Johann Wolfgang Goethe kam bereits in jungen Jahren mit pietistischen Kreisen in Berührung. In Straßburg lernte er den Siegerländer Arzt und Erbauungsschriftsteller Heinrich Jung-Stilling kennen, was zu einer ungleichen Freundschaft führte. Matthias Hilbert erzählt davon.
Der Frankfurter Patriziersohn Johann Wolfgang Goethe (später von Goethe) hat in seiner Kindheit durch Elternhaus und Lutherische Kirche eine intensive religiöse Erziehung erhalten. Schon früh faszinierten ihn die biblischen Geschichten. Und auch was er vom Hörensagen mitbekam über das religiöse Leben verschiedener frommer Menschen und Kreise in der Stadt, machte den Jungen hellhörig und weckte sein Interesse. In seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit bemerkt Goethe rückblickend:
Es versteht sich von selbst, dass wir Kinder, neben den übrigen Lehrstunden, auch eines fortwährenden (…)Religionsunterrichts genossen. Doch war der kirchliche Protestantismus, den man uns überlieferte, eigentlich nur eine Art von trockner Moral (…), und die Lehre konnte weder der Seele noch dem Herzen zusagen. Deswegen ergaben sich gar mancherlei Absonderungen von der gesetzlichen Kirche. Es entstanden die Separatisten, Pietisten, Herrnhuter, die Stillen im Lande und wie man sie sonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte, die aber alle bloß die Absicht hatten, sich der Gottheit, besonders durch Christum, mehr zu nähern, als es ihnen unter der Form der öffentlichen Religion möglich zu sein schien. Der Knabe hörte von diesen Meinungen und Gesinnungen unaufhörlich sprechen: denn die Geistlichkeit sowohl als die Laien teilten sich in das Für und Wider. Die mehr oder weniger Abgesonderten waren immer die Minderzahl; aber ihre Sinnesweise zog an durch Originalität, Herzlichkeit, Beharren und Selbständigkeit. Man erzählte von diesen Tugenden und ihren Äußerungen allerlei Geschichten.
Im Herbst 1765 begann dann der damals erst 16jährige Goethe ein Jurastudium an der Universität in Leipzig. Im Sommer 1768 befiel ihn jedoch eine schwere, lebensbedrohliche Erkrankung, die ihn veranlasste, Ende August nach Frankfurt in sein Elternhaus zurückzukehren. Hier wurde er monatelang aufopfernd gepflegt und umsorgt von seiner Mutter und ihrer engen Freundin Susanna von Klettenberg, einer gebildeten, weltoffenen, aber zugleich auch überzeugten und entschiedenen Christin im pietistischen (und dabei vor allem herrnhutischen) Sinne. Ihr Glaube zeichnete sich durch Herzensfrömmigkeit und innige Jesus-Beziehung, durch Heiterkeit und eine auffallende Unabhängigkeit vom Urteil und von der Meinung anderer aus.
Durch ihre Freundschaft mit Susanna von Klettenberg mag es wohl geschehen sein, dass inzwischen auch Goethes Mutter in Kontakt gekommen war mit einer den Herrnhutern nahestehenden Gemeinschaft und sogar selbst in ihrem Hause erbauliche Versammlungen abhalten ließ. So blieb es nicht aus, dass auch ihr Sohn immer mehr Herrnhuter und andere Pietisten und ihre typische Denk- und Glaubensweise aus erster Hand kennenlernte.
