Der immense Aufwand an finanziellen, personellen und zeitlichen Ressourcen in der evangelischen Kirche fruchtet in nur „überschaubarer“ Weise. Liegen die Akzente falsch? Sorgt sich die Kirche zu sehr um ihr eigenes Haus als um das Haus Gottes? Mareile Lasogga fragt in ihrer kritischen Bestandsaufnahme: Welche Geister treiben uns an und welche treiben uns um? Welche Kriterien leiten uns, um zu unterscheiden, was dem Evangelium dient und was nicht?

 

Wir säen viel, unsere Erträge aber sind eher dürftig

Wenn ich mir die vielfältigen Reformanstrengungen, die zahlreichen Strategiepapiere und Prozesse zur Zukunftsgestaltung vergegenwärtige, die ich im Rahmen meiner Tätigkeiten bei der VELKD, der EKD und in meiner Hannoverschen Landeskirche wahrgenommen habe, kommt mir ein Wort des Propheten Haggai in den Sinn: „Achtet doch darauf, wie es euch geht: Ihr sät viel und bringt wenig ein“ (Hag. 1,5f). Ja, wir säen viel und arbeiten hart. Wir bemühen uns um Innovation, um Kreativität, Agilität, um den Anschluss an die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels nicht zu verpassen. Wir erforschen die Bedürfnislagen der Menschen, initiieren Transformationsprozesse, erstellen Prognosen und Statistiken, lassen uns durch externe Experten beraten und sind bereit, alles in Frage zu stellen. Wir wollen „nahe bei den Menschen sein“ und bemühen uns, in größtmöglicher Offenheit den Erwartungen der Menschen an die Kirche gerecht zu werden. Wir erschließen Zugänge zu digitalen Lebenswelten und experimentieren mit neuen Formaten der Verkündigung. Wir vernetzen uns und engagieren uns mit anderen Akteuren im Sozialraum und in anderen Bereichen der Zivilgesellschaft. Gut paulinisch tun wir alles, um allen alles zu werden. Für Paulus entscheidend ist jedoch das Motiv seines Handelns: „Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette“ (1. Kor. 9, 22). Leitet dieses Motiv auch unsere Kirche? Oder sind wir vielleicht versucht, im Zuge immer neuen Aktionen und Reformprogramme, allen alles zu werden, um auf alle Weise uns selbst zu retten?

Der immense Aufwand an finanziellen, personellen und zeitlichen Ressourcen fruchtet in überschaubarer Weise. Allen Anstrengungen zum Trotz verliert die Evang. Kirche seit Jahrzehnten unaufhaltsam Mitglieder, Personal, Kirchensteuern und Resonanz. Die VI. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 2023 konstatierte erstmals, dass die Kirche sich in Deutschland inzwischen in einer Minderheitensituation befindet. Die Anfang Mai 2024 von der EKD veröffentlichten Zahlen zu den Kirchenaustritten im vergangenen Jahr weisen in die gleiche Richtung. Auch wenn vielleicht „viele Menschen (…) nach wie vor hohe Erwartungen an die Kirchen“1 haben mögen, wie die amtierende Ratsvorsitzende meint, wird man nicht umhinkommen festzustellen, dass die Strategien, Konzepte und Reformanstrengungen der Kirche nicht die gewünschte Wirkung zeigen.

 

Die Sache Gottes und die Sache der Menschen

„Ihr sät viel und bringt wenig ein. … Warum das?, spricht der Herr Zebaoth. Weil mein Haus so wüst dasteht und ein jeder nur eilt, für sein Haus zu sorgen“ (Hag. 1,9). Der Text unterscheidet sehr klar zwischen der Sorge der Menschen für die Sache Gottes und der Sorge für ihre eigenen Dinge. Er rechnet sehr nüchtern damit, dass nicht alles, was Menschen im Namen des Evangeliums sagen und tun, tatsächlich auch Dienst am Evangelium ist. Bereits 1964 mahnte Ernst Käsemann: „Christus und die christliche Kirche sind ja nicht Chiffren, die sich mit jeder religiösen Organisationsform, allen möglichen theologischen Konzeptionen und den Wucherungen frommer Praxis verbinden lassen oder sie gar decken. Die Freude an der Mannigfaltigkeit des Geschichtlichen und der Wille zur Solidarität mit allen Geschöpfen Gottes dürfen nicht dazu führen, daß überall Heiliger Geist postuliert wird und die Kriterien zur Prüfung und Unterscheidung der Geister preisgegeben werden“2. Die Freude an der Mannigfaltigkeit des Geschichtlichen – wir würden heute sagen: Pluralität – und der Wille zur Solidarität haben in den vergangenen sechs Jahrzenten weiter stetig zugenommen. Das ist ein nicht zu überschätzender Gewinn. Damit wird jedoch auch die Frage nach den Kräften umso dringlicher, die in der Kirche heute wirksam sind: Welche Geister treiben uns an und welche Geister treiben uns um? Welche Kriterien leiten uns, um zu unterscheiden, was dem Evangelium dient und was nicht?

Die Beziehung zwischen der Sache Gottes und der Sache der Menschen wird im Johannesevangelium im Bild vom Weinstock und seinen Reben dargestellt: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh. 15,5), spricht Christus. Für unseren Kontext lässt sich diesem Wort entnehmen, dass der Maßstab, an dem kirchliche Gestaltungsprozesse auszurichten sind, christologischbestimmt ist. Damit sind Aspekte und Faktoren impliziert, die in den aktuellen Debatten um die Kirche und ihre Zukunft weder innovativ noch originell sind. Im Gegenteil, es handelt sich um Basics der christlichen Lehre vom Glauben. Als solche sind sie gestern wie heute buchstäblich richtungsweisend für die Gemeinschaft, die sich diesem Glauben verdankt und in ihm gründet. Dass diese Einsichten gleichwohl faktisch sehr stark in den Hintergrund gerückt sind und in den laufenden Prozessen praktisch kaum eine Rolle spielen, scheint mir deshalb ausgesprochen bedenklich zu sein. Um dieses Bedenken anzuregen, möchte ich im Folgenden in drei Gedankengängen an Dinge, die bekannt sind – oder es sein sollten – erinnern.

