Deshalb hat Theologie uns Menschen heute etwas zu sagen.“ – Das ist keine vorsichtige Frage. Kein Zögern, kein Abtasten, kein zweifelndes „noch“. Ein klarer Aussagesatz. Es fehlt eigentlich nur das Ausrufungszeichen. Doch in meinem Kopf sind erst einmal nur Fragezeichen. Theologie! Welche Theologie? Es gibt so unübersehbar viele Theologien: Jede Religion hat ihre eigenen Theologien. Aber auch wenn ich mich auf die christliche konzentriere, unterscheiden wir noch nach den Konfessionen und Denominationen, den theologischen Disziplinen, ganz zu schweigen von den unterschiedlichen Fragehorizonten und Interessen, die ihre jeweils eigenen Theologien hervorbringen:
▮ Befreiungstheologie,
▮ interkulturelle Theologie,
▮ feministische Theologie,
▮ queere Theologie,
▮ Kindertheologie,
meine neueste Errungenschaft: postkoloniale Theologie … – und schon droht das identitätspolitische Glatteis.
Dann das „Heute“! Heute? Hat Theologie den Menschen heute, jetzt etwas zu sagen? Was für ein Anspruch! Ich bin eher ein älteres Semester, also einer von gestern. Ich bin in der Christlichen Versammlung aufgewachsen, der Brüdergemeinde, den Darbysten, die ja im Bergischen, vor allem in Wuppertal, ihr Kernland haben. Theologie im Sinne von „Reden über den Glauben“, genauer müsste ich vielleicht sagen – im Sinne von „Wiederholen von dogmatischen Formeln oder Versatzstücken“, die man nachsprechen und für richtig halten sollte, auch wenn man sie nicht verstanden hatte – das habe ich gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen. Mein Alltag war mit theologischem Vokabular durchtränkt. Aber wie gesagt: Der Verstand blieb meistens außen vor.
Deshalb musste ich Theologie studieren. Es war wie ein Zwang. Mein Kopf wollte Klarheit, wollte verstehen, die Dinge durchdringen und nicht nur irgendwelche dogmatischen Sprachbrocken einfach so schlucken: Jesus Christus ist für Dich und Deine Sünden am Kreuz gestorben. – Pause, durchatmen – Verstehen Sie das? Können Sie das einem jungen Menschen so erklären, dass er anschließend sagt: Ja, das habe ich verstanden!?
Theologie als Lustgewinn
Ich habe das Theologiestudium genossen. Die biblischen Überlieferungen in ihrem Kontext, in ihrem „Sitz im Leben“ neu zu ent-decken, das war für mich der reinste Lustgewinn und eine existenzielle Offenbarung. Also – ein erster Antwortversuch: Ja, mir hatte und hat bis heute die Theologie etwas zu sagen!
Nur ein Beispiel: Stichwort „Homosexualität“. Ich habe gelernt: Homosexualität in der damaligen Sklavengesellschaft hat nichts zu tun mit gleichgeschlechtlicher, einverständlicher Liebe heute.1 Was für ein – nicht nur intellektueller – Gewinn, so etwas zu begreifen und in seinen Konsequenzen zu durchdenken.
Und ich hatte damals, in den 1970ern, den Eindruck: Theologie war „in“. Ich war nicht allein mit meinem Interesse an der Theologie. Heinz Zahrnt, Jörg Zink, Helmut Gollwitzer – das waren gefragte Leute und in den Medien permanent präsent. Ihr Wort galt etwas in der Öffentlichkeit. Über das „Wort zum Sonntag“ sprach man auch noch am Montag. Und selbst Rudi Dutschke war ein Jünger Jesu.
Aber heute? Wer kennt Klaas Huizing, Ralf Frisch oder Isolde Karle, um nur drei gegenwärtige Theolog*innen zu nennen, deren Lektüre ich sehr schätze. Ich wüsste nicht, dass „BILD“ über sie berichtet, und ob sie in Tiktok präsent sind, weiß ich nicht.
Wer interessiert sich heute noch für Theologie?
