Im Zuge der Säkularisierung und weitgehender Entfremdungserfahrungen der Gesellschaft vom Christentum sucht die Kirche Rettung bei der Ethik, indem sie vor allem auf die Bearbeitung von Fragen der Moral setzt. Doch die Moralisierung der Religion führt in eine babylonische Gefangenschaft der Kirche, weswegen die Autoren dieses Aufsatzes nachdrücklich vor ihr warnen.*
I. Infektionsgefahr
Es scheint schon länger Programm der evangelischen Kirche zu sein, auf gesellschaftlich virulente Themen zu setzen, um sich angesichts von Mitgliederrückgang und Nachwuchsmangel anschlussfähig zu halten. In diesen Bemühungen der evangelischen Kirche, dem (vermeintlich) abnehmenden Interesse an Religion auf diese Weise entgegenzuwirken, ist immer wieder zu beobachten, dass religiöse durch moralische Kommunikation ersetzt wird. Der Fall wiegt schwerer, als es zunächst scheint. Denn damit geht ein selbstproduzierter Verzicht auf Religion einher, der religiöses Desinteresse stabilisiert und stärkt. Umgekehrt stellt sich nach wie vor die Frage: Wie religionsfähig ist die evangelische Kirche? In jedem Fall führt das Ausweichen in die Moral auf einen gefährlichen Weg. Denn die der Moral zugrunde liegende Kommunikationsstruktur führt die evangelische Kirche in eine diabolische Gefangenschaft1, unter der das ihr Eigene, nämlich die Kommunikation des Evangeliums von Gottes Gegenwart in Jesus Christus, verloren zu gehen droht.
Mit dem Aufzeigen dieser Gefahr begeben wir uns auf heikles Gelände. Denn moralische Kommunikation ist „hochinfektiös“2. Es kann passieren, dass die Warnung vor der Gefahr selbst für gefährlich gehalten und der folgende Beitrag seinerseits moralisch abgestempelt wird. Ob sich dieses Wagnis bewährt, bemisst sich an der Kraft der theologischen Analyse.
Deshalb grenzen wir unsere Problemanzeige genauer ein: Der „Nahbereich“ religiöser Kommunikation, wie er Tag für Tag Gestalt gewinnt in pastoralen, seelsorglichen oder spirituellen Vollzügen scheint weniger infektionsanfällig für Moral zu sein. Anders verhält es sich für den Bereich öffentlicher Äußerungen leitender Geistlicher, wenn sie den Anspruch formulieren, ein moralisches „Wächter-Amt“ für die gesamte Gesellschaft wahrzunehmen. Damit versteht sich die Kirche als ein Gegenüber zur Gesellschaft. Kraft dieses Anspruchs begleitet sie politische Entwicklungen, kommentiert und bewertet diese kritisch in der Öffentlichkeit und leitet daraus Forderungen an die Politik ab.
II. Ausdifferenzierte Sinnbereiche
Unsere Analyse geht von der systemtheoretischen Prämisse aus, dass die gegenwärtige Gesellschaft – im Sinne aller füreinander erreichbaren Kommunikationen – funktional differenziert aufgebaut ist. Seit dem 18. Jh. hat sich die vorherige homogene Weltsicht in unterschiedliche, nicht aufeinander abbildbare Sinnbereiche aufgeteilt. Das vormals als einheitlich empfundene Gute, Wahre und Schöne ist von spezialisierten Sinnzumutungen abgelöst worden. Das soziale System der Gesellschaft ist seitdem unter mehreren Adressen erreichbar.
Der vormals eine Kommunikationszusammenhang ist in hochspezielle Kommunikationen auseinandergetreten, die je eigene Probleme behandeln. Wenn es um Politik geht, wird anders kommuniziert, als wenn es um Recht oder Wirtschaft oder Wissenschaft geht.3 Man weiß stets, in welchem Sinnbereich man kommuniziert, das bedeutet, nicht jede Kommunikation kann an jede andere anschließen. „Daß dies eine extrem einschneidende Bedingung ist, braucht hier wohl kaum erläutert zu werden. Wenn man auf der Straße nach dem Weg gefragt wird, kann man im sozialen System nicht dadurch reagieren, daß man Lilli Marleen singt oder zurückfragt, ob der Fragende in der richtigen Weise an Jesus Christus glaubt.“4
Entkoppelung von Religion und Moral
Die religiöse Kommunikation scheint frühzeitig autonom geworden zu sein. Jedoch hat sie paradoxerweise den Blickwinkel und den Anspruch einer Art „Gesamtsinn“ der Gesellschaft beibehalten. Religion und Moral waren noch bis zur Französischen Revolution in der stratifikatorisch geordneten Gesellschaft eins und haben diese sogar zusammengehalten. Doch mit der weiteren Ausdifferenzierung der Sinnbereiche Wirtschaft, Politik, Wissenschaft usw. operieren diese nun unabhängig von anderen Einflüssen. Sie folgen ihrer je eigenen Logik und verarbeiten weder die Sinnzusammenhänge der Religion noch die der Moral. Kürzer: sie haben sich diesen gegenüber immunisiert. Von daher erscheinen Politik oder Wirtschaft bisweilen als „unmoralisch“, was diesen selbst aber eher zum Lob denn zum Tadel gereichen kann.