 

1. Kirche in Christus

Die dritte These der Barmer Theologischen Erklärung (BTE) hält fest: „Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern3, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt“ (Hervorhbg. ML). Für die Kirche konstitutiv ist ihre Bindung an die Person des lebendigen, erhöhten Christus, in dem Gott Menschen Gemeinschaft erschließt, der Menschen inspiriert, das Evangelium zu verkündigen und der kraft seines Geistes Glauben weckt. Evangelium predigen bedeutet deshalb nichts anderes als Christus zu uns kommen lassen oder uns zu ihm bringen, wie Luther formuliert.

Wozu also braucht es die Kirche? Nicht – zumindest nicht primär – zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des Gemeinwohls, zur Vermittlung von Werten oder zur Stärkung der Demokratie. Es braucht die Kirche, damit Menschen in Kontakt mit Christus kommen können. So wie die Reben ihre Lebenskraft aus ihrer Verbundenheit mit dem Weinstock empfangen, so erschließt sich das neue Leben in Wahrheit und Hoffnung nur in der Verbindung mit der Person Jesu Christi. Für die Einzelnen wie für die gesamte Kirche ist entscheidend, ob sie „in Christus“ sind oder nicht. Wenn die Kirche sich aus dieser Verbindung löst, werden alle ihre Anstrengungen und Aktivitäten vergeblich sein. Das christliche Erbe der Humanität – Menschenwürde, Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit – auf das die Kirche gegenwärtig fokussiert ist, wird irgendwann aufgebraucht sein, wenn sie den aus dem Blick verliert, der es ihr ausgezahlt hat (Lk. 15,11ff).

Weil die Reben im Weinstock eingewurzelt sind, haben sie auch an seinem Leben teil. Der Lebenssaft des Weinstocks nährt die Früchte; ohne ihn vertrocknen sie. Die Kirche hat kein eigenes Leben, kein eigenes Wachstum, keine Selbstentfaltung, die sie eigenmächtig steuern könnte. Es scheint mir daher wichtig zu sein, nicht nur in der Sache, sondern auch sprachlich an der Prädikation Jesu Christi als dem Herrn der Kirche festzuhalten, auch wenn manchen dieser Begriff im Zuge emanzipatorischer Entwicklungen, herrschaftskritischer Diskurse und demokratischer Errungenschaften mündig gewordener Menschen nicht mehr zumutbar zu sein scheint.

Beziehung zum Unverfügbaren

Die Entwicklung und Gestaltung zwischenmenschlicher Verhältnisse liegen auf einer Ebene, die kategorial zu unterscheiden ist von der Beziehung des Menschen zu Gott. Der Herrentitel erinnert auch die Kirche im 21. Jh. immer wieder daran, dass die „polare Spannung des Glaubens“4 von menschlichem Bemühen und Gottvertrauen keine Ellipse ist, sondern ein Verhältnis machtförmiger Asymmetrie. Das Unverfügbare ist mehr als nur ein Aspekt, der in kirchlichen Gestaltungsprozessen mit zu berücksichtigen ist. Was die Kirche in ihrem Handeln charakterisiert, ist, dass sie sich explizit zum Unverfügbaren verhält und Menschen hilft, ihr Leben in diesem Horizont zu reflektieren und sich praktisch daran auszurichten.

In der Beziehung zum Unverfügbaren – in der Relation coram Deo – gibt es für die Kirche keine selbstbestimmte Aktivität. In ihrem missionarischen Bemühen ersinnen Paulus und seine Gefährten Pläne, sie entwickeln Strategien und machen dabei die Erfahrung, dass ihnen nicht alle Wege offenstehen, um das Evangelium in die Welt hinauszutragen. Manche Wege, die zunächst vielversprechend zu sein scheinen, sind offensichtlich Irrwege, denn sie werden ihnen versperrt (Apg. 16,6f). Der Geist Jesu erweist sich ihnen nicht nur als segensreiche Bestätigung ihres Tuns, sondern auch als kritische Unterbrechung, als Kurskorrektur, als Zumutung, sich neu ausrichten zu lassen.

Eine Kirche, die den Geist des Herrn von ihrem eigenen Geist zu unterscheiden weiß, wird sich auf Erfahrungen auch dieser Art einstellen und sie in ihren Konzepten, Programmen und Strategien berücksichtigen. Sie wird dann engagiert tun, was zu tun ist und was getan werden kann. Zugleich wird sie aber auch anerkennen, dass wir trotz unserer Würdigung als Mitarbeiter Gottes in aller Leistungsbereitschaft und trotz erfolgreicher Leistungen letztlich „unnütze Knechte“ (Lk. 17,10) sind. Zwischen menschlicher Kreativität und der Inspiration des Geistes gibt es keine Vermittlung. Das Vorzeichen vor der Klammer kirchlicher Aktivitäten ist und bleibt das Eingeständnis der „grundlegenden Inkompetenz angesichts des Heiligen, des dem Menschen nicht Zuhandenen“5.