Als ich 1977 nach Göttingen kam, studierten allein dort über 1.200 Frauen und Männer Theologie. Ich erinnere mich an ein Proseminar bei Hans-Joachim Kraus, in dem wir mit über 100 Leuten im Hörsaal saßen. In Tübingen und Heidelberg sah es nicht sehr viel anders aus. Als ich mein Studium beendete, machte das böse Wort von der „Theologenschwemme“ die Runde. Begonnen hatte ich mein Studium in Erlangen. Dort studieren aktuell, heute, 84 Menschen „Voll-Theologie“, davon 8 im ersten Semester. Da gerät man jetzt aus anderen Gründen ins Schwimmen.2
Ich weite den Blick und schaue auf die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung KMU 6, die Ende letzten Jahres vorgestellt wurde.3 Die Ergebnisse haben viele geschockt, andere sahen sich in dem, was sie immer schon wussten oder zumindest ahnten, bestätigt, auf jeden Fall hat sie heftige Kontroversen entfacht.4 Ein zentrales Ergebnis lautet: ¾ der Kirchenmitglieder, also der Menschen, die noch nicht ausgetreten sind, spielen zumindest mit dem Gedanken, in absehbarer Zeit der Kirche den Rücken zu kehren. Die Medien haben breit darüber berichtet: Allein 2023 haben die EKD-Kirchen 590.000 Menschen verloren. Und was die Menschen noch hält, sind definitiv nicht theologische Spezialfragen, sondern das praktisch-diakonische und seelsorgliche Handeln der Kirche.
Die einen hören beim Studium der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung: Keiner liebt uns mehr. Das Schiff, das sich Gemeinde nennt, ist dem Untergang geweiht. Andere sagen: Das ist self-fulfilling prophecy. Es kommt darauf an, wie und was man fragt. Die Menschen interessieren sich nicht mehr für dogmatische Spitzfindigkeiten wie z.B. die Frage, warum es keine Abendmahlsgemeinschaft zwischen den Konfessionen gibt. Aber die existenziellen und zugleich spirituellen Grundfragen des Daseins wie
▮ Woher komme ich?
▮ Wohin gehe ich?
▮ Was darf ich hoffen?
▮ Wie kann ich mit Trauer und Schmerz umgehen?
▮ Was schenkt meinem Leben Sinn und Erfüllung?
das treibt die Menschen auch heute noch genauso um wie vor 100 oder auch schon vor 2000 Jahren.
Hat Theologie uns Menschen heute etwas zu sagen?
Theologie – Nachdenken über Gott, Reden von Gott, über Gott, mit Gott, reflektiertes, verantwortetes, begründetes Reden von Gott. Geht das überhaupt?
Für mich, wie für viele andere Freikirchlicher, war der Theologe Karl Barth so etwas wie ein Sprungbrett in die Welt der Theologie und ich bin ihm bis heute dankbar dafür. Bei Karl Barth habe ich Grundeinsichten gewinnen können, die für mich bis heute, ja, gerade heute nichts von ihrer Gültigkeit und Brisanz verloren haben. Vor fast genau 100 Jahren (1922) hat Karl Barth im thüringischen Elgersburg einen Vortrag gehalten mit dem Titel Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie. Und in diesem Vortrag fielen die bis heute nachklingenden Sätze:
„Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben. Das ist unsre Bedrängnis. Alles Andre ist daneben Kinderspiel.“5
Hat Theologie uns Menschen heute etwas zu sagen? Ja! Eindeutig. Davon bin ich fest überzeugt.
Wenn ich im Hören auf die Theologie und beim eigenen theologischen Nachdenken etwas gelernt habe, dann ist es diese scharfe Unterscheidung zwischen Gotteswort und Menschenwort. Wir wissen, welche Abscheulichkeiten bis heute im Namen Gottes getan werden. Und wir schauen dabei nicht nur auf andere und auch nicht nur auf andere Religionen. Gerade wir Deutsche schauen in den Spiegel und sehen, wie viele in Nazi-Deutschland der Rassenideologie nicht widersprochen haben. Auch in den Kirchen. „Gott mit uns“ stand auf den Koppelschlössern der Wehrmacht. Und wir wissen auch, wie viele sich aktuell schon wieder von ähnlichen Verheißungen und Parolen eine bessere Zukunft oder was auch immer versprechen.
