Der Bundeskanzler fordert eine „zügige Aufarbeitung“ der Coronaepidemie vonseiten der Politik. Die FDP-Fraktion will gar eine kritische Befragung der damals Verantwortlichen; insbesondere die Länderchefs seien „der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldig“. Das ganze Ampelkabinett verlangt eine Auswertung der Pandemiepolitik durch den Bundestag. Sie müsse „zeitnah“, noch vor dem Sommer, beginnen. Nur über das Wie wird noch gestritten – Enquetekommission oder Bürgerrat? Für alle Fälle wirbt der damalige Bundesgesundheitsminister dafür, dass man bei der Aufarbeitung „nicht unerbittlich“ vorgehen möge.
Auch Mediziner vertreten mit Verve, dass ihre Analysen, Maßnahmen und Ratschläge auf den Prüfstand zu stellen seien. Es müsse klar benannt werden, wo man geirrt habe, wo Entscheidungen falsch gewesen seien und angeratene Vorgehensweisen mehr geschadet als genützt hätten. Nicht zuletzt im Blick auf zukünftige Pandemien sei solche Aufarbeitung auch von medizinischer Seite dringend erforderlich.
Und wie steht es mit den Kirchen? War der Kurs, den sie in der Pandemie eingeschlagen oder auf den sie sich eingelassen haben, richtig? Haben sie sich keiner gravierenden Versäumnisse schuldig gemacht, so dass sie in entsprechender Lage ebenso wieder vorgehen würden? Sind nicht auch ihre Verantwortungsträger Rechenschaft schuldig?
Ein historisches Beispiel
Nicht selten ist es die Geschichte, die dem Betrachter einen Spiegel vorhält. Die Geschichte zum Thema hat kürzlich ein kleines Buch aus der Feder des Berliner Kirchenhistorikers Andreas Stegmann dargestellt: Zweierlei Arznei gegen die Pest. Der Untertitel zeigt, worum es geht: um den Umgang mit Seuchen im Zeitalter der Reformation am Beispiel der Mark Brandenburg. Wie andere Gebiete Europas wurde auch Brandenburg im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit immer wieder von verheerenden Pestausbrüchen heimgesucht. So schlug die Epidemie in der Residenzstadt Berlin-Cölln 1516, 1549, 1566, 1576, 1584 und 1598 zu; im Jahre 1576, für das Zahlen überliefert sind, infizierte sich ein Fünftel der Einwohner, die Hälfte von ihnen starb.
Man nahm diese Katastrophen nicht einfach hin. Wie heute trat die Politik mit Vorsorge- und Eindämmungsmaßnahmen auf den Plan. Obrigkeitliche Pestordnungen verfügten Quarantäne und Kontaktbeschränkungen, untersagten die Ausübung bestimmter als Infektionstreiber geltender Berufe und drangen auf konsequente Hygiene im öffentlichen Raum. Selbstverständlich sah sich die Medizin herausgefordert. Auf dem Hintergrund zeitgenössischer Erklärungen der Seuche gaben Ärzte in medizinischen Pesttraktaten Ratschläge zur Vorbeugung ebenso wie zur Behandlung nach modernstem, internationalem Kenntnisstand.
Doch Obrigkeit und Ärzte waren nicht die einzigen Instanzen, die sich zu Wort meldeten. Das tat noch eine weitere Gruppe, die Theologen. Einsetzend mit Martin Luthers Traktat „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ (1527) erschien das ganze 16. Jh. hindurch eine Fülle lutherischer Pesttraktate, die den Lesern nahebringen wollten, wie der Epidemie religiös zu begegnen sei. Denn, so war man überzeugt, es bedurfte „zweierlei Arznei“, nicht nur der medizinischen, sondern auch der religiösen; die Stärkung der seelischen Resilienz war nicht weniger wichtig als die der körperlichen, um mit der schrecklichen Krankheit fertigzuwerden. Zur religiösen Arznei gehörten persönliche Bibellesung und Gebet, dazu gehörte die Seelsorge bis hin zur Sterbebegleitung durch den Pfarrer am Bett, und dazu gehörte der oft tägliche Gottesdienst, meist mit Abendmahl, in der Kirche. Arznei, also Heilmittel, sollte das alles sein, indem es den Adressaten erlaubte, allein und in der Gemeinschaft der Mitchristen ihre Ängste und Hoffnungen vor Gott zu bringen, ihr Leben und den drohenden Tod vor ihm zu bedenken, das Evangelium gerade in dieser Lage zu hören und zu schmecken und, wenn es zuende ging, mit dem Ausblick auf das ewige Leben getröstet zu sterben.