Die Logik von Wachstumsprozessen

Das Bild vom Weinstock macht ferner deutlich, dass die Kategorie für das Gelingen unserer Anstrengungen nicht der „Erfolg“ ist, auch nicht die „Resonanz“, sondern das Fruchtbringen (griech.: „karpophoreo“). Erfolg spiegelt sich in der sozialen Anerkennung menschlicher Leistungen. Resonanz wird erfahrbar in der Aufmerksamkeit, Zustimmung und dem Teilnahmeverhalten, mit dem Menschen auf Angebote reagieren. Geistliche Dinge hingegen folgen der Logik von Wachstumsprozessen. Das Wachstum lebendiger Organismen lässt sich unterstützen, fördern und pflegen6. In alledem ist und bleibt es jedoch durch Faktoren bedingt, die sich menschlicher Planung und Kontrolle entziehen. Die Steuerungsmöglichkeiten, mit denen sich Wachstumsprozesse gestalten lassen, bleiben daher bescheiden.

Der Soziologe Armin Nassehi hat im Rahmen des Zukunftsforums der EKD 2020 auf die Notwendigkeit hingewiesen, zu unterscheiden zwischen den Dingen, die die Kirche organisieren kann und den Dingen, die sich dem organisierenden Zugriff entziehen. Es kann, so Nassehi, hilfreich sein, in einer bestimmten – demütigen – Art zu wissen, was sich durch den gezielten Zugriff der Organisation verändern kann und was einen ganz anderen Zugang erforderlich macht. Die Entwicklung der Kirche „ergibt“ sich nicht aus der optimierten Gestaltung ihrer organisationalen Bedingungen und Möglichkeiten; sie „erwächst“ vielmehr aus der Verbindung mit Christus als dem Subjekt der Kirche.

Dass die Kirche als Organisation selbstredend gestaltet und verwaltet werden muss, bleibt davon unberührt. Selbstverständlich müssen wir uns Gedanken machen, wie das, was sich organisieren lässt, bestmöglich organisiert und verantwortungsvoll gestaltet werden kann. Dabei ist jedoch im Blick zu behalten, dass das organisierende Handeln in Wachstumsprozessen nicht mehr als eine unterstützende – man könnte, um das Bild der Knechte noch einmal aufzugreifen, auch sagen: dienende – Funktion hat. Wenn sich dieser Fokus jedoch verschiebt, weil das organisierende Handeln faktisch immer stärker in den Mittelpunkt rückt, könnte die Kirche aus dem Blick verlieren, was das Bild vom Wachsen und Fruchtbringen gleichnishaft verdeutlicht: dass wir Mitarbeitende sind an Gottes Werk, nicht die Herrendes Geschehens.

Effekthascherischer Jargon

Die Verwurzelung der Reben im Weinstock hat Folgen auch für die Art der öffentlichen Kommunikation der Kirche. Einer saloppen, coolen, effekthascherischen Rede von „Kirche“ ohne Artikel fehlt es nicht nur an Respekt gegenüber dem, was die Reben hält und nährt. Sie hat auch eine ungewollt selbstabwertende Tendenz, die der Darstellung der Kirche im öffentlichen Raum schadet. Jargon ist nicht nur anbiedernd, sondern unernste Rede, die zu den unnützen Worten gehört, für die wir einmal werden Rechenschaft geben müssen (Mt. 12,36).

Noch ein zweiter Aspekt ist mir in diesem Zusammenhang wichtig: Die Kirche ist das Instrument, das Medium, durch das Gott sich Menschen in der Kraft seines Geistes vernehmlich macht. Das zerbrechliche, nicht immer ansehnliche irdene Gefäß ist dennoch von Gott für würdig befunden, einen Schatz hüten (2. Kor. 4,7). So wie die Kirche kein eigenes Leben hat, so ist auch das Evangelium, das sie auszurichten hat, nicht das Evangelium der Kirche. Das Evangelium nimmt die Kirche in seinen Dienst – nicht umgekehrt.

Auch wenn der Begriff der Verkündigung für zeitgenössische Ohren einen paternalistischen Beiklang haben mag, so verdeckt die Rede von der „Kommunikation des Evangeliums“, dass die Kirche ein Wort ausrichtet, dass sie nicht selbst zu verantworten hat und auch nicht selbst verantworten kann. Das griechische Verb „kerysso“ bedeutet wörtlich, etwas durch einen Herold ausrufen lassen. Strukturell betrachtet ist die Verkündigung somit die Proklamation einer öffentlichen Botschaft im Auftrag und Namen eines anderen. „Religion eröffnet sich nicht als überschaubares Angebot, als herrenlose Antwort auf menschliche Grundfragen, sondern als Anspruch eines Anderen. Der Anspruch trifft auch dann, wenn ihm widersprochen wird“7.

Die Kirche ist daher etwas anderes als eine Gesinnungsgemeinschaft, ein Verein oder eine NGO, in denen sich Menschen zusammenfinden, die gemeinsame Interessen pflegen. In die Gemeinschaft mit Christus kommen Menschen, wenn der Geist sie beruft: „Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat“ (Joh. 6,44). Die Kirche darf die Verkündigung des Evangeliums deshalb nicht der Logik des Marktes oder den Gesetzen der Konsumorientierung anpassen. Sie ist keine „Dienstleisterin des Evangeliums“8. Es ist irreführend, den Segen Gottes in sog. „Service-Stellen“ oder „Kasual-Agenturen“ als vielfältige Angebotspalette vorhalten zu wollen. Serviceorientierung sollte in allen Bereichen der kirchlichen Verwaltung leitend sein; bezüglich der Verkündigung des Evangeliums ist diese jedoch unangemessen.

Für weiterführende Überlegungen, wo die Grenzen verlaufen, scheint mir die selbstkritische Frage hilfreich zu sein, welche Motive und Interessen unser Handeln tatsächlich leiten: Geht es uns darum, Menschen in das Haus Gottes zu rufen oder wollen wir Menschen in ­Häuser einladen, die wir selbst unterhalten?

