Jüngste Aussagen aus der Politik tendieren wieder mehr dazu, den Krieg als Mittel der Politik zu verstehen. Diese Formel sollte jedoch als überwunden gelten, meint Hans-Jürgen Benedict. Stattdessen geht es darum, den Frieden zu lernen – auch in kriegerischen Zeiten.*
Ich will beginnen mit drei Versen aus dem Kriegslied von Matthias Claudius, das dieser aus Anlass des bayrischen Erbfolgekriegs 1779 verfasste: „’s ist Krieg, ’s ist Krieg. O Gottes Engel wehre / und rede du darein, / ’s ist leider Krieg und ich begehre / nicht schuld daran zu sein. / Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen, / und blutig bleich und blaß / die Geister der Erschlagnen zu mir kämen, / und vor mir weinten, was? / Wenn tausend, tausend Väter, Mütter, Bräute, / So glücklich vor dem Krieg, / nun alle elend, alle arme Leute / wehklagten über mich?“
Claudius spricht hier als ein Mensch, der sich angesichts des drohenden Kriegs in Gewissensnot befindet. Die Toten und Verletzten suchen ihn mit ihren Klagen im Schlaf heim. Ihm bleibt nichts andres übrig, als um Schuldfreiheit zu bitten, weil er den Krieg nicht will. Er fordert den Engel Gottes zur Intervention auf. Gott bzw. der Engel Gottes ist der Statthalter des noch ohnmächtigen Gewissens. Diese Situation, den Krieg nicht zu wollen und ihn doch hinnehmen zu müssen, bestimmt auch heute noch unsere Lage, mit dem Unterschied, dass wir als Pazifisten aktiv werden können.
Die Formel von einem „kriegstüchtigen Deutschland“
Nach dem Votum von Boris Pistorius soll Deutschland in Zukunft „kriegstüchtig“ werden. Die Bundeswehr wie die Gesellschaft sollen dafür neu aufgestellt werden. Das heißt die Bundeswehr noch stärker aufzurüsten; 100 Mrd. € reichten dafür nicht aus. Mit seiner jüngsten Initiative, die Wehrerfassung mit Pflichtfragebogen und Musterung der jungen Männer (nicht der Frauen) wieder einzuführen und sie zum freiwilligen Wehrdienst zu motivieren, hat er einen weiteren Schritt in diese Richtung getan. Der Verteidigungsminister, der schon seiner Amtsbezeichnung nach eigentlich zur Zurückhaltung verpflichtet ist, will ein kriegstüchtiges Deutschland. Das klingt zwar realistisch, wenn wir uns die russische Politik in den letzten 10 Jahren anschauen mit der Besetzung der Krim und dem Krieg in den Donezk-Republiken. Und trotzdem sagen wir, das Volk Gottes, Nein und noch mal Nein zu dieser Formel. Sie knüpft an unselige Traditionen an. Deutschland ist zu oft dem Phantasma seiner Kriegstüchtigkeit erlegen und hat damit schreckliches Unglück über Europa gebracht.
Wenn Pistorius sagen würde, wir müssen gegen einen Aggressor wie Russland verteidigungsfähig und verteidigungsbereit sein, dann sieht das schon anders aus. Dass ein möglicher Feind weiß, dass wir uns verteidigen werden, dass unsere Waffen so effektiv sind, dass sie ihn abschrecken können, das gehört seit je zu den Grundbedingungen einer Politik, die den Krieg zwar nicht will, aber – und das ist das Neue an unserer Situation – angesichts des russischen Expansionsdrangs, mit ihm rechnen muss. Für uns Christenmenschen aber bleibt es wichtig, dass wir trotz der durch den russischen Angriffskrieg nötig gewordenen erhöhten Verteidigungsbereitschaft an der Friedenspolitik der früheren Regierungen festhalten.
