Im Dezember 2023 erhielt der 84jährige norwegische Autor Jon Fosse den Literaturnobelpreis für das Jahr 2023. Er war schon des längeren als Kandidat für die wichtigste Literaturauszeichnung der Welt im Gespräch. Düstere und von Stille geprägte Theaterstücke haben den Norweger in den 1980er Jahren berühmt gemacht. Seit 10 Jahren schreibt er Romane, zuletzt eine „Heptalogie“, also einen Roman in sieben Bänden. Es ist ein Künstler- und Malerroman ganz besonderer Art über den Maler Asle. Im Februar 2022 sind die Bände III-V unter dem Titel Ich ist ein anderer erschienen, auf die sich Hans-Jürgen Benedict in seinem Essay hier bezieht; die Bände I-II erschienen im Jahr 2019, VI-VII erscheinen jetzt zuletzt auf Deutsch.
Asle, ein Maler, wohnt einsam in einem Haus am Fjord in der Nähe von Bergen, mit seinem alten Namen Börgvin genannt. Seine Frau Ales ist gestorben, Kontakt hat er nur noch mit dem Jugendfreund Äsleik und seinem Galeristen Beyer. Asle hat aber noch einen Doppelgänger mit dem gleichen Namen. Diesen hat er im ersten Teil (Der andere Name) im Schnee liegend betrunken aufgefunden, in ein Krankenhaus gebracht und seinen Hund Brage zu sich genommen. Jetzt im zweiten Teil mit dem Titel Ich ist ein anderer – eine Formulierung von Rimbaud – wird vor allem die Jugendzeit von Asle erzählt und der Beginn seiner Malerei, meistens in der 3. Person, zuweilen aber spricht ein Ich.
Sein Elternhaus ist kleinbürgerlich eng, die Mutter ermahnt ihn ständig, der Vater schweigt dazu. Seine realistischen Zeichnungen von den Höfen des Dorfes schätzen sie, sind aber enttäuscht, als Asle beginnt, abstrakte Bilder zu malen. Zur Konfirmation in der norwegischen Staatskirche lässt er sich noch zwingen, will aber, wenn er sechzehn ist, sofort aus der Kirche austreten. Der plötzliche Tod seiner jüngeren Schwester führt zu einer Glaubenskrise. Die Beerdigungspredigt des Pfarrers (die Schwester ruhe in Gott, da gehe es ihr in ihrem eigentlichen Wesen gut, sagt dieser) wird von Asle kritisch hinterfragt.
„Erst die Ohnmacht verleiht Allmacht“
Zunächst noch tröstet er sich mit der Auskunft: „Gott ist Mensch geworden und gestorben und auferstanden, um das Menschschicksal zu teilen, denn mit ihm, dem auferstandenen Christus sind alle Menschen auferstanden.“ (145) Doch dann spricht ein Ich in einer theologisch anspruchsvollen Passage, die m.E. die Lektüre von Bonhoeffers Widerstand und Ergebung erkennen lässt, vom Einfluss seiner katholischen Frau Ales auf ihn und sein Glaubensverständnis: „Gott ist nicht allmächtig, er ist mächtig durch seine Ohnmacht, Gott als Jesus Christus, der, ohnmächtig ans Kreuz geschlagen, dahängt, der ist mächtig (…), erst die Ohnmacht verleiht Allmacht.“ (153)
Mit dem Wechsel ans Gymnasium in der nächst größeren Stadt aber kann er endlich von zu Hause ausziehen. Das ist alles nicht chronologisch hintereinander erzählt, sondern sprunghaft in der Abfolge, aber zugleich meditativ langsam, so dass die Zeit gewissermaßen angehalten wird. Fosses Technik des Erzählens ist selber „ein Angriff auf die Zeit“ (Thomas Steinfeld, SZ, 2.2.2022).