 

2. Kirche in der Gegenwart

„Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt“ (BTE 3; Hervorhbg. ML). Die Kirche lebt aus und in der Beziehung zu Jesus Christus, der sich kraft seines Geistes im gepredigten und gespendeten Wort in den Herzen der Glaubenden vergegenwärtigt. In seinem Wort befreit Gott „von der Last der Vergangenheit und der Angst vor der Zukunft zur Wahrnehmung seiner Gegenwart – der Gegenwart Gottes, bei dem das Gegenwärtige Grund der Vergangenheit und Zukunft ist“. Die damit vollzogene Verbindung von „Wort und Zeit“9 lässt sich in ihrer existenziellen Bedeutung vielleicht mit Lk. 23,40-43 illustrieren: Einer der beiden Männer, die mit Jesus gekreuzigt werden, wendet sich ihm zu und empfängt eine Zusage: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Dem Verurteilten erschließt dieses Wort eine neue Perspektive auf sich selbst: Die Vergangenheit, die sein Leben zerstört hat und ihn dorthin gebracht hat, wo er jetzt hängt, verliert ihre Macht als Deutungshoheit über sein Leben. Die Identität des Menschen wird durch das Wort Jesu neu definiert. Er ist nun ein Mensch, der mit Jesus im Paradies sein wird. Das Ende wird zum Anfang einer neuen Geschichte, die auf Zukunft hin offen ist. Denn der Zeitpunkt, in dem Vergangenheit und Zukunft zusammentreffen, ist „heute“. Der Kairos ereignet sich in jenem Augenblick der Geistesgegenwärtigkeit, in dem der Mensch sich dem Wort hörend öffnet.

Wort Gottes statt Sinnangebote

Dieses Wort, in dem Christus sich Menschen heute zuspricht, ist deshalb mehr und etwas anderes als ein deutendes Wort. Es vermittelt keine „Sinnangebote“, die Menschen helfen, die kontingenten Erfahrungen ihres Lebens besser zu verstehen und praktisch zu bewältigen. Im gepredigten und sakramental gespendeten Wort erhalten Menschen Teil an der Fülle des Lebens, die in Christus „leibhaftig“ erschienen und wirksam ist (Kol. 2,9f). Das Wort Gottes gibt Menschen nicht nur etwas zu verstehen. Es bewegt auch nicht nur die Herzen, in dem es tröstet, ermutigt und aufrichtet. Durch die dem Wort eigene Dynamik werden Menschen vielmehr von der Heilsmacht Gottes ergriffen, „errettet von der Macht der Finsternis“ und „in das Reich seines lieben Sohnes“ versetzt (Kol. 1,13). Gottes Wort ist ein schöpferisches, verwandelndes, wirkendes Wort; ein „Gabewort, in dem sich Gott selber – der Vater durch den Sohn im Heiligen Geist – uns gibt und damit in seine Gemeinschaft hineinnimmt“10. Wenn Menschen in die Gemeinschaft mit Gott gelangen, wenn sie „in Christus“ sind, ist das Alte vergangen und Neues ist geworden (2. Kor. 5,17). In seiner schöpferischen Kraft wird die im Wort erschlossene Gegenwart Gottes damit zur alles entscheidenden „Zeit der Mitte“11, in der die Modi der Zeit miteinander „verschränkt“12 sind.

Weil und wenn Gott sich im Medium seines Wortes Menschen vergegenwärtigt, wird die Kirche, der dieses Wort anvertraut ist, zur „Pforte des Himmels“ (Gen. 28,17). Die Bedeutung des irdenen Gefäßes bemisst sich nicht am äußeren Erscheinungsbild. Sie hängt auch nicht an der Zahl ihrer Mitglieder, an Dingen, die sie sich finanziell leisten kann oder an gesellschaftlicher Relevanz und Akzeptanz. Entscheidend ist vielmehr, ob das Haus der Kirche von Gottes Gegenwart erfüllt ist oder ob in diesem Haus andere Worte und Dinge raumfüllend sind. „Der Himmel und Erde füllt, wird auch ein Haus füllen können. … Was Wunder, dass ein Haus mit Vielem angefüllt ist, wo nicht Gott der Hausherr ist. Weil du den nicht siehst, der das Haus füllen soll, müssen tatsächlich alle Winkel leer scheinen. Wenn du ihn aber ansiehst, wirst du niemals gewahr, ob ein Winkel leer ist. Du glaubst, alles sei voll und es ist auch alles voll“13. Folgt unser Blick, der so stark auf den Mangel fixiert ist, vielleicht einer falschen Perspektive? Bildet die Gegenwart Gottes den Ausgangs- und Angelpunkt unserer Gestaltung kirchlichen Lebens?

Zukunft und Gegenwart – Projektion und Prophetie

Die Perspektive, in der wir die Herausforderungen der Kirche reflektieren und bearbeiten ist die Zukunft. Wir fokussieren uns zurzeit mit viel Energie und Selbstbewusstsein auf Projektionen, Strategien und Szenarien, um unsere Kirche in eine gute Zukunft zu führen. Landeskirchenämter erarbeiten Strategiepapiere, die Gemeinden entwickeln innovative Formate und Projekte und alle zusammen ringen wir um „Visionen“ für die Zukunft der Kirche. In allem Bemühen steht der Ausgriff auf das „Neue“ im Mittelpunkt, das Neue als Überbietung, Optimierung oder Fortschreibung des Alten, Tradierten in Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen. Die mehr oder weniger innovativen Konzepte und Ideen vieler Reformpapiere sind daher von dem Interesse geleitet, die Kirche in ihrer Beziehung zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen immer wieder neu auszurichten.

