500 Jahre Evangelisches Gesangbuch – ein kulturelles Erbe und eine denkwürdige Erfolgsgeschichte! Das Erbe besitzt, wer es erwirbt und sich zu eigen macht. Nur wer weiß, was er daran hat, weiß es auch zu schätzen. Im Gesangbucharchiv der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz sind annähernd 8.000 deutschsprachige Gesangbücher des 16. bis 21. Jh. verzeichnet, etwa drei Viertel davon evangelischer Provenienz. Man schätzt, dass in diesem Zeitraum in Deutschland zwischen 40.000 und 50.000 Gesangbücher erschienen sind. Wie kam es dazu? Und wie gehen wir heute mit dem Gesangbuch um? – fragt Michael Heymel.

 

I. Die Anfänge

Die Buchgattung evangelisches Gesangbuch gibt es seit 500 Jahren. 1524 erschien Johann Walters „Geystliches gesangk Buchlein“, die erste Sammlung von evangelischer Seite, die als Gesangbuch bezeichnet wurde, mit Liedern für den Chorgesang. Die beiden ersten waren das „Nürnberger Achtliederbuch“ (1523/24) und das „Erfurter Enchiridion“ (1524), also ein Handbüchlein mit 26 Liedtexten und 16 bzw. 15 Melodien. Wir würden wegen des bescheidenen Umfangs eher von Liederheften als von Gesangbüchern sprechen. Aber fängt die Geschichte damit an? Nein! Sie begann schon vorher mit der Singbewegung der Reformation.

Die befreiende Erkenntnis, dass der Mensch nicht durch Werke, sondern allein durch den Glauben vor Gott gerecht werde, verbreitete sich nicht primär durch Thesen und Disputationen (das war nur etwas für Gelehrte, die Latein beherrschten), auch nicht durch deutsch verfasste Schriften (die verstand nur, wer lesen und schreiben konnte), sondern durch Lieder.

„Ich bin willens, nach dem Beispiel der Propheten und alten Väter der Kirche, deutsche Psalmen für das Volk zu machen, das ist geistliche Lieder, dass das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe“, schrieb Martin Luther 1523 an seinen Freund Georg Spalatin. „Psalmos pro vulgo – Psalmen für das Volk“ sollten geschaffen werden, um den Menschen das Wort Gottes in der Volkssprache nahezubringen. Dabei verwies Luther auf biblische und altkirchliche Vorbilder, an die er anknüpfen wollte, und löste gleich selbst sein Programm mit 37 eigenen Kirchenliedern ein.

Lieder lernt man durch Vor- und Nachsingen. Das ist gerade in einer Zeit bedeutsam, in der nur ein geringer Teil der Bevölkerung lesen und schreiben kann. Im 16. Jh. war außerdem das umgangsmäßige Singen im Alltag noch viel selbstverständlicher als heute. Elektronische Musikmedien gab es nicht. Man war geübt im Auswendiglernen, und bekanntlich lernt man gesungene Botschaften leichter als gesprochene. In der Reformationszeit wird das Singend-auswendig-Lernen selbstverständlich praktiziert, umso lieber und leichter, wenn es sich um Lieder mit eingängigen Melodien handelt.

Gemeinde- und Chorgesang im Zentrum des Gottesdienstes

Weshalb liegt Luther nun so viel daran, dass geistliche Lieder in der Volkssprache geschrieben werden und gesungen werden können? Das Interesse an ihnen folgt aus seiner Grundentscheidung, den Gemeinde- und Chorgesang ins Zentrum des Gottesdienstes zu rücken.

Aus diesem Anfangsimpuls entstanden Gesangbücher. Martin Luther wollte mit ihnen erreichen, dass die Leute „zur Freude des Glaubens gereizt werden und gerne singen“ (Vorrede zum Babst’schen Gesangbuch, 1545). Nach seiner Ansicht brauchte man dafür zuerst geistliche Lieder, die das Evangelium zum Klingen bringen. Solche Lieder waren ihm auch von anderen Autoren willkommen. Luther strebte kein einheitliches Gesangbuch für alle an, sondern hielt eine Vielzahl von Liedersammlungen für möglich: „Es kann ja jeder selbst sein eigenes Büchlein mit Liedern zusammenstellen und das unsrige unangetastet lassen … Denn wir möchten ja auch gerne unsere Münze in unserer Währung behalten, wobei es niemandem verwehrt ist, für sich eine bessere zu machen“ (Vorrede zum Klug’schen Gesangbuch, 1529).