Asles Kopf ist voller Bilder, die er „herausmalen“ will. Auf einer ersten Ausstellung, noch im Jugendhaus der Gemeinde, lernt er den Galeristen Beyer kennen, der ihm mehrere Bilder abkauft. Das ist der Beginn einer künstlerischen Karriere, die ihn in Norwegen zu einem Maler von nationaler Bedeutung macht. Häufiger denkt Asle über seine Kunst nach. Mal kommt sie ihm wie ein „Dienst am Reich Gottes“ vor (138). Ein anderes Mal spricht er davon, dass „ein gutes Bild wie ein Geschenk ist, oder eine Art Gebet (…) Kunst ereignet sich, und wenn ich mit einem Bild so weit gediehen bin, wie ich kann“, dann „muss ich die Bilder im Dunkel sehen, ob sie leuchten“, ob sie „ein leuchtendes Dunkel in sich haben.“ (149) Schließlich geht es Asle darum, „das innerste Bild immer wieder hervorzumalen“(149), wie eine Serie.
Dieses Kunstverständnis hat einen deutlichen mystischen Einschlag. Sein Galerist formuliert, seine „Bilder kommen einer abwesenden Gegenwart am allernächsten, oder etwas Abwesendem, das gegenwärtig ist“, in ihnen scheint etwas Unsichtbares sichtbar zu werden.“ (188) Dies erinnert nun deutlich an die Gottesdefinitionen in der säkularen Moderne, die von der Gegenwart des abwesenden Gottes sprechen (z.B. Dorothee Sölle). Zugleich erinnert es an die Anfänge der abstrakten Malerei, die gerade wegen ihrer Vermeidung des Bildlichen, z.B. bei Jackson Pollock, eine mystisch-religiöse Wirkung hat.
„Der Geist ist die Einheit von Körper und Seele“
In einem Gespräch mit seiner verstorbenen Frau Ales, als er ihren Rosenkranz betet, sagt Asle: „Wir kommen von Gott und gehen wieder zu Gott zurück, denn der Körper entsteht, wächst, verfällt, stirbt und vergeht, aber der Geist ist die Einheit von Körper und Seele, so wie Form und Inhalt eines guten Bildes einen unsichtbare Einheit bilden, ja sozusagen den Geist des Bildes, ja so ist es mit allen Kunstwerken, (…) diese Einheit ist der Geist des Werkes und er ersteht von den Toten auf, ja ist die Auferstehung im Fleische und diese Auferstehung ereignet sich die ganze Zeit, ja und sie ereignet sich immer in dem Augenblick, in dem ein Mensch stirbt (…) und dann ist der Mensch wieder bei Gott, ja mein innerstes Bild, dem alle die Bilder, die ich gemalt habe, ähneln sollen, dieses innerste Bild ist eine Art Seele und eine Art Körper zugleich“ (215f)
Diese Verankerung der Kunst im Glauben an den alles im Leben und Sterben umfangenden Gott ist für einen zeitgenössischen Künstler eher ungewöhnlich, erinnert an den französischen Komponisten Olivier Messiaen mit seiner alles umfangenden Gläubigkeit.
Ein Bild spielt eine besondere Rolle. Es wird gleich auf der ersten Seite des Romans (am Beginn des 3. Teils) beschrieben: „Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den beiden Strichen anschauen, einer ist lila, einer braun, sie kreuzen sich in der Mitte und ich denke, es ist so kalt in der Stube und es ist zu früh zum Aufstehen“ (9). Sein Freund Äsleik – er kommentiert „Andreaskreuz“ – will das Bild kaufen, doch Asle will es behalten. Es erinnert an die Anfänge der abstrakten Malerei, an Jawlensky und Miro. Auch an Arnulf Rainers Christusköpfe.
Zu Beginn des 4. Teils der Heptalogie heißt es: „Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den beiden sich ungefähr in der Mitte kreuzenden Strichen anschauen, einer ist lila, einer braun, und ich sehe, dass ich die Striche langsam und mit viel dickerer Ölfarbe gemalt habe, und sie hat getropft, wo die braune und die lila Linie sich kreuzen und ich denke, ich muss das Bild loswerden, aber ich wollte es doch behalten? denn ich wollte nicht, dass Äsleik es bekommt“ (137).