Die Zukunft der Kirche hängt jedoch nicht an den Funktionen, die sie für das Gemeinwohl erbringt, sondern an ihrer geistlichen Lebendigkeit. Und diese ist nicht das Produkt kreativer Gestaltung, kluger Verwaltung, erst recht nicht von geschickter Vermarktung. Sie gründet ausschließlich darin, dass die Reben mit dem Weinstock heute verbunden bleiben. Denn „in der concupiscentia futurorum schrumpft jede Gegenwart; sie verliert ihre Fülle“14. Die Verbindung der Kirche mit ihrem Herrn in der Gegenwart seines Wortes scheint so selbstverständlich und sonnenklar, dass es fast banal anmutet, darauf explizit hinzuweisen. Und doch ist immer wieder zu beobachten, dass theologische Grundeinsichten praktisch bedeutungslos sind, weil die Kirche immer wieder versucht ist, auf eigene Kräfte zu vertrauen, eigenen Interessen zu folgen und sich von ihren Ängsten und Sorgen den Blick verstellen zu lassen. Mit eindringlichem Ernst ermahnt Jesus seine Jünger deshalb immer wieder zur Selbstprüfung und Wachsamkeit.

Die Visionen der atl. Propheten lenken den Blick ihrer Zeitgenossen nicht in eine unbestimmte Zukunft, sondern auf die Krisen der Gegenwart. Unter der Oberfläche, hinter den Äußerlichkeiten des Alltags enthüllen sie Tiefenschichten der gegenwärtigen Zeit, in der die Zukunft beschlossen liegt. Sie öffnen den Menschen die Augen für hintergründige Zusammenhänge, die in den vordergründigen Ereignissen und Erfahrungen verborgen wirksam sind. Die prophetische Kritik zielt dabei bezeichnenderweise häufig nicht auf die Kirchenfernen, die Distanzierten und Säkularisierten, sondern auf Menschen, die zum Inner Circle gehören. Die Wurzel des Übels liegt nicht außerhalb, sondern innerhalb des Tempels. Das Bild des Ärgernisses schaut der Prophet „am Eingang des inneren Tores“ (Ez. 8,3). Im Tempel kehren die Menschen Gott den Rücken zu und beten stattdessen die Sonne an (Ez. 8,16).

Ein selbstkritischer Blick in die Tiefendimension unserer Gegenwart

Was enthüllt sich dem selbstkritischen Blick in die Tiefendimension unserer Gegenwart? Welche Götzen erzürnen Gott in unseren modernen Tempeln? Vielleicht die Verzweckung des Evangeliums, das unter dem Leitwort der Lebensdienlichkeit einseitig auf seine individuelle und gesellschaftliche Nützlichkeit hin befragt und ausgelegt wird? Oder die Rationalisierung der biblischen Zeugnisse, die nur das gelten lässt, was dem Lebensgefühl und dem Weltbild heutiger Menschen zumutbar erscheint? Oder die Verharmlosung der uns aufgetragenen Botschaft, die auf die gefälligen, angenehmen, allgemein zustimmungsfähigen Aspekte abstellt und die Zumutungen des Glaubens darüber verschweigt? „Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und sie müssen brennen“ (Joh. 15,6).

Unsere Kirche macht sich viele Gedanken wie sie ihre Mitglieder bindet, ihre Finanzen gut verwaltet, Strukturen reformiert, bewährte Angebote weiterhin vorhält – kurz, wie sie sich „zukunftsfähig aufstellt“. Das alles beschäftigt und beunruhigt uns sehr. Der Gedanke, dass das Evangelium keine Lehre ist, die uns zuhanden ist, sondern eine Kraft zum Heil (Röm. 1,16), die wie ein Platzregen auf die Erde strömt, aber auch weiterzieht (Luther) – sollte der uns nicht weit mehr beunruhigen? Wir machen uns sehr viele Gedanken, wie wir Menschen motivieren können, zur Kirche zu kommen. Machen wir uns auch Gedanken, ob Gott mit seinem Geist in seiner Kirche gegenwärtig bleibt15?

 

3. Kirche in der Welt

„Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt“ (BTE 3; Hervorhbg. ML). Der lebendige Christus, mit dem die Kirche verbunden ist, ist das Subjekt kirchlicher Wirksamkeit. Er wirkt in der Präsenz seines Geistes und durch das Mittel seines schöpferischen Wortes. Die Kirche lässt sich daher für sein Wirken in den Dienst nehmen, wenn sie das Wort im Raum der Öffentlichkeit zur Sprache bringt. Alles, was die Kirche tut, hat seinen Ausgangs- und Bezugspunkt im Hören auf das Wort, das der Kirche vorgegeben ist und bleibt. Aus eigener Kraft vermögen die Reben nichts zu tun. Die Kirche ist deshalb wesentlich ecclesia audiens. Sie ist dies nicht in der unbestimmten Ausrichtung am „biblischen Menschenbild“, „christlichen Positionen“, „biblischen Bildern“ oder „christlichen Werten“, sondern in einer inhaltlich klaren Orientierung, die sich aus der regelmäßig praktizierten, philologisch konzentrierten und auf existenzielle Aneignung zielenden Auseinandersetzung mit den biblischen Zeugnissen ergibt. Das wird uns jedoch nur möglich sein, wenn wir uns für diese Texte und ihre Botschaft wieder interessieren, anstatt Themen zu kommentieren und auf Fragen zu reagieren, die das Interesse in Gesellschaft, Politik und Medien aktuell bestimmen.

