Müssen Friedensethik und Friedenspolitik seit Russlands Überfall auf die Ukraine und dem Angriff der Hamas auf Israel neu konzipiert werden? Wilhelm Richebächer hat in einem Aufsatz für das Deutsche Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt in der letzten Ausgabe klassische Kriegs- und Friedenstheorien rekonstruiert und die Bedingungen für ein politisches Friedensprojekt aufgezeigt. In diesem zweiten Beitrag widmet sich der Autor nun dem Beitrag der Religionen zum Frieden.*

 

Dass interreligiöse Dialoge in Praxis und Theorie heute vor allem dem Ziel präventiver Friedensbildung und Friedenssicherung dienen sollten, ist wohl gleichermaßen notwendig wie schwierig, muss aber – gerade auch in Deutschland – unbedingt angegangen werden. Wir müssen jedoch auch nüchtern wahrnehmen, dass Übereinstimmungen in gemeinsamen religiösen Wurzeln längst noch keine gleichen Sichten auf gewaltpolitische Prozesse bedingen. Leider gehen die Krisen- und Kriegs-Frontlinien bisweilen mitten durch dieselben Religionsgemeinschaften, in denen – wie zwischen Orthodoxen in Russland und der Ukraine – unlängst noch geschwisterlicher oder wenigstens ökumenischer Friede herrschte.

 

1. Wie fördert der christliche Glaube die Friedensfähigkeit?

In jüdisch-christlicher Tradition kann ich auf das verweisen, was in der hebräischen Bibel „Schalom“ genannt wird. Es geht beim Schalom niemals allein um schweigende Waffen, sondern immer schon im Ansatz um gerechte und aufgrund ihrer Gerechtigkeit friedfertige Lebensbedingungen, also eher um eine von Gott geschenkte umfassende Lebenszufriedenheit. Als interkulturell erfahrener Christ und Theologe, der sieben Jahre in Ostafrika gelebt und gearbeitet hat und in einer interkulturell-theologischen Hochschule mitgearbeitet hat, begründe ich die Friedensfähigkeit des christlichen Glaubens wie folgt:

1.1 Christinnen und Christen sind „Protestleute gegen den Tod“ (J. Chr. Blumhardt) und folglich auch gegen Krieg

In der Osterzeit feiert die christliche Kirche, dass dem Tod die Macht genommen wurde (EG 110: „Die ganze Welt, … Herr Jesu Christ, Halleluja, halleluja, in deiner ‚Urständ‘ (Auferstehung) fröhlich ist…“). Wir haben wieder etwas zu lachen, weil Gott Jesus, das Realsymbol für einen Gott und Schöpfung Versöhnenden, nicht dem Tod überlassen hat, sondern ihn als neuen Menschen und Bruder der Menschen aus allen Kulturen in einer für alle offenen Gemeinschaft aufweckt. Hier wird die Kraft geschenkt, jeder Art von Tod zu widerstehen.

Dieser Widerstand geht einher mit der Zur-Schau-Stellung und Brandmarkung aller zerstörerischen Gewalt. Sie hat sich mit dem Kreuz Jesu öffentlich selbst entlarvt als der Weg, der zu gar nichts Gutem führen kann und gegen Gottes Geist handelt. Entlarvt werden nicht nur physische Gewalt, sondern auch die tötenden Kräfte des Hasses und Neides. In dieser Kraft können Christen gar auf Feinde zugehen und erwarten, dass Gott sie wie uns verändert.

1.2 Christinnen und Christen kommen aus allen Kulturen zusammen und stufen Menschen nicht nach Kategorien ab

Das NT schildert die urchristliche Gemeinde als interkulturelle, ja multikulturelle Gemeinschaft. Der Heilige Geist ist nicht gebunden an eine hebräische oder auch spezifisch europäische Kulturform. So ist es mit dem Christenglauben nicht vereinbar, dass Menschen diskriminiert werden, auch nicht als „die Russen“ oder „die Deutschen“ verallgemeinernd herabgewürdigt werden. Zu den Vorbildern, die mich persönlich diesen Verzicht auf Feindbildklischees lehrten, gehörte mein langjähriger Latein- und Russischlehrer am Marburger Gymnasium.1 So bildet sich unter ihnen die Fähigkeit heraus, sich trotz unterschiedlicher weltanschaulicher Grundannahmen zu achten und gar bei bleibender Differenz voneinander zu lernen2.

