In der Ausgabe 07/2024 des Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatts wurde von mir unter der Überschrift „Erneuern oder untergehen“ ein programmatischer Aufsatz abgedruckt. Ich habe anschließend über 50 persönliche Zuschriften bekommen, die fast einhellig positiv waren. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Auch die direkten Kommentare auf der Homepage des Deutschen Pfarrerblattes unter meinem Artikel hatten größtenteils zustimmenden Charakter. In der Ausgabe 08/2024 des Pfarrerblattes waren hingegen vier Leserbriefe aufgeführt, die von teilweiser bis hin zu völliger Ablehnung geprägt sind. Inzwischen sind in der Ausgabe 09/2024 weitere Artikel und Leserbriefe hinzugekommen, die sich auf meinen Aufsatz beziehen. Zu diesen vielfältigen Reaktionen möchte ich im Folgenden Stellung nehmen.

 

Verbale Tiefschläge

Überrascht war ich über die Wortwahl eines ablehnenden Leserbriefs. Er unterstellt mir „großes Pathos“ und „Dreistigkeit“. Formulierungen von mir seien „unverschämt“. Ich würde „Frechheiten“ behaupten und wäre „lästig“. Das sind nur einige der verbalen Tiefschläge, die mir versetzt werden. Sicherlich: Ich habe in meinem Artikel Kritik geäußert. Sie hatte allerdings allgemeinen Charakter. An keiner Stelle habe ich jemanden persönlich angegriffen. Was mich selbst betrifft, habe ich überhaupt kein Problem damit, wenn man mich kritisch in die Mangel nimmt. Im Gegenteil: Ich erwarte das sogar. Aber muss das sein, über mich herzufallen wie ein wildgewordenes Raubtier? Ist das im Sinne Jesu, auf den wir uns doch hoffentlich alle – in welcher Weise auch immer – beziehen?

 

Leiden an der Krise

Ich spüre hinter der wütenden Reaktion viel Angst. Ich kann das auch verstehen: Man hat als kirchlicher Funktionsträger lange gelebt mit dem Bisherigen. Das will man nicht verlieren. Neues, noch nicht klar Konturiertes: Da schreckt man erst einmal zurück. Wie gesagt: Ich kann das emotional verstehen. Aber andererseits muss es uns doch zu schaffen machen, dass die Abwendbewegungen von der Kirche so dramatisch sind. Die Kirche ist meine Heimat. Ich bin in einem Pfarrhaushalt großgeworden. Die Welt der Bibel ist mir seit Kindheit vertraut und lieb. Gerade deshalb leide ich unter der tiefgehenden Krise der Kirche und betrachte es als meine Aufgabe, Gründe für diesen Niedergang zu finden. Will man mir das ernstlich vorwerfen? Die Alternative wäre, so weiterzumachen, als ob nichts wäre. Das wäre m.E. aber ein grob fahrlässiges Verhalten. Wenn uns an der Kirche gelegen ist, muss uns ihre dramatische Lage beunruhigen. Das war der Anlass für meinen Artikel!

 

Das Problem sind die Inhalte

Meine Diagnose ist, dass das Problem der Kirche in erster Linie ihre Inhalte sind, die die heutigen Menschen in Mitteleuropa immer mehr ablehnen. Ich habe diese Ansicht ausdrücklich als These formuliert. Man kann diese These für falsch halten. In diesem Fall möchte ich von meinen Kritikern aber gerne wissen, was dann ihrer Meinung nach die Gründe für den Niedergang der Kirche sind. Dazu habe ich in ihren Leserbriefen allerdings sehr wenig gefunden, außer dass man Querdenker wie mich für den Niedergang mitverantwortlich macht. Liebe Leserbriefschreiber: Da machen Sie es sich doch ein bisschen zu einfach! Es ehrt mich natürlich, dass Sie mir eine so wichtige Rolle zumessen. Aber so bedeutsam bin ich wahrlich nicht!