Damit ist die Bereitschaft vorausgesetzt, sich von den Worten der Schrift in der Erkenntnis aller Dinge leiten zu lassen – auch und vielleicht gerade von den Worten, die quer stehen zu Vorstellungsgehalten, die anschlussfähig, weil gesellschaftlich plausibilisiert erscheinen. Nur im Hören auf die biblischen Texte wird die Kirche „in Christus“ bleiben; andernfalls läuft sie Gefahr, aus der Verbindung mit dem Weinstock herauszufallen. Die Warnung in Joh. 15,6 lässt keinen Zweifel daran, dass das möglich ist. Dem Zustand der Kirche entspricht ihr Umgang mit der Schrift, konstatierte Johann Albrecht Bengel. Liegt die viel beklagte Krise unserer Kirche möglicherweise in ihrer „trostlosen Bibellosigkeit“16 begründet? Müssen wir vielleicht wieder lernen, uns im Hören auf das Wort wie Maria selbst zurückzunehmen, um nachhaltige Orientierung für unser Handeln zu gewinnen? Eine Kirche, die stattdessen wie Marta der Aufdringlichkeit17 der alltäglichen Geschäfte erliegt und sich in der Vielzahl der tagesaktuellen Anforderungen zerstreuen lässt, könnte das eine, das nottut, aus dem Blick verlieren und damit den Menschen schuldig ­bleiben.

Der Dienst des Bezeugens statt des Bewirkens

Der Dienst der ecclesia audiens in der Welt und für die Welt ist in erster Linie ein Dienst des Bezeugens und weniger des aktiven Bewirkens. Das ergibt sich nicht nur aus der Asymmetrie von Wort und Glaube, Hören und Handeln, sondern vor allem aus der Einsicht in die Selbstwirksamkeit des schöpferischen Gotteswortes, das anders als Menschenworte bewirkt, was es verheißt. Kirchliches Handeln ist nicht instrumenteller Art, sondern wesentlich darstellendes Handeln. In diesem Sinne kritisiert Wolfgang Huber die Tendenz der evangelischen Kirche, ihre Beziehung zur Welt im neuzeitlich dominanten „Modus des Verfügens“ zu gestalten: „Ein Schiff auf dem Mittelmeer wird dann für ein ganzes Jahr zum Inbegriff wirksamen kirchlichen Handelns in Deutschland, hinter dem die Gottesdienste in 13.552 evangelischen Gemeinden im öffentlichen Bewusstsein ins Bedeutungslose versinken“18.

Der Dienst des Bezeugens stellt die Kirche immer wieder vor die Frage, wie sie das Evangelium so zur Sprache bringt, dass Menschen heute der Gegenwart Gottes in ihrem Leben inne werden können. An originellen Ideen und Experimenten, innovativen Projekten, kreativen Inszenierungen im analogen und digitalen Raum mangelt es nicht. Das „Neue“ scheint auch mit Blick auf die Gestaltung von Verkündigungsformaten zurzeit besonders verheißungsvoll zu sein. Auf Neues reagieren Menschen in der Regel neugierig. Die Erfahrung des Paulus auf dem Areopag zeigt jedoch, dass die Neugier sich auch schnell wieder verflüchtigen kann. Die Menschen in Athen sind begierig, Neues zu hören und zu erleben. Sie sind jedoch nicht bereit, sich in den Vorstellungen und Einstellungen, die ihre Sicht auf das Leben prägen, irritieren zu lassen. Das hat sich bis heute nicht geändert. Solange Paulus sich im Rahmen vorgegebener Plausibilitäten bewegt, hören ihm die Menschen deshalb gerne zu. Als er den Vorstellungsrahmen jedoch weitet und mit der Botschaft von der Auferstehung schließlich sprengt, scheiden sich die Geister. Die Masse fremdelt mit der ungewöhnlichen Botschaft; die Menschen reagieren spöttisch oder gleichgültig. Nur „einige“ kommen zum Glauben. Wir können gekränkt reagieren, verzagen und mutlos werden, wenn die Resonanz, die wir uns wünschen, ausbleibt. Wir können uns aber auch von Paulus daran erinnern lassen, dass der Glaube eine Sache der Erwählung ist und bleibt.

Den Horizont des Erwartbaren überschreiten

Die Kirche hat die Aufgabe, das Evangelium ausnahmslos allen Menschen zuzusprechen. Dazu muss sie in der Tat „nahe bei den Menschen sein“ und sie dort abholen, wo sie gerade sind. Das bedeutet aber nicht, dass wir bei den Fragen, Erwartungen und Vorstellungen der Menschen auch stehen bleiben. Die Kirche steht auch heute wie Paulus auf dem Markt und hat den Auftrag, den „ganzen Christus“ zu verkündigen und das christliche Wirklichkeitsverständnis in der Spannung von Gesetz und Evangelium zu entfalten. Ich habe den Eindruck, dass kirchliche Rede sich häufig unausgesprochen von der Prämisse leiten lässt: Nur was Menschen kognitiv in ihrem Weltbild verorten können, nur was emotional anschlussfähig ist an das Lebensgefühl, die Hoffnungen und die Sehnsüchte der Menschen, nur das ist auch sagbar. Nur was sich mit dem Erfahrungshorizont der Menschen heute vermitteln lässt, das darf man auch predigen.

Wenn die Kirche sich scheut, den Horizont des Erwartbaren zu überschreiten, verkehrt sie das Evangelium in eine mehr oder weniger nützliche und letztlich überflüssige Botschaft, die die Menschen sich auch selbst sagen können. Sie bleibt der Gesellschaft das Evangelium damit schuldig, denn „je ärmer, je geistlich ärmer sie ist, umso mehr hat die Welt ein heiliges Recht, hat sie einen ihr selbst zwar unbewussten, aber unabweisbaren Anspruch auf den wahren Schatz der Kirche“, betonte E. Jüngel in einem Vortrag vor der EKD-Synode in Leipzig 1999.