Niemand verfügt über Wahrheit und Glauben
In diesem Jahr erinnern wir an die vor 90 Jahren verfasste Barmer Theologische Erklärung. Es lohnt sich, sie auch heute genau zu studieren, und es ist ein fatales Signal, dass nur wenige Tage nach diesem Gedenktag das mögliche Ende der KiHo Wuppertal auf der Tagesordnung der Sondersynode der EKiR stand.6 Will die verfasste Kirche sich von der Theologie heute noch etwas sagen lassen? Der Bericht von Johannes Greifenstein um „Pioneer Ministry“ in Jena lässt nichts Gutes ahnen.7
Vor nur 17 Jahren, 2007, hat der damalige Präses Alfred Buß vor der westfälischen Landessynode mit Berufung auf den Bochumer Systematiker Michael Weinrich8 einige wenige Sätze gesagt, die ich damals für so entscheidend und grundlegend hielt (und auch heute noch halte), dass ich sie in etliche meiner Fortbildungsveranstaltungen habe einfließen lassen:
„[…] wir [haben] gelernt, bescheidener über die Verfügbarkeit von Wahrheit zu denken. Weder besitzen wir den Glauben, noch verfügen wir über ihn. […] Weil der Glaube nicht verfügbar ist, lässt er sich auch nicht demonstrieren und schon gar nicht eindeutig beweisen. […] Noch die intensivste Sorge um theologische Wahrhaftigkeit bleibt himmelweit von der Wahrheit selbst entfernt. […] Nicht über die Wahrheit verfügen zu können bedeutet, dass wir immer unter und nie über der Wahrheit stehen. […] Das ist kennzeichnend für alle Religionen. Deshalb darf der Glaube an die Absolutheit Gottes niemals mit der Absolutheit eines Glaubens verwechselt werden.“
Und um noch einmal Karl Barth zu zitieren, der ganz ähnlich, aber deftiger und drastischer formuliert: „Das ewige vermeintliche Besitzen und Austeilen, diese verblendete Unart der Religion, muß einmal aufhören, um einem ehrlichen grimmigen Suchen, Bitten und Anklopfen Platz zu machen.“9
Das sind Formulierungen, die mich emotional begeistern und zugleich geistig-geistlich aufrütteln. Ich finde dieses 100 Jahre alte Zitat so wunderbar jung, frisch, pointiert und aktuell: „ein ehrlich grimmiges Suchen, Bitten und Anklopfen“! Ja, das wünsche ich mir!
Was die Theologie uns Menschen heute zu sagen hat
Ich versuche ein erstes Resümee. Vermutlich nicht sehr viel Anderes als schon vor 100 Jahren:
▮ Seid wachsam.
▮ Geht mit offenen Augen und Ohren und mit wachem Verstand durch die Welt.
▮ Lasst Euch nicht versuchen, nicht verführen und nicht manipulieren.
Social Media, so mein Eindruck, ist oft alles andere als „social“, aber dafür gezielt manipulativ. Da wird digital geschnipselt und getrickst und „gefaket“, dass es mein Vorstellungsvermögen übersteigt. Verantwortliche, reflektierte Theologie höre ich sagen:
▮ Seid misstrauisch, wenn Leute im Namen Gottes reden und auftreten,
▮ wenn sie euch etwas als die einzige Wahrheit verkaufen wollen.
Zum Schluss komme ich noch einmal auf die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zurück. Für manche ist es der Abgesang auf die Kirche, auf Glauben und Moral in diesem Land. Die Säkularisierung scheint nicht mehr aufzuhalten. Gott hat in Deutschland keine Zukunft mehr, so die anmaßende Befürchtung.
Gott? Ich sehe das völlig anders. Ich bin ja nicht nur Theologe, sondern auch Supervisor. Und als Supervisor habe ich gelernt, nicht nur das halb leere, sondern auch das halb volle Glas zu sehen. Bei dem Theologen und Religionspädagogen Fulbert Steffensky habe ich gelernt, dass auch ein halber Apfel etwas Wundervolles und Kostbares ist.10 Wir Supervisoren fragen gerne provokativ: Was ist das Gute im Schlechten? – und sehen in der Krise zugleich die Chance.
Abschied von der Arroganz der Macht
So bin ich froh, glücklich und dankbar, dass die Kirche – auch „unsere“ evangelische – von ihrem eingebildeten Thron der Selbstsicherheit, Arroganz und Macht gestoßen wurde, gestoßen wird. Ich habe als Kind und auch noch als Erwachsener sehr hautnah und bisweilen körperlich schmerzhaft erlebt, mit welcher unerschütterlichen Selbstgerechtigkeit manche Funktionsträger, Pfarrer und Religionslehrer*innen, aber nicht nur Funktionsträger, überhaupt Menschen, die sich Christen nannten, aufgetreten sind und ihre Macht mit einer völlig unkritischen Selbstverständlichkeit ausgespielt und missbraucht haben. Ja, ich bin froh, dass das vorbei ist!