Die Hoffnung, ein guter Autor zu werden
Besonders angetan war Goethe von Susanna von Klettenberg, mit der er sich stundenlang über Gott und die Welt austauschen konnte, die an seinen ersten poetischen Versuchen und Werken interessiert Anteil nahm – und die ihm ihre große Verehrung gegenüber Zinzendorf (1700-1760) und ihre besondere Sympathie für die von ihm gegründete Brüdergemeine überzeugend zu vermitteln verstand. Schließlich stellt sich auch für Goethe selbst immer bedrängender die Frage, die schon während seiner Studienzeit in Leipzig durch viele anregende Gespräche mit seinen beiden frommen Freunden, dem bibelkundigen und belesenen Ernst Theodor Langer und dem pietistisch gesinnten Theologiekandidaten Johann Christian Limprecht, „vorbereitet“ worden war: ob er selber bereit sei, in ein verbindliches und persönliches Verhältnis zu Christus und dem Christentum einzutreten? Was ihn an einen solchen Schritt jedoch noch hinderte, ist einem Brief zu entnehmen, den er am 9.11.1768 seinem Freund Langer schrieb:
Man sieht mich von Seiten der Brüder (gemeint sind die Herrnhuter bzw. die „Brüder“ jenes pietistischen Kreises, den Goethe mit seiner Mutter besuchte – M.H.) als einen Menschen an, der einen guten Willen und einige Rührung hat, der aber noch zu sehr durch die Anhänglichkeit an die Welt zerflattert ist, und man betrügt sich nicht. (…) Ich hoffe das Beste. Mein feuriger Kopf, mein Witz, meine Bemühung und ziemlich begründete Hoffnung, mit der Zeit ein guter Autor zu werden, sind jetzt (…) die wichtigsten Hindernisse meiner gänzlichen Sinnesänderung und des eigentlichen Ernsts, die Winke der Gnade begieriger anzunehmen. Sie sehen, dass ich grade rede, es ist meistenteils der Funke von übelangewandter Eigenliebe, der noch zu mächtig ist, und, ich fürchte, noch mächtiger werden wird. (…) Ich gehe in die Versammlungen und finde wirklich Geschmack dran. Das ist einstweilig genug. Gott gebe das übrige.
Ein „Christentum zu meinem Privatgebrauch“
Knapp zwei Monate später, am 17.1.1769, weiß Goethe dann Langer zu berichten: Mich hat der Heiland endlich erhascht, ich lief ihm zu lang und zu geschwind, da kriegt er mich bei den Haaren.
Doch seine „Bekehrung“ erfolgte letztlich doch wohl nur halbherzig. Ein Grund hierfür lag auch in seinem Verständnis von der Sündhaftigkeit des Menschen. Bewusst wurde ihm dies selbst, als er nach dem Ablauf einer Herrnhuter Synode in Marienborn im September 1769 sich mit verschiedenen Herrnhutern „Brüdern“ austauschte und dabei feststellen musste, „dass die Brüder so wenig als Fräulein von Klettenberg mich für einen Christen wollten gelten lassen“. Weiter schreibt er in seinen Lebenserinnerungen Dichtung und Wahrheit:
Was mich nämlich von der Brüdergemeine so wie von andern werten Christenseelen absonderte, war dasselbige, worüber die Kirche schon mehr als einmal in Spaltung geraten war. Ein Teil behauptete, dass die menschliche Natur durch den Sündenfall dergestalt verdorben sei, dass auch bis in ihren innersten Kern nicht das mindeste Gute an ihr zu finden; deshalb der Mensch (…) alles von der Gnade und ihrer Einwirkung zu erwarten habe. Der andere Teil gab zwar die erblichen Mängel der Menschen sehr gern zu, wollte aber der Natur inwendig noch einen gewissen Keim zugestehen, welcher, durch göttliche Gnade belebt, zu einem frohen Baume geistiger Glückseligkeit emporwachsen könne. Von dieser letztern Überzeugung war ich auf’s innigste durchdrungen, ohne es selbst zu wissen. (…) Aus diesem Traume wurde ich jedoch einst ganz unvermutet gerissen, als ich diese meine, wie mir schien, höchst unschuldige Meinung, in einem geistlichen Gespräch ganz unbewunden eröffnete und deshalb eine große Strafpredigt erdulden musste.“
In der Folgezeit begann der junge Goethe, sich „ein Christentum zu meinem Privatgebrauch“ zu bilden und dieses „durch fleißiges Studium der Geschichte und durch genaue Bemerkung derjenigen, die sich zu meinem Sinne hingeneigt hatten, zu begründen und aufzubauen“. Allerdings sollte ihn dieses „Christentum zum Privatgebrauch“ mit der Zeit immer weiter von Christus und der christlichen Lehre wegführen, sodass er später einmal gegenüber dem Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater bekannte: Ich bin zwar kein Widerchrist, kein Unchrist, aber doch ein dezidierter Nichtchrist.
Bekanntschaft mit einem „Patriarchen der Erweckungsbewegung“
Nach seiner Rekonvaleszenz führte Goethe 1770 sein Rechtsstudium in Straßburg fort. Dabei lernte er den aus dem frommen Siegerland stammenden und später als „Patriarch der Erweckungsbewegung“ bezeichneten Heinrich Jung-Stilling (1740-1817) kennen, der gerade in jener Zeit in Straßburg Medizin studierte. Jung-Stilling war ursprünglich ein armer unbedeutender Dorfschneider und Dorfschullehrer gewesen. Später sollte er zum angesehenen Professor der Volkswirtschaft und Staatswissenschaften aufsteigen. Außerdem avancierte er Im Verlauf seines Lebens nicht nur zu einem christlichen Erfolgsschriftsteller, sondern auch zu einem bedeutenden Vertreter einer damals weit über Deutschland hinaus reichenden interkonfessionellen Erweckungsbewegung.