 

 

Zuerst waren die Lieder da, danach kamen die Gesangbücher. Wo eine Gemeinde die Lieder im Gottesdienst anstimmte, war bereits die Reformation im Gang. Denn da baute sich Gemeinde gegenseitig im Singen auf. Das Ur-Erlebnis der Reformation ist dieses Mündigwerden der Gemeinde in der Freiheit, selbst mit Liedern Gott zu loben. Der Stadtschreiber von Lemgo berichtet, er sei von seinem dem alten Glauben noch anhängenden Bürgermeister in die Stadtkirche geschickt worden, um zu schauen, was sich dort mit dem neuen Glauben tue. Als er zurückkam und dem Bürgermeister meldete: „Nun, sie singen schon alle“, soll der Bürgermeister geantwortet haben: „Ei, dann ist alles verloren!“ Die im Singen sich äußernde und so aus sich herausgehende Gemeinde war offenbar das hörbare Merkmal der Reformation gegenüber der bisher in der römischen Messe stumm anwesenden Gemeinde.

Da der Gemeindegesang regelmäßiger und unverzichtbarer Bestandteil des Gottesdienstes wurde, brauchte die singende Gemeinde ein Repertoire von Liedern in der Volkssprache. Ohne ein solches Repertoire von Liedern, die alle kennen, ist auf Dauer kein Gemeindegesang möglich. So wuchs der Bedarf an Gesangbüchern mit einem Kanon von der evangelischen Lehre gemäßen, diese Lehre poetisch formulierenden Liedern. Sie konnten in Mengen verbreitet werden dank neuer Medientechnik, der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (1492) und des Notendrucks mit beweglichen Typen (um 1520). Entscheidend für die beispiellose Verbreitung evangelischer Gesangbücher ist aber die Tatsache, dass nun die Gemeinde mit ihrem Gesang die tragende Rolle im Gottesdienst übernahm.

Erste evangelische Gesangbücher

Die ersten evangelischen Gesangbücher waren Unternehmen von Buchdruckern und Buchhändlern. Sie waren für bestimmte Gemeinden, Städte oder Territorien gedacht. Erst seit Mitte des 18. Jh. gibt es Gesangbücher, die offiziell für eine Landeskirche verbindlich sind. Daneben wurden Gesangbücher von einzelnen Autoren oder Gruppen herausgegeben. Das Babst’sche Gesangbuch (Leipzig 1545), so genannt nach seinem Verleger Valentin Babst, wurde in seiner schmuckvollen Ausstattung zum Vorbild für viele spätere Gesangbücher. Es enthält 27 ganzseitige Holzschnitte und gliedert sich in zwei Teile. Der erste bringt den Inhalt des schon erwähnten Wittenberger Gesangbuchs für Chorgesang von 1524 (38 dt., 5 lat. Lieder) und von Luthers Begräbnis-Gesangbuch von 1542 (darunter zwei Lieder Luthers), der zweite Teil enthält auch Gebete und Psalmen, die sich auf ihnen zugeordnete Lieder beziehen. Es sollte ein Andachtsbuch für den Haus- und Alltagsgebrauch sein. Luthers Vorrede 1545 gibt darüber Auskunft, was die christliche Gemeinde zum Singen bewegt:

„Singet dem HERRN ein newes lied / Singet dem HERRN alle welt. Denn Gott hat unser hertz und mut fröhlich gemacht / durch seinen lieben Son / welchen er für uns gegeben hat zur erlösung von sunden / tod und Teuffel. Wer solchs mit ernst gleubet / der kans nicht lassen / er mus fröhlich und mit lust dauon singen und sagen / das es andere auch hören und herzu komen. Wer aber nicht dauon singen und sagen will / das ist ein zeichen / das ers nicht gleubet …“

Das Singen der Christen versteht Luther als freudige, dankbare Antwort der Befreiten auf das Evangelium, die Botschaft von den großen Taten Gottes, verdichtet in dem, was er in Jesus Christus für uns getan hat. Diese Botschaft bewegt die Gemeinde dazu, aus sich herauszugehen, indem sie singt. Mit ihrem Gesang lobt sie den Namen des Herrn, der sie von Herzen froh gemacht hat.

Wie aber, wenn eine Gemeinde nicht „fröhlich und mit Lust“ singen kann? Dann hat sie den befreienden Klang der Stimme Jesu noch nicht gehört oder wird gehindert, ihn zu hören. Sie glaubt nicht, dass Gott seinen lieben Sohn „für uns gegeben hat“, um uns von Sünde, Tod und Teufel zu erlösen. Im Gottesdienst soll, wie Luther voraussetzt, nichts anderes geschehen, „als dass unser lieber Herr mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“ (Torgau 1544). Demnach kommt es auf die Verkündigung an, die durch das klingende Wort geschieht. Ist hier das reine Evangelium zu hören, das Wort Gottes, das Herz und Gemüt froh macht, so kann die Gemeinde gar nicht anders, als davon zu singen und zu sagen.