Man könnte als Grund für die Krise der Kirche die moderne Gesellschaft anführen – nur wird man das Rad der Geschichte kaum zurückdrehen können. Man könnte mangelnde Authentizität der Kirche benennen – aber die gab es in der wechselvollen Geschichte der Kirche immer. Man könnte die veralteten Formen ins Feld führen – aber das reicht als Erklärung sicherlich nicht aus. Es genügt nicht, der Kirche ein neues Outfit zu verpassen, die Gottesdienste flotter zu machen und Gemeinde-Apps zu installieren. Das Problem der Kirche ist von grundsätzlicherer Art.

Meine These, dass das eigentliche Problem der Kirche ihre Inhalte sind, bezieht sich auf die traditionelle Lehre der Kirche, die m.E. nicht mehr in die heutige Zeit passt. Sie ist es, die hinter der Praxis der Kirche und den Predigten in den Gottesdiensten steht. Ich habe damit – um ein Missverständnis auszuräumen – nicht gesagt, dass jede Predigt aus lebensfernen Lehrsätzen besteht. Meine Behauptung ist, dass die traditionelle Lehre als Anschauung weiterhin hinter der Praxis der Kirche steht und dass darin das Problem besteht.

 

Religion ist menschliche Weltdeutung

Mir wird in diesem Zusammenhang vorgehalten, dass ich den heutigen Menschen als Maß aller Dinge betrachte. Das ist mir zu absolut formuliert. Ich sehe durchaus die Ambivalenz und Dialektik der Aufklärung. Und außerdem geht es mir in keiner Weise darum, den heutigen Menschen nach dem Mund zu reden und ihnen christliche Inhalte als süße Limonade darzubieten. Richtig ist allerdings, dass ich die Religionen im Allgemeinen, aber auch das Christentum im Besonderen, verstehe als menschliche Weltdeutung, ausgelöst durch besondere Erlebnisse und Widerfahrnisse. Insofern Religionen menschliche Weltdeutungen sind, sind sie auch immer kritisierbar. Und das ist auch gut so! Wieviel Unheil ist von Menschen ausgegangen, die sich im Besitz einer exklusiv an sie ergangenen Offenbarung wähnten!

 

Metaphorisches Reden von Gott

Mein Therapievorschlag für die Kirche ist es, im Sinne Schleiermachers von religiöser Erfahrung als dem Quellgrund des Christentums auszugehen und die biblische Sprache, die diese Erfahrung deutet, wiederzugewinnen als symbolisch-metaphorische Rede. Mir wird in diesem Zusammenhang seltsamerweise vorgehalten, die mythischen Erzählungen der Bibel würden für mich keine Rolle spielen. Das ist nun wirklich ein völliges Verkennen meiner Position! Die Mythologie der Bibel ist für mich essentiell, aber eben als symbolisch-metaphorische Rede. Dass sie als solche Menschen zutiefst berühren kann, zeigt das Beispiel, das in einem Leserbrief von Bonhoeffers Andacht im Gefängnis 1945 berichtet wird.

Warum es mir wichtig ist, die Mythologie der Bibel als symbolisch-metaphorische Rede zu verstehen, will ich an einem Beispiel deutlich machen. In einem Leserbrief wird mir vorgehalten, der Personbegriff sei „keine Metapher, sondern Wesenszug Gottes“. Aber genau mit dieser Auffassung bringt man sich in große Schwierigkeiten. Der Personbegriff ist für uns bezogen auf Menschen aus Fleisch und Blut, mit einem Gesicht, einer Stimme usw. Wenn wir von Menschen sagen, sie haben mit uns gesprochen, könnte man fragen: In welcher Sprache? Man könnte bei einer Person fragen: Wie groß ist sie? Welches Geschlecht hat sie? All diese Fragen würden wir jedoch, wenn es um Gott geht, vermutlich zurückweisen und sagen, dass trifft auf Gott so nicht zu. Was bleibt aber dann vom Personbegriff noch übrig? Person ist auf Gott bezogen eine Metapher: Um diese Erkenntnis kommen wir nicht herum. Und das weiß man in der theologischen Wissenschaft seit langem!