Unterstützung erfuhr Jung-Stilling dabei durch den badischen Kurfürsten Karl Friedrich, der ihn 1803 nach Heidelberg (und später nach Karlsruhe) gerufen und als dessen persönlichen Ratgeber in den Dienst gestellt hatte mit der ausdrücklichen Order: „Ich entbinde Sie (…) von allen irdischen Verbindlichkeiten und trage Ihnen auf, durch Ihren Briefwechsel und Schriftstellerei Religion und praktisches Christentum (…) zu befördern; dazu berufe und besolde ich Sie.“ Hierdurch sah Jung-Stilling sich in die Lage versetzt, mehr noch als je zuvor durch Besuche, Briefe und Schrifttum auf viele gläubige Christen im In- und Ausland einzuwirken. Sein redlicher Charakter und seine faszinierende Persönlichkeit haben ungezählte Menschen beeindruckt und positiv beeinflusst. Im Juli 1814 führte er sogar ein langes Vier-Augen-Gespräch mit Zar Alexander I. Anschließend schlossen die beiden Männer „einen Bund (…), dem Herrn treu zu sein bis in den Tod“.
Als junger Mann hatte Heinrich Jung einst während eines sonntäglichen Spaziergangs ein Erweckungserlebnis gehabt. Von dem Augenblick an – so bekennt er (von sich in der dritten Person redend) in seiner Lebensgeschichte – fühlte er eine unüberwindliche Neigung, ganz für die Ehre Gottes und das Wohl seiner Mitmenschen zu leben und zu sterben. (…) Auf der Stelle machte er einen festen und unwiderruflichen Bund mit Gott, sich hinführo lediglich Seiner Führung zu überlassen und keine eitlen Wünsche mehr zu hegen. Später legte er sich den Beinamen „Stilling“ zu. Er wollte damit wohl ausdrücken, dass er sich eher zu den einfachen, frommen Menschen zählte, den sog. „Stillen im Lande“ (Ps. 35,20), die sich bemühten, ein Gott wohlgefälliges und seinem Willen ergebenes Leben zu führen.
„Probier erst einen Menschen, ob er des Spotts wert“
Als im Frühherbst 1770 Jung-Stilling in Straßburg sein Medizinstudium aufnahm, kam er mit einem Kreis zusammen, der sich um den damals 21jährigen Studenten Goethe gebildet hatte. Goethe war sogleich von der Lauterkeit und spürbaren Frömmigkeit Jung-Stillings eingenommen. Überdies war er spätestens seit seiner Bekanntschaft mit Susanna von Klettenberg und den Herrnhutern es gewohnt, pietistisch ausgerichteten Personen mit Respekt und Wertschätzung zu begegnen. In seiner Lebensgeschichte erzählt Stilling, wie anfänglich in der Runde jemand über seinen Glauben spottete. Da habe aber Goethe den Spötter mit den Worten zurechtgewiesen:
‚Probier erst einen Menschen, ob er des Spotts wert sei? Es ist teufelmäßig, einen rechtschaffenen Mann, der keinen beleidigt hat, zum Besten zu halten!‘ Von dieser Zeit – so Jung-Stilling weiter – nahm sich Herr Goethe Stillings an, besuchte ihn, gewann ihn lieb, machte Brüderschaft und Freundschaft mit ihm, und bemühte sich bei allen Gelegenheiten, Stillingen Liebe zu erweisen.