Keine Pestleugner
Die Theologen, die diese Traktate schrieben, und die Pfarrer, die ihre Ratschläge umsetzten, waren keine Pestleugner. Sie trugen keine Aluhüte und meinten nicht, mit ihrer geistlichen Arznei die medizinische ersetzen zu können. Die tödliche Gefahr wurde ernstgenommen, und so werden im Zusammenhang der seelsorgerlichen Besuche am Bett der Pestkranken die Hygieneregeln eingeschärft, die der Pfarrer befolgen soll, um sein – ebenso wie seitens der Ärzte berufungsgetreu in Kauf zu nehmendes – persönliches Risiko einzuschränken. Gleichermaßen sollen in den Gottesdiensten hygienische Maßnahmen getroffen werden, um die Ansteckungsgefahr zu verringern.
Dass Seelsorge und Gottesdienste zu gewährleisten waren, stand gleichwohl fest. Und das nicht nur für die Theologen. Die Mediziner gingen ebenso davon aus, dass neben ihrer Arznei für den Leib die andere, die für die Seele nicht fehlen dürfe. Und auch für die politische Obrigkeit war selbstverständlich, dass Seelsorge und Gottesdienste sicherzustellen waren. Es wäre keinem Fürsten oder Stadtregiment in den Sinn gekommen, die Kirchen zu schließen oder die Begleitung der Kranken und Sterbenden zu untersagen. Hätten sie es versucht, wäre ihnen massenhafter Ungehorsam sicher gewesen.
Schlupflöcher der Gnade
Stegmanns Büchlein ist strikt historisch mit Quellen einer längst vergangenen Epoche befasst, es spricht von der Pest des 16. Jh. und dem Umgang mit ihr, es spricht nicht von Corona im 21. Jh. Doch gerade so fordert es den Leser zu sehr aktuellen Fragen heraus. Und es macht deutlich, dass solche Fragen nicht nur an Politiker und Mediziner, sondern auch an die Kirchen zu richten sind. Die Bereitwilligkeit, mit der sie sich das Verbot ihrer Gottesdienste gefallen ließen. Die Klaglosigkeit, mit der sie es hinnahmen, dass Zehntausende allein litten und starben. Und die nur seltenen Fälle von Widersätzlichkeit, in denen Christenmenschen in kirchlicher und medizinischer Verantwortung auf eigene Rechnung Schlupflöcher der Gnade suchten und fanden. Ist da nichts aufzuarbeiten?
Die Fragen die sich hier stellen, gelten nicht allein der Folgsamkeit der kirchlichen gegenüber den politischen Autoritäten. Bezeichnenderweise war ein Murren nur zu hören, als die Politik ihre Auflagen mit der Feststellung begründete, den Kirchen fehle die „Systemrelevanz“. Denn dass man ein unverzichtbarer Player im gesellschaftlichen Ganzen sei, das möchte man doch als Kirche festgehalten sehen – wie sehr auch die Mitgliederzahlen abnehmen und die tatsächliche gesamtgesellschaftliche Prägekraft schwindet.
Nein, die eigentliche Frage, die der historische Rückblick aufdrängt, lautet anders: Haben die Kirchen deshalb nicht um Gottesdienst und Seelsorge gekämpft, weil sie ihrer eigenen Arznei nicht mehr viel zutrauen? Das wäre freilich ein Defizit, das weit schwerer wöge als mangelnde Relevanz für ein gesellschaftliches System. Es wäre die Irrelevanz in sich selbst.
Dorothea Wendebourg
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2024