Streit um den richtigen Weg zum Frieden
Also: Es gibt Streit in der Öffentlichkeit, in den Parteien und auch in den Kirchen. Denn es gibt nicht wenige unter uns, die sagen, sie machen bei der von Kanzler Scholz beschworenen Zeitenwende nicht mit. Sie wollen weder die Bundeswehr aufrüsten noch die Ukraine mit Waffen beliefern. Sie wollen vielmehr an dem Pazifismus, an jener Friedfertigkeit, die Frieden ohne Waffen schaffen will, festhalten. Der Friedensbeauftragte der EKD, Bischof Kramer, vertritt dezidiert diese Position. Er und andere berufen sich dabei auf Jesus, der die Friedfertigen seliggepriesen und zur Feindesliebe ermuntert hat. Das ist eine Haltung, die früher nur von den Friedenskirchen und einzelnen Christen vertreten wurde, auch wenn sie dafür leiden mussten. Die aber jetzt, genauer seit der Amsterdamer Vollversammlung 1948 mit ihrem Votum „Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein“ mit einiger Verspätung auch die Großkirchen erreicht hat, wenigstens was die Ablehnung des Krieges betrifft. Mit Ausnahme der russisch-orthodoxen Kirche, die die alte Tradition der engen Verbindung von Thron und Altar fortsetzt, indem sie Putins verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und den teuflischen Westen rechtfertigt. (So ähnlich hat der Geistliche Vertrauensrat der Vorläufigen Evangelischen Kirche Ende September 1939 nach dem verbrecherischen Angriffskrieg Hitlers und dem Sieg über Polen verkündigt: „Wir danken Gott, daß uralter deutscher Boden zum Vaterlande zurückkehren durfte und unsere deutschen Brüder nunmehr frei und in ihrer Zunge Gott im Himmel Lieder singen können.“)
Ich erinnere an die Kontroverse Ende der 1950er Jahre über Frieden schaffen mit und ohne Waffen, heftig geführt in dem Streit über die Verteidigung mit Atomwaffen zwischen staatstreuen Lutheranern und den die Atombewaffnung der Bundeswehr ablehnenden Unierten. „Wir bleiben unter Christus zusammen“, hieß es in der Ohnmachtsformel der Spandauer Synodenerklärung. Eine Kommission wurde beauftragt, Thesen auszuarbeiten. In diesen Heidelberger Thesen (1958) kam es zu dem Kompromiss, dass beide Wege für christlich möglich gehalten wurden. Sie seien komplementär. Doch das Ja zur atomaren Abschreckung wurde zeitlich begrenzt: es sei nur „eine heute noch mögliche Handlungsweise“, der Waffenverzicht wurde als Ziel angegeben. 1965 in einer Handreichung der DDR-Kirchen wurde hinzugefügt, „der waffenlose Dienst sei ein deutlicheres Zeichen des gegenwärtigen Friedensgebotes unseres Herrn.“
Wir nordelbischen Kriegskinderpastoren haben damals in den 1980er Jahren zum Ärger des Kirchenamtes in einer Stellungnahme uns gegen alle Kriegsdienste ausgesprochen und gegen die sog. Nachrüstung protestiert. Und nicht zu vergessen: gerade den Export von Waffen in Länder, die Krieg führten, auch innere Kriege haben die Katholische und die Evangelische Kirche stets abgelehnt und dafür auf das Grundgesetz hingewiesen. („Keine Waffen über den Hamburger Hafen“ war vor dem Ukrainekrieg das Motto einer Initiative, die den Hamburger Senat im Sinne der Präambel der Hamburger Verfassung – „Hamburg ist für Frieden und Völkerverständigung“ – zu einem Verbot bewegen wollte.)
Schwere Entscheidungen
Wie weit entfernt kommt mir heute dieser Protest vor! Die Zeit, dass man theoretisch darüber diskutieren konnte, ist jetzt vorbei. Wir befinden uns in der Zeit nach dem 24. Februar 2022, in der die Politiker Europas und des Westens dauernd dazu gezwungen sind, Entscheidungen zu treffen: Sollen wir Panzer liefern, weit reichende Abwehrraketen, Flugzeuge? – um nur an die letzten Debatten zu erinnern. Es waren schwere Entscheidungen und keinesfalls so schnell zu beantworten, wie die strammen Bellizisten unter den Befürwortern es verlangten.