Interessant ist auch, wie später Goethe selbst in Dichtung und Wahrheit über Jung-Stilling urteilte und dessen besondere Wesensart zu erfassen versuchte:
Unsere Tischgesellschaft vermehrte sich wohl auf zwanzig Personen. (…) Unter den neuen Ankömmlingen befand sich ein Mann, der mich besonders interessierte; er hieß Jung, und ist derselbe, der nachher unter dem Namen Stilling zuerst bekannt geworden. Seine Gestalt, (…) hatte (…) etwas Zartes. (…) Seine Stimme war sanft, ohne weich und schwach zu sein, ja sie wurde wohltönend und stark, sobald er in Eifer geriet, welches sehr leicht geschah. Wenn man ihn näher kennen lernte, so fand man an ihm einen gesunden Menschenverstand, der auf dem Gemüt ruhte (…), und aus eben diesem Gemüt entsprang ein Enthusiasmus für das Gute, Wahre und Rechte in möglichster Reinheit. (…) Das Element seiner Energie war ein unverwüstlicher Glaube an Gott und an eine unmittelbar von daher fließende Hilfe, die sich in einer ununterbrochenen Vorsorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller Not, von jedem Übel augenscheinlich bestätigte. (…)
Seine innerlichste und eigentlichste Bildung aber hatte er jener ausgebreiteten Menschenart zu danken, welche auf ihre eigne Hand ihr Heil suchten, und indem sie sich durch Lesung der Schrift und wohlgemeinter Bücher, durch wechselseitiges Ermahnen und Bekennen zu erbauen trachteten, dadurch einen Grad von Kultur erhielten, der Bewunderung erregen musste. (…)
Sein Glaube duldet keinen Zweifel und seine Überzeugung keinen Spott. Und wenn er in freundlicher Mitteilung unerschöpflich war; so stockte gleich alles bei ihm, wenn er Widerspruch erlitt. Ich half ihm in solchen Fällen gelegentlich über, wofür er mich mit aufrichtiger Neigung belohnte. Da mir seine Sinnesweise nichts Fremdes war und ich dieselbe vielmehr an meinen besten Freunden und Freundinnen schon genau hatte kennenlernen, sie mir auch in ihrer Natürlichkeit und Naivität überhaupt wohl zusagte; so konnte er sich mit mir durchaus am besten finden. Die Richtung seines Geistes war mir angenehm und seinen Wunderglauben, der ihm so wohl zu Statten kam, ließ ich unangetastet.
Helfer in Geldnöten
Obgleich das Medizinstudium eigentlich auf vier Jahre angelegt war, bestand Jung-Stilling das Examen bereits nach drei Semestern glänzend. Anschließend ließ er sich für einige Jahre in Elberfeld als Arzt nieder. Hier begann er auch Operationen am Grauen Star nach einer damals neuen Methode durchzuführen. Dabei entwickelte er so viel Geschick, dass er schon früh im Ruf eines erfolgreichen Staroperateurs (im Doppelsinn des Wortes) kam. (Die Operationen an ungezählten, zum Teil minderbemittelten Patienten führte er übrigens i.d.R. unentgeltlich durch.)
Als sich Jung-Stilling während seiner Zeit im Wuppertal (wieder einmal) in großer Geldnot befand, wurde ausgerechnet Goethe unbewusst zu einem Werkzeug göttlicher Hilfe. Dieser hatte nämlich seinen neuen Freund einst ermutigt, seine „Lebensgeschichte“ niederzuschreiben (Heinrich Stillings Jugend), und hatte diese dann ohne sein Wissen veröffentlicht. Im Frühling 1776 nun musste Jung-Stilling seine Wohnung wechseln. Er hatte aber noch 70 Taler an alten Mietschulden und wusste nicht, wie er sie abzahlen sollte. Bis zu einem bestimmten Freitag wurde ihm noch eine Frist gewährt. Obwohl Jung-Stilling in dieser Zeit unaufhörlich zu Gott flehte, so eröffnete sich ihm doch kein Ausweg aus seiner prekären Lage.
Endlich – so berichtet er – brach der furchtbare Freitag an, beide (Jung-Stilling und seine Frau – M.H.) beteten den ganzen Morgen während ihren Geschäften unaufhörlich. (…) Um zehn Uhr trat der Briefträger zur Tür herein; in einer Hand hielt er das Quittungsbüchelchen und in der andern einen schwer beladenen Brief. Voller Ahnung nahm ihn Stilling an, es war Goethens Hand und seitwärts stand: beschwert mit hundertundfünfzehn Reichstaler in Golde. Mit Erstaunen brach er den Brief auf, las – und fand, dass Freund Goethe (…) den Anfang seiner Geschichte unter dem Titel ‚Stillings Jugend‘ hatte drucken lassen, und hier war das Honorar.
Dieses Vorgehen Goethes befreite Jung-Stilling nicht nur aus einer akuten Notlage, sondern trug auch dazu bei, dass er schon bald als Schriftsteller populär wurde, zumal er später noch weitere Fortsetzungen seiner Lebensgeschichte folgen ließ.