Und damit zum letzten Mal Karl Barth: Die einzige angemessene Existenzform von Kirche ist für Barth die „verkörperte Bitte“.11 Die „verkörperte Bitte“ ist die einzige Gestalt von Kirche, die der „Autorität des bittenden Christus“12, so eine Formulierung Eberhard Jüngels, angemessen entspricht.
Eine Verantwortung übernehmende und auch sich selbst reflektierende Theologie sagt mir und uns, die wir Kirche sein wollen:
▮ Lasst das mit der Arroganz der Macht.
▮ Lasst es bleiben, so zu tun, als hättet ihr die Wahrheit mit Löffeln gegessen.
▮ Lasst die anderen neben Euch genauso gelten.
▮ Seid stattdessen als Kirche ein Teil der großen Menschheitsfamilie, die stolpernd und stotternd, fragend und suchend, liebend und zweifelnd gemeinsam mit den anderen auf dem Weg ist.
▮ Seid eine Gemeinschaft, die niemanden ausgrenzt, eine Stimme unter vielen, eine Stimme aber, die die kostbare Botschaft des christlichen Glaubens verstehbar zu Gehör bringt.13
Anmerkungen
1 S. Stefan Scholz, Homosexualität (NT), in WiBiLex, https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/neues-testament/homosexualitaet-nt, Zugriff Mai 2024; Luise Schottroff, Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth, ThKNT 7, Stuttgart 27. rev. Aufl. 2013, 100ff.
2 S. https://www.sonntagsblatt.de/artikel/kirche/leere-hoersaele-fehlender-nachwuchs-ueber-den-rueckgang-der-theologiestudentinnen, Zugriff Mai 2024.
3 „Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft – 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU)“, Leipzig 2023; online unter: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/07490_EKD_KMU_Web_neu.pdf, Zugriff April 2024.
4 S. Friederike Erichsen-Wendt, Wie hält es die Kirche mit der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung? KMU 6 als ein Impuls für eine evidenzbasierte Kirchenentwicklung, in: DPfBl 12/2023, 727-731; Reiner Anselm/Kristin Merle/Uta Pohl-Patalong, Religiosität in ihrer Vielfalt ernst nehmen. Die Erstinterpretation der VI. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung sieht zu wenig und folgert zu viel, in: ebd., 732-735; Karsten Jung, „Falsche Propheten“. Eine kritische Bewertung der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung VI, in: DPfBl 3/2024, 125-130.
5 Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, 1922; online zugänglich: https://www.kirche-oftringen.ch/fileadmin/user_upload/kirche-oftringen/dateien/_DATEILISTEN_/KarlBarth/diverse/barth-das-wort-gottes-als-aufgabe-der-theologie_1_.pdf, Zugriff April 2024.
6 S. https://eulemagazin.de/apokalypse-auf-dem-heiligen-berg-kiho-wuppertal-theologie-studium-universitaet/; Zugriff Mai 2024.
7 Johannes Greifenstein, Der Fehlstart von „Pioneer Ministry“ in Jena, in Zeitzeichen 25, Mai 2024, 48-50.
8 Mündlicher Bericht vor der Landessynode der EKvW 2007, online: https://www.evangelisch-in-westfalen.de/fileadmin/user_upload/Kirche/Unsere_Struktur/Landeskirche/Landessynode/Dokumentation/LS_materialien_2007.pdf, Zugriff April 2024.
9 Karl Barth, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke [1920], in: Das Wort Gottes und die Theologie, 93; zit. n. Michael Weinrich, Religion und Religionskritik, Göttingen 2011, 269.
10 S. Mechtild Müser, Heiter humpelnd gegen die Zerstörung der Welt – Der Autor und Theologe Fulbert Steffensky wird 85, WDR Lebenszeichen, 01.07.2018.
11 Die Not der ev. Kirche, in: ZZ 9 [1931], 102, zit. n. Michael Weinrich, a.a.O.
12 Eberhard Jüngel, Die Autorität des bittenden Christus, in: ders., Unterwegs zur Sache, München 1972, 179-188.
13 Leicht überarbeiteter Vortrag, gehalten auf einer Fortbildungsveranstaltung für Religionslehrer*innen, Schulpfarrer*innen und weitere Verantwortliche aus Schule und Kirche am 16. Mai 2024 in Wipperfürth.
Meinfried Jetzschke
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2024