1.3 Christen und Christinnen verkörpern Gottes bevorzugte Option für die Schwachen und Individuen in der Maxime der „Schutzverantwortung“ für Marginalisierte und Angegriffene

Für Christen funktioniert die Versorgung des eigenen Lebens nicht ohne Gedanken an das, was den Nachbarn fehlt. Denn der gnädige Gott, der den Israeliten schon in Ägypten und wieder den schwarzen Sklaven in Nordamerika die Überlebenskraft schenkte, hält heute auch die am Atmen, die im um sich greifenden Konsumkapitalismus zugrunde gehen.

So achten Christinnen und Christen besonders darauf,
 dass Kinder mit anderen als üblichen Begabungen nach ihren Entwicklungsmöglichkeiten integriert betreut und nicht in Spezialräume abgeschoben werden
 dass für die Begleitung von Friedensprozessen und Friedenswilligen genug Zeit für die eigene kulturelle Bestimmung und für diplomatische Lösungen solange nur irgend möglich gegeben wird3
 dass sie und andere als Person sie selbst bleiben können und ihr Gewissen nicht an menschliche Befehlsgewalt abgeben müssen („innere Führung“ in der Bundeswehr)
 dass sich in einer gemeinschaftsverantwortlichen Welt kein nationaler Egoismus des „Hauptsache wir sind stark, koste es was es wolle!“ mehr breit macht, welcher (von Putin über Xi bis Trump) wieder droht.

So suchen sie auch nach gemeinsamen religiösen Grundlagen für die friedliche Zukunft – zunächst auf der Ebene des Christentums, aber gewiss auch darüber hinaus.4 Es ist schlicht unerträglich, dass sich Kirchen in West und Ost, insbesondere mit der Herrschaft der Russischen Orthodoxie nicht darüber einigen können, dass Krieg nach Gottes Willen nicht sein soll. Haben hier evtl. beide Seiten aus je ihrer Ethik ein kulturelles Gefängnis des Glaubens gemacht, oder doch nur eine!? Wie auch immer, auch wenn jede Kirche in der Versuchung stehen wird, die mächtigste Ideologie im eigenen Land zu unterstützen, hat sie aufgrund der Glaubenszusammengehörigkeit mit Menschen (gerade auch im vermeintlichen „Feindesland“) doch immer die erste Pflicht, sich jenseits kultureller oder konfessioneller Verhärtungen auf der Grundlage des gemeinsamen Glaubens um Gespräche und gute Bedingungen für Friedensverhandlungen zu bemühen.

Schließlich können Christinnen und Christen aber auch, wenn wirklich kein anderer Weg bleibt, das eindeutig von Gewalt bedrohte Leben von Schwachen und Angegriffenen um des Rechtsfriedens willen mit Waffengewalt schützen. – Damit sie so etwas können, bedürfen grundpazifistisch gesonnene Christen oft eines Impulsgebers zu dieser lebensrettenden Trendwende in ihrem Denken. Für viele, wie auch mich, greift dann das traditionell lutherische Argument, dass Christen zwar um ihres Selbstschutzes willen auf Gewalt verzichten können, aber nicht dabei zuschauen können, ja dürfen, wenn andere überfallen und gemordet werden, also die sog. „Schutzverantwortung“ (z.B. der Rwanda-Genozid 1994).