Leichte Missstimmungen
Nach einer gemeinsamen Rheinreise kamen Goethe und der Zürcher J.G. Hamann am 22. Juli 1774 mit Jung-Stilling in Elberfeld im Rahmen einer geselligen Zusammenkunft zusammen, an der verschiedene (meist pietistisch geprägte) Persönlichkeiten des geistigen Lebens aus der Stadt und der Umgebung teilnahmen. In Dichtung und Wahrheit schreibt Goethe:
Wir besuchten Elberfeld (…). Hier fanden wir unsern Jung, genannt Stilling, wieder, der (…) den Glauben an Gott und die Treue gegen die Menschen immer zu seinem köstlichen Geleit hatte. Hier sahen wir ihn in seinem Kreise und freuten uns des Zutrauens, das ihm seine Mitbürger schenkten, die mit irdischem Erwerb beschäftigt, die himmlischen Güter nicht außer Acht ließen.
Im Februar 1775 reiste Jung-Stilling nach Frankfurt, um dort eine Staroperation an dem vornehmen und angesehenen Frankfurter Bürger Friedrich Maximilian von Lersner durchzuführen. Goethe, der sich noch immer bei seinen Eltern in Frankfurt aufhielt – so erinnert sich Jung-Stilling in seiner Lebensgeschichte – freute sich innig, seinen Freund Stilling auf einige Zeit bei sich zu haben; seine Eltern boten ihm während seines Aufenthalts ihren Tisch an und mieteten ihm in ihrer Nachbarschaft ein hübsches Zimmer; dann ließ auch Goethe eine Nachricht in die Zeitung rücken, um damit mehrere Notleidende herbeizuholen. Doch die Operation an dem prominenten Patienten verlief unglücklich, da die Augenlinsen angewachsen waren und sich nur äußerst schwer herauslösen ließen. Goethe beschreibt In Dichtung und Wahrheit ausführlich, wie er jene missglückte Staroperation miterlebte, die seinem Freund sehr aufs Gemüt schlagen sollte.
Dass es im Übrigen bei Stillings mehrwöchigem Frankfurter Aufenthalt zwischen ihm und Goethe offensichtlich zu einer leichten Missstimmung gekommen ist, machen folgende Bemerkungen deutlich, die Goethe in seinen Bericht von der Staroperation eingeschoben hat:
Zutrauen und Liebe verband mich aufs herzlichste mit Stilling; ich hatte doch auch gut und glücklich auf seinen Lebensgang eingewirkt und es war ganz seiner Natur gemäß, alles was für ihn geschah, in einem dankbaren feinen Herzen zu behalten; aber sein Umgang war mir in meinem damaligen Lebensgange weder erfreulich noch förderlich. Zwar überließ ich gern einem jeden, wie er sich das Rätsel seiner Tage zurechtlegen und ausbilden wollte, aber die Art, auf einem abenteuerlichen Lebensgange alles, was uns vernünftigerweise Gutes begegnet, einer unmittelbaren göttlichen Einwirkung zuzuschreiben, schien mir doch zu anmaßlich so wie die Vorstellungsart, dass alles, was aus unserm Leichtsinn und Dünkel, übereilt oder vernachlässigt, schlimme schwer zu übertragene Folgen hat, gleichzeitig für eine göttliche Pädagogik zu halten, wollte mir auch nicht in den Sinn. Ich konnte also den guten Freund nur anhören, ihm aber nichts Erfreuliches erwidern; doch ließ ich ihn, wie so viele andere, gern gewähren und schützte ihn später wie früher, wenn man, gar zu weltlich gesinnt, sein zartes Wesen zu verletzen sich nicht scheute.
Zunehmende Entfremdung
Die beginnende Entfremdung zwischen Goethe und Stilling hing sicherlich auch damit zusammen, dass Ersterer immer weiter seine eigene Religionsauffassung und sein eigenes Glaubensverständnis fortentwickelte, in deren prozessualen Verlauf Christus zunehmend zu einer Randfigur wurde. Dass der Mensch nach biblischer Aussage ein erlösungsbedürftiger Sünder und Christus für die Sünden der Menschen am Kreuz gestorben ist, war und blieb für Goethe eine Zumutung.