Erbstücke älterer Kirchenmusik

Von Anfang an wurden in der evangelischen Kirche auch mittelalterliche Stücke (z.B. Hymnen, Antiphone, Leisen) gesungen, ebenso das älteste deutsche Osterlied „Christ ist erstanden“ (EG 99) aus dem 12. Jh. Auch die Psalmen wurden gesungen. In Städten mit Lateinschulen sangen Schülerchöre frühmorgens im Gottesdienst lateinische Psalmverse. Das war noch zur Zeit von Paul Gerhardt üblich, der als Schüler die Fürstenschule Grimma besuchte.

In Böhmen und Mähren gab es seit dem 15. Jh. die auf den Reformator Jan Hus zurückgehende Gemeinschaft der Böhmischen Brüder. Bereits 1501 hatte sie das erste volkssprachliche Gesangbuch in Tschechisch mit 88 Liedern. Ein deutscher Zweig der Brüder suchte die Verbindung zur Reformation Luthers. Michael Weiße, ein ehemaliger Breslauer Mönch, dann Prediger in Landskron und Füllneck, ließ 1531 das erste deutschsprachige Brüdergesangbuch (Neu Gesengbüchlein) mit 157 Liedern drucken.

In der Reichsstadt Straßburg, neben Wittenberg seit den frühen 1520er Jahren ein Hauptort der Reformation, entwickelte sich unter Martin Bucer und Matthäus Zell ein vielfältiges gottesdienstliches Leben. Hier wirkte auch Katharina Zell, geb. Schütz, eine herausragende Frau der Reformation, als Pfarrfrau und Publizistin zahlreicher theologischer Schriften. Sie gab 1535/36 für den persönlichen Gebrauch vier kleinformatige „Gesangbüchlein von Christo Jesu unserm Seligmacher“ mit insgesamt 158 Liedern heraus. Sie sollten preiswert sein, damit auch einfache Leute sie kaufen konnten. Als Vorlage benutzte Katharina Zell das Gesangbuch der Böhmischen Brüder von 1531. In Straßburg unbekannte Melodien Michael Weißes ersetzte sie durch solche aus der lokalen Tradition. In ihrer Vorrede, datiert auf das Jahr 1534, rühmt sie Michael Weiße als einen Mann, der „die ganze Bibel offen in seinem Herzen“ habe. Seinen Liedern wünscht sie, daß „der Handwerksgesell ob seiner Arbeit, die Dienstmagd ob ihrem Schüsselwaschen, der Acker- und Rebmann auf seinem Acker und die Mutter dem weinenden Kinde in der Wiege solche Gesänge singe“.

Hier ist schon ein Grundgedanke formuliert, der bis heute für das Gesangbuch maßgebend ist: Es soll nicht nur ein Buch für das gottesdienstliche Singen, sondern auch ein Buch für den Alltag sein. Also ein Buch für den persönlichen Gebrauch (Frömmigkeit, Seelsorge), ein Lebensbegleiter.

 

II. Gesangbuch – zum Gebrauch!

Was im Gesangbuch steht, sind Noten und Texte. Das sind noch keine Lieder. Ein Drittes muss erst dazukommen: ein singender Mensch! Das Gesangbuch ist ebenso wie die Bibel dazu da, gebraucht zu werden, sonst nützt es nichts. Das Buch der Bücher, die Bibel spricht erst zu mir, wenn ich darin lese und horche, was sie mir zu sagen hat. Das Gesangbuch wird für mich, was es ist, wenn ich mit meiner Stimme die Texte und Noten zum Klingen bringe. Eigentlich enthält es nur Liedvorlagen. Sie müssen von uns angeeignet und zum Leben erweckt, d.h. gesungen werden. Durch uns werden sie zu Liedern, zu unseren Liedern.