 

2. Beantwortung der Frage: Können wir Frieden schaffen?

2.1 Die Antwort im strengen Sinne der Ethik und der christlichen Theologie: Nein.

Wer aufgrund abendländischer Tugendtraditionen seit Aristoteles und trotz der Katastrophenerfahrungen mit Krieg in den beiden letzten Jahrhunderten vorgibt, er/sie könne ein gerechtes Lebenssystem politisch entwerfen oder dauerhaft sichern, übernimmt sich selbst und überfordert jede Gemeinschaft. Darum: Friede im Sinne des oben genannten Schalom gibt es nur als Ergebnis gemeinsamer und konzilianter menschlicher Kommunikation und Kooperation und er ist, religiös gesprochen, ein Geschenk Gottes. Nicht umsonst reden wir in der jüdisch-christlichen Religion von dem messianischen Friedefürsten.

Der Friede, den einzelne Menschen brauchen und der immer wieder den Gefechten von Machtansprüchen und Gewaltszenarien abgerungen werden muss, ist nicht einfach vorhanden. Er will erstrebt und konkret erarbeitet werden, für Christinnen und Christen eine lebendige Realvision vom Reich Gottes, welches immer nur quer und kreuz zu den Machtverhältnissen in dieser Weltordnung hereinbricht. Sigurd Rink drückte das so aus: „Die Geschichte der Menschheit ist auch eine Gewaltgeschichte. Frieden ist der aus Macht- und Interessenkonflikten entstehenden Gewalt abgerungen. Er ist nicht in Stein gemeißelt. Er muss gewagt und beschützt, er kann nur durch Recht und Gesetz begründet und flankiert werden.“5

Nur wenn wir die Unverfügbarkeit – und ja, ich sage das gern einmal – die Feierlichkeit und Heiligkeit des Schalom-Friedens bestehen lassen, und keine Macht kultureller oder traditioneller oder historisch-politischer Art vorgibt, diesen Frieden (wie etwa in der „Pax Romana“) anderen aufzuoktroyieren, handhaben wir ihn auf rechte Weise. Darum beantworte ich unsere Hauptfrage erst einmal nur negativ in Vorsorge gegen menschliche Arroganz: Nein, schaffen im Sinne von „mit ein, zwei, drei Schritten herbeiführen…“ können wir Menschen einen Schalom nicht!

2.2 Die verantwortungsethische Antwort: Ja, im Sinne von „dem Frieden Raum geben“

Gleichzeitig aber gilt dennoch für mich bleibend die Maxime: „Frieden schaffen (geht nur) ohne Waffen…!“ Und das heißt im Umkehrschluss: „Im Zweifelsfalle nie zu Waffen greifen, im Fall äußerster Not und für andere aber womöglich schon!“

Mein Ergebnis ist auch die Errungenschaft einer doch kriegsmüden Menschheit. Diese musste immer wieder lernen, dass Waffengänge, wenn erst einmal entfesselt, furchtbare Folgen von Verlust über Menschenleben, Traumatisierung von endlos vielen Menschen, Zerstörung von Gütern und Natur, für lange Zeit, wenn überhaupt je, nicht kompensierbare wirtschaftliche Folgeschädigungen und nicht zuletzt generationenübergreifendes Vorherrschen von Misstrauen gegenüber anderen Menschen verursacht. Das alles sind eigentlich nie für lange Zeit erwägenswerte „Kosten“6!

In dieser Art des „Dem-Frieden-Raum-Gebens“ kommt es nicht zu der selbstüberschätzenden Anmaßung, man könne selbst den Frieden herbeiverhandeln oder gar herbeikämpfen, ja herbeibomben. Wer sich erst einmal daran gewöhnen würde, dass Kriegsmittel ein politisches Instrument der Friedensschaffung wären, kommt in die Gefahr der tödlichen Abstumpfung. Davor möge Gott uns und alle in Ost und West und Nord und Süd bewahren. Auf dass sich die Liebe, die in Familien und Gruppen gelernt hat, Andere zu achten, auch politisch und interkulturell fruchtbar machen lasse, gerade auch von den Politikerinnen und Politikern, die dafür täglich kämpfen.