Ihren wahren Schatz wird die Kirche austeilen, wenn sie es wagt, in ihren Strategien, Konzepten wie auch in notwendigen Anpassungsleistungen darauf zu vertrauen, dass Christus durch sein Wort, das die Kirche ausrichtet, in der Welt gegenwärtig handelt. Es geht darum, mit dem Wirken des Geistes als einem –entscheidenden – Faktor zu „rechnen“ (vgl. Röm. 8,18: „logizomai“). Wenn uns das gelingt, werden wir auch wieder gewiss werden, dass das Evangelium nicht auf Vorbedingungen und Voraussetzungen angewiesen ist, um Herzen zu erreichen und Glauben zu wecken.

Die Menschen heute mögen der Kirche vielleicht ferner und kritischer gegenüberstehen als in früheren Zeiten einer stabilen und unhinterfragten Volkskirchlichkeit. Das bedeutet aber nicht, dass säkulare Zeitgenossen auch dem Reich Gottes gegenüber ferner sind als religiös sozialisierte und der christlichen Tradition verbundene Menschen. Glaube ist nicht Menschenwerk, sondern Werk des Heiligen Geistes. Auch religionslose Menschen werden das Wort heute hören, wenn der Geist es ihnen erschließt. Unsere an geistlichen Erfahrungen arme und theologisch unsicher gewordene Kirche sollte sich darauf besinnen, dass uns nicht nur das Hören, sondern auch das Reden unverfügbar ist. In allen und trotz aller Anstrengungen und Bemühungen um eine zeitgemäße Ansprache der Menschen werden wir das Wort nur ausrichten können, wenn uns dies kraft des Geistes ermöglicht wird. Predigen impliziert immer die Bitte, „dass Gott uns eine Tür für das Wort auftue und wir das Geheimnis Christi sagen können“ (Kol. 4,3).

 

Ausblick: Das Haus Gottes und das eigene Haus

Die Kirche muss unterscheiden zwischen ihrem Dienst am „Haus Gottes“ und der Arbeit am „eigenen Haus“ in seinen verschiedenen Gestalten als Institution, Organisation und Netzwerk bzw. Bewegung. Mit Blick auf das eigene Haus müssen wir auf Zukunft hin planen, wie wir mit unseren Ressourcen umgehen, Strukturen optimieren oder reformieren, und manches sicher auch erneuern. Auch mit Blick auf tradierte Verkündigungsformate müssen wir prüfen, was sich bewährt hat, gleichzeitig aber auch Neues wagen und ausprobieren, um Menschen erreichen zu können. Wir dürfen und sollen uns um das eigene Haus kümmern, sorgen und tun, was uns möglich ist und diese Dinge aktiv gestalten.

Ich nehme allerdings auch eine Tendenz kirchlicher Selbstzentrierung wahr, die von der Sorge um den institutionellen Erhalt dominiert ist und in der Öffentlichkeit als penetrante Selbstdarstellung sichtbar wird. Entsprechend viel Zeit, Kraft und Geld wurde und wird in Kampagnen, Werbestrategien, Imagepflege u.ä. investiert. Ist es legitim, wenn die Kirche sich auf dem Markt der Möglichkeiten als ein Akteur neben anderen Playern bestmöglich zur Schau stellen, der Logik des Marketings und den Spielregeln der Massenmedien folgend für sich selbst Reklame machen will?

Die Unterscheidung zwischen dem Haus Gottes und dem eigenen Haus ist für die evangelische Kirche in jeder Hinsicht konstitutiv und sollte daher auch mit Blick auf anstehende Gestaltungsaufgaben richtungsweisend sein. Damit erschließt sich möglicherweise eine neue Sicht nicht nur auf Dinge, die uns gelingen, sondern ebenso auf Anstrengungen und Unternehmungen, die nicht fruchten. Wir würden dann vielleicht selbstbewusster und souveräner tun, was wir tun können und zugleich demütiger und gelassener mit dem umgehen, was sich unserem Einfluss entzieht. Der Geist wirkt mit uns und durch uns. Er wirkt aber auch ohne uns, unabhängig von dem, was uns gelingt und misslingt, und führt die Kirche den Zielen entgegen, die er ihr bestimmt hat. Die Fußleuchte des Wortes erhellt uns immer nur die nächsten Schritte. Das ist der Aktionsradius, in dem wir uns bewegen. Die vor uns liegenden Meter und Kilometer liegen in der Zukunft verborgen und entziehen sich dem Ausgriff der Erkenntnis wie dem Zugriff der Gestaltung. Es ist daher nicht unsere Aufgabe, eine „Reform der Kirche“ anzustrengen. Wir haben keine Legitimation, keine Kompetenzen, kein Vermögen, uns als Kirche „neu zu erfinden“ oder Strategien zu entwickeln, wie wir uns als Kirche „zukunftsfähig aufstellen“ wollen. Das alles sind Dinge, die Gott vorbehalten sind.

Die Zeitgenossen des Haggai werden schließlich wieder inspiriert, und in der Kraft des Geistes beginnen sie, an GottesHaus zu arbeiten. Gott gibt seinen Segen und das Werk ihrer Hände empfängt die Verheißung, dass es Frucht bringen wird. Dürre ist keine Erfahrung, die die Kirche den gesellschaftlichen Umständen – der Säkularisierung, dem Individualismus, der schwindenden Bedeutung von Institutionen und was der Dinge mehr sein mögen – anlasten darf, um sich davon zu dispensieren. Sie muss darüber aber auch nicht resignieren und die Hände in den Schoß legen. Es ist der Geist Jesu Christi, der in der Kirche als der Herr gegenwärtig handelt. Der Geist Jesu ist nicht der Geist der Gemeinde. Und sein Geist inspiriert Menschen gestern wie heute. „Was will das werden“? fragen sie einander dann (Apg. 2,12)? Ja, was will das werden, wenn die Kraft des Geistes in schwachen Menschen mächtig wird?