Das Kriterium war dabei immer: Wir, die Länder des Westens, wollen keine direkt beteiligte Kriegspartei sein. Wir wollen die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland massiv unterstützen – mit Geld, humanitärer Hilfe und vor allem mit Waffen. Aber wir wollen eine Eskalation vermeiden, die zu einem größeren Krieg, möglicherweise sogar mit Atomwaffen führen könnte. Ich befürchte, diese Grenze, die der Philosoph Jürgen Habermas in seiner ersten Stellungnahme benannte und für die er auch die Bundesregierung, vorab Olaf Scholz und Annalena Baerbock lobte, dass sie diese Grenze beachteten – ich befürchte, diese Grenze ist weiter aufgeweicht worden. Jetzt stimmte der Bundeskanzler auch dem Einsatz von Patriot-Raketen und Lenkflugkörpern gegen die Stellungen in Russland zu, von denen aus Charkiv angegriffen wird. Dass die Waffenlieferungen ständig eskaliert wurden, und die Maxime nicht direkt gegen Russland aufgeweicht wurde, sehe ich mit großer Sorge. Es sollten vielmehr parallel zu den Waffenlieferungen die Friedensgespräche eskaliert und intensiver verfolgt werden.
Ein historisches Beispiel: Karl Barth zur Sudeten-Krise 1938
Ich bin der Meinung, wir können uns als Christen nicht heraushalten aus diesem Konflikt und dadurch unsere pazifistische Unschuld bewahren. Zum Vergleich erinnere ich daran, dass der Theologe Karl Barth, Mitverfasser der Barmer Theologischen Erklärung, 1938 in der Sudeten-Krise, als Hitler drohte, die damalige „Tschechei“ zu annektieren, in einem öffentlichen Brief an den tschechischen Theologen Josef Hromadka sagte, er „hoffe, daß die Söhne der alten Hussiten dem überweich gewordenen Europa zeigen werden, daß es auch heute noch Männer gibt“. Und dann, im veröffentlichten Brief gesperrt gedruckt: „Jeder tschechische Soldat, der dann streitet und leidet, wird es auch für uns tun, und ich sage heute ohne Vorbehalt: er wird es auch für die Kirche Jesu Christi tun, die im Dunstkreis der Hitler und Mussolini entweder nur der Lächerlichkeit oder der Ausrottung verfallen kann.“ Das, was von menschlicher Seite an Widerstand geleistet werden muss, so Barth weiter, finde heute an den Grenzen der Tschechoslowakei statt. Dabei solle man „sein Vertrauen nicht auf Menschen, Staatsmänner, Geschütze usw., sondern auf den lebendigen Gott und den Vater Jesu Christi setzen“. (zit. Andreas Pangritz, Politischer Gottesdienst. Zur theologischen Begründung des Widerstands bei Karl Barth).
Am 25. September 1938 wurde Barths Brief in der Prager Presse in Auszügen veröffentlicht, vier Tage später gaben Frankreich und England auf der Münchener Konferenz ihre Zustimmung zur Annexion des sog. Sudetenlandes. Chamberlain rief bei seiner Rückkehr nach England aus: „Ich bringe den Frieden mit.“ Welch ein Irrtum! Am 16. März 1939 folgte auf Geheiß Hitlers der Einmarsch der deutschen Truppen in Prag und die Errichtung des Reichprotektorats Böhmen und Mähren und ein halbes Jahr später die Eroberung Polens.
Analogien zur heutigen Situation?
Wer will, ersetze Hitler durch Putin, die Tschechoslowakei durch Ukraine, England und Frankreich durch die Westmächte, und die Aktualität wird deutlich, auch wenn Analogien schief bleiben. Als die russischen Truppen am 24. Februar 2022 auf Kiew marschierten, habe ich wie viele andere gedacht, es bleibt nur die Kapitulation und vielleicht die gewaltfreie soziale Verteidigung gegen den Aggressor (in einigen von den russischen Truppen besetzten Ortschaften der Ukraine hat es diese Verteidigung als Nichtkooperation mit dem Besatzer, z.B. durch Streiks, auch gegeben). Ich habe mich wie viele geirrt. Die Ukraine wehrt sich seitzweieinhalb Jahren mit Hilfe der westlichen Waffen erfolgreich gegen die Annexion. Und es bleibt inständig zu hoffen, dass ein Waffenstillstand und ein gerechter Frieden zum Rückzug Russlands führt! Gerade hat eine große Geberkonferenz für den Wiederaufbau der Ukraine in Berlin stattgefunden und es begann die von der Schweizer Regierung gestartete Friedenskonferenz zum Ukrainekrieg, die aber kaum relevante Ergebnisse bringen wird, weil Russland, Brasilien, China u.a. nicht dabei sind.