 

Anmerkungen

* Vortrag in der Nikolaikirche Eisenhüttenstadt am 5. April 2024.

1 Gemeint ist Joseph Zirkler, der, nach dem Zweiten Weltkrieg als „vertriebener Sudetendeutscher“ in Marburg/Lahn lebend, uns Schülern von seinen Kriegsgefangenschaftserfahrungen in Russland, als er als deutscher Gefangener von russischen Soldaten und Zivilisten würdig behandelt wurde, regelmäßig erzählte; vgl. auch das Eugen Ruge-Interview SZ 70, 23/24.03.2024.

2 Die heutige kirchliche Ökumene in Deutschland besteht neben den traditionellen interkonfessionellen Beziehungen auch aus „etwa 2.000 bis 3.000 evangelische(n) internationale(n) Gemeinden, 460 katholische(n) muttersprachliche(n) Gemeinden und etwa 450 orthodoxe(n) bzw. orientalisch-orthodoxe(n) Gemeinden, die durch Migration entstanden sind“, https://internationale-gemeinden.de/was-verstehen-wir-unter-einer-internationalen-gemeinde, Zugriff 11.5.21.

3 Ein Beispiel für das Erstgenannte hier sind die Frauenrechte in Afghanistan in den Jahrzehnten nach der Zurückdrängung der Taliban von der Leitung im Land, sprich während der Armeeeinsätze aus dem Westen: 2018 waren 30% der Mädchen in Schule dort, gegenüber 2001 eine mehrfache Steigerung! Wenigstens dies, wenn auch sonst so gut wie „nichts“ war „gut in Afghanistan“, um Margot Käßmanns vieldiskutiertes und zu Unrecht nicht differenziert betrachtetes Resümee von 2009/10 noch einmal differenziert aufzugreifen. Ein Beispiel für einen langen Atem der Friedensdiplomatie wurde von Sigurd Rink sehr grundlegend in seiner Doktorarbeit untersucht: Die diplomatische Durchhaltekraft von Pfr. Heinrich Grüber als Bevollmächtigter der Kirchen in der DDR bei der Staatsregierung der DDR in der Vermittlungsarbeit zwischen Kirche und Staat, vgl. ders., Der Bevollmächtigte. Propst Grüber und die Regierung der DDR, Stuttgart 1996; vgl. Rink, Können Kriege gerecht sein?, 48-50.

4 Hier kommt das ins Bild, was ein Nawalny schon erlebt und mit seinen Mitstreiter*innen bis zum Martyrium erlitten hat: Es ist nicht allein der Appell an die Christlichkeit, sondern es ist die Bereitschaft seine/ihre christliche Kulturform von der Kritik des Gotteskindes Jesus treffen zu lassen statt sich mit seiner Kirchlichkeit gegen den Christus aufzulehnen (vgl. Dostojewskis Großinquisitor). Christen brauchen nicht den ihnen fremden religiösen Grundideen vom Ewigen selbst zu misstrauen, sondern seinen kulturellen Verabsolutierungen.

5 Rink, Können Kriege gerecht sein? 112, fast identisch auch ebd., 252.

6 Was übrigens auch eine – wenn ein Notfall tatsächlich eintritt – enorme Wertschätzung der ethischen Leistung von Militärpersonen, und nicht etwa deren Verachtung, und schließlich einen konsequenten Erhalt von Humanität auch im kriegerischen Gegeneinander, gerade in Kampfzonen (vs. automatischer Drohnenkriegsführung!) nach sich ziehen muss.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer i.R. Prof. em. Dr. Wilhelm Richebächer, Jahrgang 1956, Gemeindepfarrer der Evang. Kirche von Kurhessen-Waldeck in Melsungen, Dozent für Syst. Theologie am Makumira University College/Tansania, Ökumenedezernent der EKKW, apl. Prof. an der Philipps-Universität Marburg, Prof. für Systematische Theologie in interkultureller Perspektive und Rektor der Fachhochschule für Interkulturelle Theologie Hermannsburg.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 10/2024

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