Ein Medium für das Priestertum aller Gläubigen

Das Gesangbuch ist ein Medium für das Priestertum aller Gläubigen, das seinen Grund in der Taufe hat. Als Getaufte sind wir zur Verkündigung des Evangeliums im Glauben aufgerufen und werden als Gemeinde im Gottesdienst an der Verkündigung beteiligt. Das erweist sich in der Praxis aber als anspruchsvolle Aufgabe. Lange Zeit wurden nur Luthers Lieder und wenige andere im Gottesdienst gesungen. Anders als heute sang die Gemeinde im 16. Jh. einstimmig, angeleitet von einem Chor oder Vorsänger, aber ohne Orgelbegleitung. Gesangbücher waren noch bis ins 18. Jh. vorwiegend für Pfarrer, Kantoren und Schülerchöre bestimmt. Eine begrenzte Zahl wiederkehrender Gemeindelieder wurde von der Gemeinde auswendig gesungen. Nur die Reformierten brauchten von Anfang an das Gesangbuch, um Lieder aus dem Psalter zu singen. Bekannte Melodien verwendete man für mehrere Lieder, was das Singen erleichterte. Erst Mitte des 18. Jh. setzt sich das Gesangbuch als „Textbuch“ der Gemeinde durch und wird zum von der Orgel begleiteten Singen im Gottesdienst verwendet.

Liedkenntnis und Singepraxis der Gemeinden gaben schon früh Anlass zu Beanstandungen. So vermerkt die Hessische Agende von 1574, die noch 1724 unverändert gültig war: Das Volk soll „in Predigten / so offt es die Gelegenheit gibt / erinnert und vermahnet werden / daß sie die gebräuchlichen Kirchen=Gesäng lernen / und all-wegen / wann in gemeinen Versammlungen gesungen / auch selbst ein jeder vor sich insonderheit mit singen / und also einträchtiglich GOtt loben“.

Offenbar hat nicht jeder im Gottesdienst mitgesungen! Durch die Jahrhunderte ziehen sich die Klagen über den Gemeindegesang. Wer sie kennt, wird sich nicht so leicht entmutigen lassen. In jedem Fall muss man überlegen, was, wie und von wem gesungen werden kann, und sollte die Lieder dementsprechend auswählen. Ein Lied wie „Du, meine Seele, singe“ (EG 302) kann heute wegen seines großen Tonumfangs von keinem ungeübten Gesangbuch-Nutzer mehr gesungen werden.

Das EG – ein Buch zum Singen und Beten

Das EG, das wir seit 30 Jahren haben, enthält Texte und Noten von Kirchenliedern aus rund 800 Jahren, nimmt man die Psalmen mit dazu, aus rund 3000 Jahren. Nicht alle Lieder erschließen sich sofort. Gerade die alten Lieder brauchen Zeit. Sie warten darauf, dass wir ihnen zuhören und mit ihnen reden. Das EG ist wie jedes Gesangbuch eine Sammlung geistlicher Lieder für den kirchlichen, schulischen und häuslichen Gebrauch. Sie wird zum Singen und Beten gebraucht, in der Regel im Gottesdienst von Gemeinden. Das EG ist für alle Gliedkirchen der EKD bestimmt. Neben 14 Regionalausgaben gibt es spezielle Gesangbücher, etwa für Studierende und für Soldaten.

 

 

Die Kommission, die das EG erarbeitete, hat dabei mehrere Ziele verfolgt. Nach den Erfahrungen der Bekennenden Kirche im Kirchenkampf sollten Lehr- und Bekenntnistexte abgedruckt werden. Das Gesangbuch sollte auch für Tagzeitengebete und Taizé-Gottesdienste benutzbar sein. 26 Lieder sind für vierstimmigen Gesang abgedruckt. Vor allem sollte das EG den Liederkanon erweitern und sich für zeitgenössische Liedtexte und neue populäre Musikstile (Jazz, Pop, Gospel) öffnen, die seit den 1960er Jahren neben dem EKG in diverse Liederhefte Eingang gefunden und sich durch Kirchentage und Weltgebetstage (der Frauen) verbreitet hatten. Starke geistliche Impulse gingen von der Kommunität von Taizé in Burgund aus, so dass ihre Lieder seit den 1970er Jahren auch in Deutschland immer beliebter wurden. Hinzu kam „ein Strom neuer Lieder“ (Jürgen Henkys), die z.T. bereits in eigenen Liederbüchern vorlagen. Erwähnt seien nur das ökumenische Gesangbuch „Cantate Domino“ (1974), die Sammlungen aus der Jugendarbeit der Rheinischen Kirche „Mein Liederbuch“ (1981) und „Mein Kanonbuch“ (1987) sowie das Beiheft „Singe, Christenheit“ (1981) für die hessischen Landeskirchen.