Und noch eines: Wenn es denn stimmt, dass die Ukraine neben ihrem Staatsgebiet auch die Werte und Errungenschaften des Westens – Freiheit, Gleichheit, Demokratie – verteidigt, und wenn wir wissen, dass dafür und für die nationale Identität der Ukraine schon über 80.000 ukrainische Soldaten gestorben sind und dass Hunderttausende verletzt wurden, dass große Städte zerstört wurden und die Infrastruktur des Landes immer wieder von russischen Lenkwaffen angegriffen wird, dass Millionen Ukrainer auf der Flucht sind, dann muss unsere Hilfe konstant, verlässlich weitergehen. Die Klagen der Mütter, Ehefrauen und Kinder über den Tod ihrer Söhne, Ehemänner und Väter verpflichten uns wie im Kriegslied von Matthias Claudius dazu. (Nicht zu vergessen die vielen Toten bei den russischen Angreifern, „Soldaten sind sich alle gleich, lebendig und als Leich“ (Wolf Biermann), oft junge Wehrpflichtige aus den asiatischen Gebieten Russlands, die in einen verbrecherischen Angriffskrieg geschickt wurden, den sie nicht verstehen; auch um sie trauern Mütter, Ehefrauen und Kinder!)
Aus den Reihen der Union und in der Öffentlichkeit wird Kanzler Scholz dafür kritisiert, dass er so zögerlich bei seinen Entscheidungen ist. Hinzu kommt, dass der entschlossen handelnde Verteidigungsminister Pistorius mit seiner Entscheidung, die Bundeswehr aufzurüsten und kriegstüchtig zu machen, bei Umfragen unter der Bevölkerung die höchsten Zustimmungswerte für einen Politiker hat. Wie also soll es weiter gehen? Was können wir als Christen dazu beitragen, dass bald eine friedliche Lösung gefunden wird?
Krieg und Gewalt in der Bibel
Wenn wir Rat suchen, blicken wir als Christen zuerst in unsere Heiligen Schriften. Die zeigen aber, dass Krieg und Gewalt ihr nicht fremd sind, im Gegenteil: Auch wenn man nicht gleich wie Goethe sagen muss, die Kirchengeschichte sei ein „Mischmasch von Irrtum und Gewalt“, die Geschichte der Zivilisation beginnt in der Bibel mit einem Brudermord und mit dem göttlichen Schutz für den Mörder, der zum Begründer der Stadtkultur wird. Sie zeigt uns schon bald einen Gott, der seine Menschenkinder ob ihrer ständig wachsenden Bosheit in einer großen Flut vernichtet und der doch danach zu der Erkenntnis kommt, dass der Mensch böse von Jugend auf ist und er deshalb die Erde nicht mehr vernichten will. Zum Zeichen dafür setzt er seinen Regenbogen in die Wolken.
Gott rüstet ab und ist doch immer wieder der richtende, auch schon mal zornige Gott, der Sodom und Gomorrha mit Feuer vom Himmel verzehrt, der Abraham nötigt, seinen Sohn zu opfern, die Ägypter jämmerlich im Roten Meer ersäuft, der die Rotte Korah in der Felsspalte zugrunde gehen lässt, das ums Goldene Kalb tanzende Volk dezimiert. Gott unterstützt Israel bei seinem Kampf gegen die Einwohner Palästinas in sog. heiligen Kriegen bzw. Kriegen Jahwes, er zieht voran, schreckt die Feinde und erwartet von den Kämpfern, dass sie nach einem Sieg den Bann am Feind vollstrecken, d.h. sie und ihr Vieh töten. Ich erinnere an den Helden Simson, der einen schrecklichen Terrorakt Ground Zero in der Philisterstadt begeht (3000 Menschen sterben), an Davids Kriege und an das Morden im Kampf um die Thronnachfolge Davids, an den Propheten Elia, der die Baalspriester zu Hunderten abschlachtet, an den Allerhöchsten, der den gewähren lässt, Hiobs Familie umzubringen usw.