 

Anmerkungen

1 K. Fehrs, „Wir werden eine kleinere und ärmere Kirche“. Erwartungen an Kirche trotz abnehmender Kirchenbindung hoch, Pressemitteilung des Kirchenamtes der EKD vom 02.05.2024, https://www.ekd.de/predigten/fehrs-wir-werden-eine-kleinere-und-aermere-kirche-83812.htm, aufgerufen am 14.5.2024.

2 E. Käsemann, Einheit und Vielfalt in der neutestamentlichen Lehre von der Kirche, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 21965, 262-267; 265.

3 Ich verstehe diese Formulierung im Sinne des generischen Maskulinums.

4 Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006, 32.

5 S. Weyer-Menkhoff, Religiöse Kompetenz oder Gottesfurcht, in: S. Beckmeyer/C. Mulia (Hg.), Volkskirche in postsäkularer Zeit. Erkundungsgänge und theologische Perspektiven, Stuttgart 2021, 279-289; 289 (Hervorhbg. ML).

6 Vgl. dazu die Ausführungen zum kirchlichen Handeln als Frömmigkeitspflege bei K. Fechtner, Mild religiös. Erkundungen spätmoderner Frömmigkeit, Stuttgart 2023, 162f.

7 S. Weyer-Menkhoff, a.a.O., 287.

8 Horizonte5. Der Zukunftsprozess der Nordkirche, https://www.horizontehoch5.de/fileadmin/user_upload/Projekte_und_Kampagnen/Horizonte_hoch_5/Dokumente/Dokumentation_der_Zukunftssynode_inkl_Synodenreader.pdf, aufgerufen am 13.6.2024, 9.

9 O. Bayer, Zugesagte Gegenwart, Tübingen 2007; VII (Hervorhbg. ML).

10 Ebd., 86.

11 Ebd., 5.

12 Vgl. dazu näher O. Bayer, „Dem Teufel zum Trotz“. Gewißheit und Zuversicht. Luthers Zeitwahrnehmung, in: ebd., 80-91; bes. 88ff.

13 WA 15, 365 (Predigten und Schriften; 1524).

14 O. Bayer, Zugesagte Gegenwart, 4.

15 Vgl. Ez. 11,23; 43,1-5.

16 E.-M. Becker, Heilsame Urworte. Wider die trostlose Bibellosigkeit unserer Zeit https://zeitzeichen.net/node/11140.

17 Vgl. dazu E. Herms, „Mit dem Rücken an der Wand?“ Apologetik heute, in: ders., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, 484-516; 500ff: Der Alltag lebt von der Aufdringlichkeit des Besonderen, des Details, das uns am Innewerden des Allgemeinen, des Ganzen, der Tiefendimension der Realität hindert.

18 W. Huber, Systemrelevanz und Resonanzkrise. Warum wir der Resignation in der Kirche nur mit Innovation begegnen können, https://zeitzeichen.net/node/8594, aufgerufen am 8.5.2024.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrerin Dr. Mareile Lasogga, 10 Jahre Tätigkeit als Gemeindepfarrerin, danach als Ober­kirchenrätin in der VELKD für ­Theologische Grundsatzfragen und im Kirchenamt der EKD für Ökumenische Grundsatzfragen verantwortlich, ­Direktorin des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim, zurzeit Theol. Referentin im Landes­kirchenamt der Hannoverschen Landeskirche.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2024

4 Kommentare zu diesem Artikel
01.10.2024 Ein Kommentar von Wilhelm Kern Liebe Kollegin und Schwester im Amt. Danke für Ihren Artikel. Ich kann ihm einerseits sehr zustimmen, aber ich frage Sie andererseits: Woher Sie denn im konkreten Einzelfall immer so genau wissen, was "nur" dem "eigenen Hause" und was dem "Hause des Herrn" dient? Spannend wird das was Sie schreiben, wenn wir uns die Mühe machen im Einzelnen durchzubuchstabieren, was denn "Anteil des Hl. Geistes" und "unser Anteil" ist. Ein mir lieb gewordener Professor hat immer wieder mal: "von der Schwarzarbeit des Heiligen Geisrtes" gesprochen, wenn er die oftmals verborgene,verschlungene, überraschende, im Geheimen wirksame "Kanalarbeit des Heiligen Geistes" beschreiben wollte. Also lassen Sie uns Ihr "großes Alphabet" des Glaubens im pfarramtlichen, kirchenleitenden Alltag "durchbuchstabieren". Das versuche ich mit jeder Predigt! Liebe geschwisterliche Grüße Ihr Wilhelm Kern, Pfr. i.R. und schwäbischer Mundartprediger
30.09.2024 Ein Kommentar von Wichard v. Heyden Dieser Artikel kommt völlig unerwartet. Die Verfasserin spricht Kernfragen an, die weitgehend aus dem Blick geraten sind. Danke!
24.09.2024 Ein Kommentar von Arne Spießwinkel Den Artikel finde ich großartig! Wir sollten mehr davon haben! Warum nur sind unsere Kirchenleitungen und die meisten unserer Bischöfe nicht dazu bereit, auf das zu hören und umzusetzen, was hier steht? Nicht durch neue Konzepte wird die Kirche erneuert, sondern durch die Hinwendung und lebendige Beziehung zu Jesus Christus. Den lebndigen und auferstandenen Herrn zu verkündigen ist unser Auftrag!
23.09.2024 Ein Kommentar von Gerd Bohlen Für diese theologische Neujustierung der inhaltlichen Ausrichtung der evangl. Kirche kann ich Frau Dr. Lasogga nur dank sagen. Ist es uns um Sein Haus oder um unser Haus zu tun? Ist das "irdene Gefäß" wichtiger geworden als sein Inhalt? Entscheidende Prüffragen für den Auftrag der Kirche. Meine Sorge: Viele werden zustimmen und dennoch geht es so weiter wie bisher. Was ist nötig, damit es zu einem turn-around kommt??
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