 

Irreführende Gottesbilder

Welchen Sinn – werde ich gefragt – hat das Gebet noch, wenn man Personalität als Metapher versteht? Hier möchte ich zurückfragen: Wie gehen wir damit um, dass so viele Gebete unerhört bleiben? Meine Mutter ist vor 13 Jahren an Krebs erkrankt. Mein Vater, promovierter Theologe, hatte jeden Tag Gott um Heilung angefleht. Es hat alles nichts genützt, meine Mutter ist dennoch gestorben. Meinen Vater hat das theologisch ziemlich durcheinandergebracht. Wir haben uns später darüber unterhalten. Ich habe zu ihm gesagt: „Überlege einmal, was für ein Gottesbild du hast. Du stellst dir vor, da ist jemand, der den schmerzhaften Krebstod deiner Frau beschlossen hat, und du versuchst vergeblich, ihn durch dein Gebet umzustimmen.“ Wir verrennen uns in unlösbare Probleme, wenn wir die traditionelle Sicht von Gebet aufrechterhalten. Personalität Gottes ist ein menschliches Bild, das seine Grenzen hat. Dass mir diese Ansicht von einem Leserbriefschreiber als theologische Bequemlichkeit ausgelegt wird, finde ich übrigens nicht nett.

Ich habe versucht, die zentralen Themen der Bibel in ihrem symbolisch-metaphorischen Gehalt neu zu verstehen und wiederzugewinnen. Ich bitte um Nachsicht, wenn das noch ein wenig unkonkret ist, wie ein Leserbriefschreiber zurecht moniert hat. Im Rahmen eines Aufsatzes konnte ich nicht ausführlicher sein (das habe ich in meinem letzten Buch getan). Mir war wichtig, dass zumindest die Richtung erkennbar ist, um die es mir geht. Wenn das – wie mir vorgehalten wird – in weiten Teilen doch eigentlich common sense ist, was ich als Neubestimmung christlicher Inhalte versucht habe, dann soll mir das recht sein. Ich sehe diesen common sense allerdings ganz und gar nicht, sondern nehme stattdessen eine immer stärkere Evangelikalisierung der Kirche wahr. Die Inhalte der Bibel werden immer mehr als Tatsachenberichte verstanden und es wird – wie zurecht in einem Leserbrief beklagt wird – immer mehr ignoriert, dass die Bibel in einer anderen Zeit geschrieben wurde, in der andere Weltbilder als die heutigen herrschten. Diese Evangelikalisierung der Kirche betrachte ich mit großer Sorge.

 

Zentrale Glaubensinhalte?

Nicht überraschend wird mir vorgeworfen, dass ich zentrale Glaubensinhalte leugne. Was sind denn die zentralen Glaubensinhalte? – würde ich gerne wissen. Ihre Bestimmung im Laufe der Kirchengeschichte hatte immer einen zeitbedingten Kontext. Bei den ersten Konzilien ging es beispielsweise darum, zentrale Elemente des Christentums in Einklang zu bringen mit griechischer Philosophie. So kam es zu den trinitarischen und christologischen Dogmen. Dass sich durch die Transformation in griechisches Denken die biblischen Inhalte auch charakteristisch verändert haben, sei nur am Rande vermerkt.

Wegen der unterschiedlichen Kontexte hat sich die Bestimmung dessen, was die zentralen Glaubensinhalte sind, im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder verändert. Eigentlich wissen wir das! Denken wir nur daran, dass wir manches von dem, was vor nicht allzu langer Zeit noch traditionelle kirchliche Anschauung war, heute ablehnen, ohne dass wir darum großes Aufheben machen, z.B. die Verbalinspiriertheit der Bibel oder die Calvinsche doppelte Prädestination des Menschen zum Heil und zur Verdammnis.

Heute steht die Kirche vor der Herausforderung, ihre Glaubensinhalte zu bestimmen unter anderem in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und den anderen Religionen. Was bedeutet „Schöpfung“ im Kontext evolutionärer Weltsicht? Wie reden wir von Gott vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Denkweise? Wie gehen wir mit dem Wahrheitsanspruch anderer Religionen um, und was hat das für Auswirkungen auf unseren eigenen Wahrheitsanspruch? Das sind nur einige der Fragen, auf die wir eine Antwort finden müssen. Antwortansätze finden sich in der theologischen Wissenschaft reichlich. In der kirchlichen Praxis kommt davon allerdings nicht viel an. Stattdessen hält die Kirche – und damit wiederhole ich meine Ausgangsthese – krampfhaft an vielen Lehrtraditionen fest, die ihre Zeit hatten, sich inzwischen aber längst überlebt haben.