Und das setzt sich selbst im NT mit seiner Botschaft von der Liebe Gottes in Jesus Christus fort: wo die Geschichte der Geburt in einen Kindermord mündet, wo den nicht für das Gottesreich bereiten die ewige Verdammnis angedroht wird („den unnützen Knecht werft hinaus“) und die Endzeit als gewaltiges apokalyptisches Drama sich vollzieht (Harmageddon). Ein schaurig-schrecklicher Gewaltfilm rollt vor unserem Auge ab und nicht umsonst werden die biblischen wie viele andere antike Mythen und Geschichten immer wieder von Hollywood verwertet oder neu erzählt. (In den 1950er Jahren, als es noch kein Fernsehen gab, bin ich in den Kindergottesdienst gegangen wegen der kleinen Bildchen, auf denen dann und wann auch die Gewaltgeschichten zu sehen waren – wie Saul den Speer auf den jungen David schleudert, wie David den Riesen Goliath mit seiner Schleuder tödlich trifft und ihn enthauptet, wie Absalom mit seinen langen Haaren im Baum hängen bleibt und vom Feldhauptmann erstochen wird.) – Dies ist der Realismus vor allem der Hebräischen Bibel und der sagt uns: Es gibt keine Welt ohne Gewalt, ohne Mord und Totschlag, ohne Streit, Fehden, Konflikte und Kriege.
Gewaltüberwindung in der Bibel
Immerhin aber gibt es in der Hebräischen Bibel auch eine Tendenz, den Krieg zu zähmen: das geschieht schon im Buch Deuteronomium 20,19ff mit den Kriegsgesetzen, z.B. keine Abholzung von Bäumen für Kriegszwecke. Vorschläge zur Gewaltüberwindung finden sich in der Bibel nur wenige. Eigentlich sind es nur drei der Antithesen der Bergpredigt, die vom Töten („gehe erst hin und versöhne dich mit deinem Bruder“), die vom Vergelten („wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dem halte auch die andere hin“) und besonders die Antithese von der Feindesliebe: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel seid. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt. 6)
Neu und weiterführend ist in der Bibel allerdings die Wahrnehmung der Erniedrigung und Erhöhung der Opfer und der Elenden – der leidende Gottesknecht (Jes. 54), die verfolgten Propheten und der zu Unrecht von Gott geschlagene Hiob. Und natürlich der gepeinigte und gekreuzigte Jesus („ein jeder sei gesinnt, wie Christus auch war … er erniedrigte sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn Gott auch erhöht …“, Phil. 2,5ff) Die memoria passionis ist ein wichtiger Beitrag des Christentums zur Gewaltüberwindung.
Und dann gibt es in der Hebräischen Bibel die Träume und Utopien vom ewigen Frieden. Neben dem Friedenskind von Jes. 9, dem Tierfrieden von Jes. 11 und dem Friedensfürst auf dem Esel (Sach. 9,9ff) vor allem Jes. 2,1-4 und Mi. 4,1-4, den Traum von der Völkerwallfahrt zum Berg Zion, die zu einer großen Abrüstung und Umrüstung führt, zur Konversion der Waffen, die zu Friedenswerkzeugen werden: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen.“ Das ist aber nicht etwas, was über Nacht und schnell geschieht. Sondern was sich in einem Prozess vollzieht. Vom Zion wird Weisung ausgehen: „Gott wird schlichten zwischen vielen Nationen und starken Völkern Recht sprechen bis in ferne Länder“ (so die „Bibel in gerechter Sprache“). Man müsste ergänzen: bis in ferne Zeiten.
Stationen des Friedensprozesses
Ich will einige Stationen dieses Prozesses benennen: Da wäre die Lehre vom „gerechten Krieg“, wie sie zuerst bei Cicero und Augustinus steht. Da ist die Entwicklung des Völkerrechts, wie sie bei Hugo Grotius vorangetrieben wird. Da wäre vor allem Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden zu nennen, die er im Jahr 1795 veröffentlicht hat (wir feiern ja gerade seinen 300. Geburtstag). Ich zitiere einige Artikel daraus: „Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Krieg gemacht worden.“ Und: „Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören.“ Weiter: „Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern Staat sich solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Vertrauen unmöglich machen.“ Man denke an Butscha und andere Kriegsverbrechen Russlands im gegenwärtigen Krieg. Es lohnt sich, diese Schrift trotz der schwierig-umständlichen Sprache Kants zu lesen. Besonders schätze ich seinen wunderbaren Satz: „es ist unter den Völkern der Erde so weit gekommen, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird.“ Wäre es doch so!