Schon beim Durchblättern des EG wird ersichtlich, dass darin Lieder überliefert sind, die geistlich-theologisch, poetisch und musikalisch aus sehr unterschiedlichen Ausprägungen des Christentums stammen. Jede Generation entscheidet, was sie davon übernimmt. Der Gebrauch des Gesangbuchs setzt Singkultur voraus, diese wandelt sich. Auch die Gottesdienstkultur wandelt sich. Die große Zahl der Liederhefte und Beihefte lässt das EG inzwischen alt und traditionell erscheinen, obwohl es in seinem Reichtum von den Gemeinden noch nicht annähernd ausgeschöpft worden ist.

Wie kann es zu einer kreativen Vielfalt der Singkultur kommen?

Wie kommt es, dass aus dem reichen Angebot des EG für das geistliche Singen im Gottesdienst so wenig genutzt wird? Nicht selten kann man erleben, dass dort neue Lieder aus Beiheften angekündigt werden, die kaum jemand mitsingen kann. Ein gemeinsames Liedrepertoire bildet sich nur mit Liedern, die wiederkehren und mitgesungen werden. Eine Gemeinde, die nichts mehr wiedererkennt, bleibt auf Dauer vom Gottesdienst weg. Zu überlegen wäre daher, wie aus uferlosem und letztlich alles gleichgültig machendem Pluralismus eine kreative Vielfalt des Singens werden könnte. Der Gemeindegesang könnte auf folgende Weisen belebt und gefördert werden:
 Kündigen Sie Lieder nicht bloß mit der Nummer im EG an, sondern mit der Anfangszeile und ein paar einführenden Worten.
 Nutzen Sie die Möglichkeiten, Lieder aus dem EG im Wechsel V/A zu singen oder mehrstimmig im Wechsel Chor/Gemeinde.
 Haben Sie Mut, im Gottesdienst auch einmal alle Strophen eines Paul-Gerhardt-Lieds erklingen zu lassen. Es gibt viele Melodien dazu, nicht nur die im EG (bei „Geh aus, mein Herz“ sind es 40), und bei einer Liedpredigt können auch Strophen vorgelesen oder rezitiert werden.
 „Es gibt keine excellentere Predigt als die Lieder“, hat Zinzendorf einmal gesagt. „Sie bringen oft die tiefsten, wichtigsten und weitläufigsten Materien in eine kurze Form, daß man sich darüber wundern muß, und das kommt der Predigt des Heiligen Geistes am nächsten“. Ich meine, die Predigt der Lieder könnte z.B. durch Singgottesdienste und Liedpredigten mehr Raum gewinnen.
 Nicht jedes Lied muss von der Orgel begleitet werden. Zu manchen Liedern passt ein anderes Instrument (Klavier, Gitarre usw.) besser.
 Überlegen Sie, ob jemand bereit ist, im normalen Gottesdienst die Rolle eines Vorsängers/einer Vorsängerin zu übernehmen. Das kann gelegentlich auch eine Gruppe sein.
 Trauen Sie der Gemeinde zu, auch einmal unbegleitet zu singen. Wenn das vorbereitet und mit geeigneten Liedern geschieht, kann das Ergebnis überraschend gut klingen. Wer mitsingt, sollte die eigene Stimme hören.
 Regen Sie Menschen in Ihrer Gemeinde dazu an, auch zuhause Lieder aus dem EG zu singen.
 Im Gemeindebrief und/oder auf der Homepage Ihrer Kirchengemeinde können Sie Artikel zu einzelnen Kirchenliedern bringen. Ich habe ein Buch mit kurzen Liederklärungen geschrieben,1 die dafür verwendet werden können.

Die Zukunft des Gesangbuchs wird durch die Menschen bestimmt, die es gebrauchen. Das schönste und beste Gesangbuch allein tut’s nicht, wenn wir uns nicht „mit Lust und Liebe“ (EG 341, 1) seinen Liedern widmen. Wenn wir wollen, dass das Gesangbuch ein treuer Begleiter fürs Leben wird, müssen wir Mut zum Singen haben und Menschen zum Singen ermutigen. 

 

Anmerkung

1 Das Buch erscheint im Selbstverlag bei www.amazon.de unter dem ­Titel „Evangelische Lieder verstehen. 72 Gesangbuchlieder kurz erklärt“ (Limburg/Lahn 2024), 120 S.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer i.R. Dr. habil. Michael Heymel, Jahrgang 1953, 1984 Promotion in Heidelberg, 2003 Habilitation in Prakt. Theologie in Rostock mit einer Arbeit über Seelsorge und Musik, Tätigkeit als Chorsänger in verschiedenen Kantoreien; zahlreiche Veröffentlichungen.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 10/2024

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