Schlagzeug, Keyboard, Bass, Gitarre – aus der Popmusik vertraut sind.
Durch die vor allem in der Anfangsphase eines Gottesdienstes gesungenen Worship Songs soll den Gottesdienstbesuchern die Möglichkeit gegeben werden, ganz bewusst den Blick von sich fort auf Gott und seinen Sohn Jesus Christus zu richten, sich die Herrlichkeit, Eigenschaften und Taten Gottes bewusst zu machen und ihnen gleichzeitig im Lobpreis Ausdruck zu geben. Ehrlicherweise muss aber festgestellt werden, dass die soeben beschriebene Funktion der Worship Songs im Prinzip auch von Chorälen geleistet werden kann – bei oftmals größerer Inhaltstärke der Texte!
Und so bleiben kritische Anfragen an die Worship Songs nicht aus: Der Musikmissionar und Anbetungsleiter Daniel Harter hat in einem IDEA-Interview auf den Hinweis, dass „modernem Lobpreis häufig vorgeworfen (wird), dass er nur wenig Inhalt hat“, dafür aber „der Refrain 20-mal wiederholt (wird)“, selber zugegeben: „Das ist richtig. In der Lobpreis-Szene ist nicht alles Gold, und es gibt einen Trend zur Oberflächlichkeit und zu Phrasen. Wir müssen aufpassen, dass das nicht kippt.“ Auch plädiert er für den Einsatz von deutschsprachigen Texten, da es für die meisten leichter falle, „in unserer Muttersprache in Gottes Gegenwart zu kommen als in einer Sprache, die wir beim Singen erst noch übersetzen müssen, um den Sinn des Textes zu verstehen.“ Beachtenswert ist auch Harters Feststellung, dass es „ein schmaler Grat zwischen Unterhaltung und Anbetung“ sei. „Einerseits brauche ich Bühnenpräsenz und kann nicht schüchtern in der Ecke stehen. Andererseits geht es beim Lobpreis nicht darum, dass die Leute am Ende mir applaudieren, sondern Gott.“ (IDEA 36/2023)
Schlussbetrachtungen
Dass sich – je nach Zusammensetzung der Gemeinde bzw. Gottesdienstbesucher – immer wieder Präferenzen bei der Lied(aus)wahl einstellen, bleibt nicht aus. Grundsätzlich aber sollte Liedern unterschiedlichen Typs und Alters im Gottesdienst ein gleichberechtigter Platz zuerkannt und der Besitz und Gebrauch eines vielfältigen Liedgutfundus in einer Gemeinde als Bereicherung angesehen werden. Martin Tuchscherer, Dozent für Liedbegleitung und Musikdidaktik an der Universität Halle, regte gegenüber dem Medienmagazin PRO (Ausgabe 2/23) an, dass man den Liedern, die im Gottesdienst gesungen werden, immer wieder auf den Grund gehen und fragen sollte: Wer steckt dahinter? Was ist ihre Aussage? Wie sind sie entstanden? Wörtlich meinte er: „Wenn ich Lieder im Gottesdienst gezielt aussuche und erkläre, warum ein Lied an einer bestimmten Stelle wichtig und passend ist, kann das auch den Streit über Stilfragen und Alter des Liedes mildern. Denn dann steht der Inhalt im Vordergrund.“
Hilfreich für die Akzeptanz unterschiedlicher Liedtypen und Musikstile könnte m.E. auch sein, wenn sowohl auf Kontinuität als auch auf Abwechslung bei der Liedauswahl Wert gelegt wird. Auch sollte die Musikbegleitung nicht zu laut und die Texte bzw. der Gesang der Lieder stets gut hör- und verstehbar sein.
Bei alldem gilt es sich immer wieder bewusst zu machen, dass das Singen von Kirchenliedern (auch) eine gemeinschaftsbildende und -fördernde Funktion hat, die im besten Fall alle Generationen miteinschließt – gemäß dem Psalmwort: „Alte mit den Jungen! Die sollen loben den Namen des Herrn; denn sein Name allein ist hoch, seine Herrlichkeit reicht, so weit Himmel und Erde ist.“
Literaturhinweis
Matthias Hilbert, Von Paul Gerhardt bis Manfred Siebald. 20 Lebensbilder alter und neuer Liederdichter, CV Dillenburg (ISBN 978-3863538798), 269 S., 17,90 €
Matthias Hilbert
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 10/2024