Es gibt Schritte im Friedensprozess, meistens abseits der Kirchen: Ich erinnere an die Gründung der ersten Internationalen Arbeiterassoziation während einer Kundgebung für den Freiheitskampf der Polen im September 1864, an Bertha von Suttners viel gelesene Schrift Die Waffen nieder, die 1899 der Friedenssehnsucht der Menschheit eine Stimme gibt, an die Haager Landkriegsordnung für eine gemäßigte Kriegführung, die 1899 auf der ersten Haager Friedenskonferenz beschlossen wurde, an US-Präsident Wilsons 12 Punkte-Plan nach dem Ersten Weltkrieg, an die Gründung des Völkerbunds 1920, an Dietrich Bonhoeffers Friedensandacht auf Fanö 1934: „Die Kirchen müssten ihren Söhnen die Waffen aus der Hand schlagen und über eine rasende Welt den Frieden Christi ausrufen“. Ich erinnere an die Gründung der UNO in San Francisco im Juni 1945 mit der Präambel der UN-Charta, in der es heißt: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen, sind entschlossen, die Welt von der Geißel des Krieges zu befreien“, und mit der Erklärung der Menschenrechte, an Theodor Eberts Entwurf einer Sozialen Verteidigung 1966, die langsam die militärische ablösen soll, und schließlich an die Genfer Flüchtlingskonvention und an die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs mit Sitz in Den Haag, der seine Tätigkeit im Juli 2002 aufnahm und der zuständig ist für Kernverbrechen des Völkerstrafrechts wie Völkermord und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Wenn diese Aufzählung verwirrt, weil sie einfach zu viele Fakten und Daten nennt, so will ich doch festhalten, dass all diese Schriften und Schritte zu dem Prozess gehören, der nach dem Propheten Micha in Zion (sprich Jerusalem) in den letzten Tagen beginnen soll – Zielpunkt: „sie werden nicht mehr lernen Krieg zu führen“, sondern abzurüsten. Und dann die wunderbare, kleinteilige bäuerliche Vision des Micha: „Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“ Frieden im Nahbereich und Ende der Abschreckung. Das ist eine schöne Hoffnung, die wir teilen und bei der wir doch immer wieder enttäuscht werden, jetzt besonders im Nahen Osten. Seit meiner ersten Reise dorthin 1968 hoffe ich auf Schalom für Israel und Salam für Palästina. Und wieder liegt alles in Trümmern, trauern die Menschen in beiden Ländern um Tausende von schrecklich gemordeten Toten und ein Frieden ist weiter entfernt denn je.
Ein skeptisches Fazit
Ich kann mir auf dieser Erde mit ihren fast 8 Mrd. Bewohnern und den damit gegebenen inhärenten Konflikten und den schlimmen Folgen des Klimawandels nicht vorstellen, dass dieser Zustand jemals erreicht wird. Es wird immer weiter irgendwo auf diesem Planeten kriegerische Konflikte geben und auch Friedensschlüsse, die den Namen nicht verdienen. Bestenfalls wird es stets ein kleines Mehr an Erkenntnis geben, wie ein Krieg verhindert werden und wie das Völkerrecht besser zur Geltung gebracht werden kann. Vielleicht werden immer mehr Länder wie der Prophet Micha nicht nur davon träumen, dass Abrüstung geschieht, sondern selbst erste Schritte unternehmen, damit sie in Ruhe „unter ihrem Feigenbaum sitzen“ können. Und ich hoffe auch, dass die, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.
Das ist ein skeptisches Fazit am Ende einer langen Betrachtung – tut mir leid! Deswegen will ich mit einem jüdischen Witz schließen: Erster Weltkrieg an der Front – „Heute geht es gegen den Feind, Soldaten, Mann gegen Mann“, sagt der Leutnant. Schmuel ruft: „Herr Leutnant, zeigen Sie mir meinen Mann, vielleicht kann ich mich gütlich mit ihm einigen.“
Anmerkung
* Ansprache beim Politischen Nachtgebet, Nikolaikirche Lüneburg, 14. Juni 2024.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2024