 

Eine dringend überfällige Revision

Im Jahr 2022/23 habe ich in meinem Sabbaturlaub eine einjährige Weltreise unternommen. Mal raus aus dem warmen Nest, war die Devise! Eine theologische Pause einlegen! Letzteres ist mir jedoch nicht gelungen. Die Backpacker, die ich abends in Hostels traf, waren, nachdem ich ihnen meinen Beruf verraten hatte, am Thema Religion sehr interessiert und haben mich regelrecht gelöchert. Mit der traditionellen Kirche konnten sie nicht mehr viel anfangen, aber für neue Sichtweisen waren sie sehr aufgeschlossen. Lange Abende haben wir miteinander gesprochen und diskutiert, manchmal kam ich gar nicht mehr ins Bett! Interessanterweise waren es gerade die 20-35jährigen, die meine Gesprächspartner waren: Also die, die wir in der Kirche fast nie antreffen.

Wir brauchen – das ist mir in diesem Urlaubsjahr noch einmal ganz deutlich geworden – eine Neubestimmung unserer inhaltlichen Anschauung, um Menschen von heute wieder einen Zugang sowohl zu ihren eigenen religiösen Erfahrungen, aber auch zu den zentralen biblischen Themen und Symbolen zu ermöglichen. Um diese inhaltliche Neubestimmung ging es mir in meinem Artikel. Ich wollte eine dringend überfällige Diskussion anstoßen. Die große Resonanz auf meinen Artikel scheint darauf hinzuweisen, dass mir das gelungen ist!


Markus Beile

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 10/2024

1 Kommentar zu diesem Artikel
26.10.2024 Ein Kommentar von Wolfgang Kurt Leuschner Lieber Markus, gut geschrieben. Jetzt verstehe ich besser, was Du meinst. Darin unterstütze ich Dich: Die alten biblischen Erfahrungen als symbolisch-mythologische Rede deuten und damit Erfahrungen der Menschen (Lebensstufen wie Examen, Trauung, aber auch Krankheit, Katastrophen) heute in einen weiteren (transzendenten) Verstehens- und Deutungshorizont stellen. Gebet: Die kritischen Fragen am Gottesverständnis Deines Vaters kann ich nachvollziehen. Aber wie dann konkret beten? Da kommt mir Hiob in den Sinn: "Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen. Der Name des Herrn sei gelobt." (Hiob 1,21) Deine Erfahrungen mit den jungen Leuten auf Deiner Weltreise kann ich mit eigenen Erfahrungen mit Menschen im Alter 60 plus in Pattaya bestätigen. In meinem Gespräch um die Bibel, ein Gang durch die Bücher des NT, habe ich die Themen der jeweiligen Schrift mit deren Fragen und Kritiken zusammen gebracht. Ein intensiver gegenseitiger Lernprozess war das. Ich war über den großen Zuspruch überrascht, denn das waren zum Teil Menschen mit gebrochenen kirchlichen Biografien. Ein ganzer Teil fand auf diese Weise wieder neu Gefallen am Glauben und an unserer Gemeindepraxis im Begegnungszentrum. Wie ich in meinem Leserbrief schrieb: "Outreach", zu den Leuten gehen und sich ihren Fragen stellen. Für mich interessant für die theologische Weiterarbeit: Die Frage der Gottessohnschaft Christi. Die Trinitätslehre als dynamisches Gottesverständnis deuten. Fragwürdig: Wo siehst Du Anhaltspunkte für eine "Evangelikalisierung der Kirche"? Mir fehlt dazu empirisches Material. In den Äußerungen der EKD in den digitalen Medien sehe ich kein "verkrampftes Festhalten an vielen Lehrtraditionen". Ein Letztes: Anregend für die Transformation theologischer und biblischer Inhalte in die Gesellschaftsfragen finde ich die Anregung von Dieter Becker im gleichen Heft: Mut zu evangelisch qualifizierten Antworten mit biblischem Bezug (Dt. Pfr.bl. 10/2024, Seite 541f.). Mit herzlichem Gruß, Dein Vorgänger im Auslandspfarramt Singapur Wolfgang K. Leuschner
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