Mit der Zeit verloren sich die beiden aus den Augen. Zwar kam man noch einmal im Herbst 1775 zusammen, traf und sah sich dann aber über vier Jahrzehnte hinweg nicht mehr. Am 7. März 1780 vertraut Jung-Stilling Franz Lerse, seinem (und Goethes) Freund aus der gemeinsamen Zeit in Straßburg, an: Goethe – nun das weiß alle Welt! Der hat mir oft Bange gemacht, aber denk, Bruder, die Anmerkung ist mir oft über ihn eingefallen: wenn ein Mensch auch nichts anderes als ein Genie ist, gar keine Stetigkeit, keine Schwerkraft hat, die ihn nach den Mittelpunkt zieht – so treibt ihn der Wind durch alle Lüfte um, er flackert, lodert, niemand kann sich an seinem Feuer erwärmen, noch durch sein Licht geleitet werden. Doch glaub ich noch immer, er wird noch ein brauchbarer Mensch werden.
Und einen anderen Freund, den Dichter Friedrich de la Motte Fouqué, ließ Jung-Stilling in einem Brief vom 12. November 1810 wissen: Was Goethe betrifft, so kann ich Ihnen nichts weiter von ihm sagen, als was alle Welt weiß: ich hab ihn 1775 im Herbst zuletzt gesehen, und auch seitdem keinen Umgang mehr mit ihm gehabt. (…) Der Fatalismus ist sein Glaubenssystem, seine natürlichen Gaben, Anlagen und Triebe, verbunden mit den äußern Umständen, sind seine unbezwingbaren Führer; diese reißen ihn unaufhaltsam mit sich fort.
Endlich, am 5. Oktober 1815 kam es doch noch zu einer persönlichen Begegnung der inzwischen alt gewordenen ehemaligen Freunde. An jenem Tag machte Goethe auf seiner Reise an Rhein, Main und Neckar einen Abstecher nach Karlsruhe, um dem hier wohnenden Jung-Stilling einen spontanen, unangemeldeten Besuch abzustatten. Doch der überrumpelte, inzwischen 75 Jahre alte Gastgeber verhält sich Goethe gegenüber an diesem Tag irgendwie zerstreut; er steht unter Zeitdruck und benimmt sich dadurch wohl auch leicht unhöflich. Bereits seine Begrüßungsworte beim Empfang „Ei, die Vorsehung führt uns schon wieder einmal zusammen!“ waren dem Weimarer „Dichterfürst“ ein Ärgernis …
Drei Monate später ist Jung-Stilling um Schadensbegrenzung bemüht. In einem Brief vom 7. Januar 1816 an Goethe entschuldigt er sich indirekt für sein unglückliches Verhalten bei jener letzten Begegnung und versichert ihm seine besondere Wertschätzung und Dankbarkeit mit den Worten:
Endlich komme ich denn doch einmal dazu, Ihnen, mein alter, edler und bewährter Freund!, schriftlich zu sagen, was ich gerne mündlich hätte sagen mögen, und auch gewiss gesagt hätte, wenn nicht ein widerwärtiges Geschicke im Herbst mir im Weg gestanden hätte, mich Ihnen ganz zu nähern. Ihre treue, mir so ganz unerfahrenen Naturmenschen in Straßburg und 1775 in Frankfurt erwiesene Freundschaft und Ihr ganzes Tun und Wesen, so wie ich Sie damals fand, stehen nicht im entfernten Hintergrund meines Lebensgemäldes, sondern sie sind auf meiner rauen Bahn mit fortgewandelt, daher ist noch nichts davon verwischt und veraltet. Dies hätte ich Ihnen gerne längst einmal gesagt, allein wir trafen nie zusammen. (…) Aber wir müssen noch einmal diesseits Herz in Herz ausleeren; die Vorsehung mag den Zeitpunkt bestimmen. (…)
Mein Grundsatz war immer: Die verschiedenen Wege, die wir geführt worden sind, dürfen das Band der Vollkommenheit nicht lösen; – ich habe in Ihrer Geschichte Wahrheit und Dichtung gefunden, dass dies bei Ihnen auch der Fall nicht war, und in diesen Zeilen sehen Sie: auch bei mir nicht. Leben Sie wohl!
Die beiden ungleichen Freunde sollten sich jedoch nicht mehr wiedersehen: Jung-Stilling verstarb am 2. April 1817.
Quellennachweis
Goethe und die Religion: Aus seinen Werken, Briefen, Tagebüchern und Gesprächen zusammengestellt von Hans-Joachim Simm. Frankfurt/M. u. Leipzig 2000
Goethe, Johann Wolfgang von: Dichtung und Wahrheit. In: Goethe, Werke. Jubiläumsausgabe. 5. Band. Frankfurt/M. u. Leipzig 1998
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Darmstadt 1976
Raabe, Paul: Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande. Katalog zur Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 9. Mai bis 3. Oktober 1999. Halle 1999
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2024