Und ein drittes Mal zu Beginn des 5. Teils der Heptalogie: „Und ich steh an der Staffelei und ich schaue die beiden Striche an, die sich ungefähr in der Mitte kreuzen, und ich denke, ich mag dieses Bild nicht, denn ich mag keine Bilder, die geradewegs Gefühle abbilden (…) und ich denke ich muss das Bild wegnehmen, oder soll ich es einfach weiß übermalen“ (221f) Asle kann die allzu deutliche Anspielung der beiden sich kreuzenden Linien auf das Andreaskreuz nicht mehr ertragen; er stellt es weg, „ich ertrage es nicht, es muss weg.“ (223)
Gott schaut aus der Staffelei
Asle hat überhaupt keine Lust zum Malen mehr, ist in einer Schaffenskrise. Einmal als er wieder dieses Gefühl hat, nicht mehr malen zu wollen, sieht er das hässliche Bild mit den beiden Strichen auf der Staffelei stehen. Aber als er es herunternehmen will, hat er den Eindruck, als ob Gott ihn aus der Staffelei anschauen würde. Ja, Gott schaut ihn aus allen Dingen an, dem runden Tisch, dem Sessel (312). Er denkt, er habe sich wie ein Mönch in die wortlose Malerei zurückgezogen, in ihren Frieden, aber das klingt falsch. Und er denkt weiter über Gott nach und kommt dabei wieder zu den Bonhoefferschen paradoxen Formulierungen: „Gott verbirgt sich die ganze Zeit (…) und vielleicht zeigt er sich umso mehr, je mehr er sich verbirgt, und umgekehrt.“ (313)
Gott ist stumm, sein Schweigen wurde erst durchbrochen, als sein Wort, Christus in die Welt kam, aber auch daran zweifelt Asle. Befindet sich nicht auch Christus in Gottes großem Schweigen? Gott ist „ein ungeschaffenes Licht, die schwarze Dunkelheit (ist) Gottes Licht.“ (315) Derart in meditativen Paradoxen fließen Asles Gedanken dahin und kommen zu keinem Abschluss. Werden angetrieben von einer Gottessehnsucht, die seiner Meinung nach in der Kunst und im Glauben sich äußert, aber die er auch in dem Blick des Hundes Brage sieht. Aber dann denkt er: das ist doch verrückt, und gibt dem Hund erst einmal zu trinken. Er erinnert sich an seine Angstanfälle in der Schule, und der Roman schließt mit einer solchen Angstattacke, die er dadurch in den Griff bekommt, dass er ein lateinisches Ave Maria und ein Vaterunser spricht.
Ich ist ein anderer ist gerade in seiner ungewöhnlich direkten Religiosität, seiner Katholizität und seinem Rückgriff auf mystische Erfahrungen ein besonderer Malerroman. Die Handlung ist auf wenige Begegnungen im Familien- und Freundeskreis reduziert. Die Kunstwelt ist zwar präsent, aber nur wie von fern. Das Vexierspiel um die Identität von Asle (und anderen Personen) erleichtert die Lektüre nicht, gehört aber zu dem mäandernden Erzählstil Fosses. Zwischen Kindheitsgeschichte, Identitätssuche des jungen Mannes und Krisen- und Verlusterfahrungen des älteren Malers zeichnet Fosse ein beklemmendes Künstlerporträt. Der religiöse Grundzug des Romans und seine theologisch anspruchsvollen Ausführungen zeigen, dass gerade ein mystisches Christentum noch eine Zukunft hat. Das im Zentrum stehende Gemälde mit den beiden sich kreuzenden Linien, das zu sehr an ein Andreaskreuz erinnert, deutet an, dass die abstrakte Malerei ihren Anspruch nicht einhalten kann und für den Maler Asle fragwürdig wird. Wird Asle zu einer figurativen Malerei zurückfinden? Oder zu einer noch radikaleren abstrakten Malerei?
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2024