Durch den beschriebenen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel haben sich die einzelnen Funktionssysteme von Religion und Moral abgekoppelt. Mehr noch: Die übriggebliebene Liaison von Religion und Moral ist inzwischen selbst verhängnisvoll geworden. Denn einerseits führen manche religiöse Sinnofferten weiterhin den Anspruch mit sich, alle Lebensbereiche zu umfassen, obwohl dies faktisch längst nicht mehr der Fall ist. Andererseits findet die Moral in der Religion optimale Bedingungen vor, um sich (mehr oder weniger unbemerkt) einzunisten.
„Moralische Kommunikation“
Unter moralischer Kommunikation fassen wir alle Sinnofferten zusammen, die beteiligten Personen oder Positionen entweder Achtung erweisen oder Missachtung zuteilwerden lassen. Das ist die soziale Dimension der Moral. In sachlicher Hinsicht geht es um die Unterscheidung von gut und böse. Und schließlich lässt sich in zeitlicher Perspektive eine schnelle und langsame Kommunikation unterscheiden. Wer seine moralische Meinung schneller publik macht, ist klar im Vorteil; zumeist bleibt dem anderen nur eine nachgeschobene Kritik, die jedoch ihm als Kritiker angelastet wird. Moralische Kommunikation nutzt vor allem Reizworte, Etiketten und Aufmerksamkeitsfänger. Dieses Verfahren kommunikativer Reduktion und Pointierung scheint ihr spezifischer Umgang mit der Komplexität der Verhältnisse zu sein.
„Religiöse Kommunikation“
Das Alleinstellungsmerkmal religiöser Kommunikation hingegen ist die Bearbeitung der Unterscheidung „immanent/transzendent“. Damit eröffnen sich Freiheiten, in religiöser Weise über Politik, Recht oder Wirtschaft zu sprechen. Allerdings: religiös codiert und nicht ersatzweise politisch oder rechtlich oder wirtschaftlich. Christliche Religion beobachtet das Unbeobachtbare – und findet dafür beobachtbare Formen. Sie kommuniziert das Inkommunikable – und stellt dafür kommunikative Formen bereit. Sie sorgt sich um den Sinn von Sinn – und sucht nach sinnhaften Formen dafür.5
Pluralisierung der Moral
Sowohl historisch als auch soziologisch gesehen führt die Moral die Aporie mit sich, dass sie keine gültigen Programme entwickelt hat, die es ermöglichen, ihren Code von gut/böse in operationalisierbare Formen zu bringen. Ein Beispiel kann dies veranschaulichen: Auf Volksfesten und Massenveranstaltungen wird mittlerweile aus Nachhaltigkeitsgründen darauf verzichtet, Speisen auf Papptellern zu reichen. Stattdessen werden sie in essbaren Behältnissen angeboten. Doch diese werden selten aufgegessen, sondern weggeworfen. Ist der moralische Wert der ökologischen Nachhaltigkeit aber größer als der, Nahrungsmittel wegzuwerfen, wenn große Teile der Welt von Hunger bedroht sind? Diese Frage geht jedoch selten in die öffentliche Diskussion ein. Das Beispiel zeigt: Die Gesellschaft ist nicht (mehr) dazu in der Lage, sich auf verbindliche Moralstandards zu einigen. Denn Moral ist allumfassend und plural. Sie wirkt daher, entgegen ihrem normativen Anspruch, nicht integrativ, sondern eher desintegrativ. Daher hatte die Pluralisierung der Moral seit dem konfessionellen Zeitalter auch die Entwicklung des Rechtes als integratives Ordnungsregime erforderlich gemacht.
Hinzu kommt: Moral bringt die Menschen nicht zusammen, sondern treibt sie auseinander, denn auf Moral kann wiederum nur Moral folgen, die alle andere Kommunikation durchkreuzt. Auch dieser Zusammenhang lässt sich illustrieren: Der Antrag an die Kirchenkreissynode, künftig nur noch vegane Speisen anzubieten, ist mit der Begründung abgelehnt worden, jeder möge doch selbst entscheiden, was er isst. Die Antragsteller fühlten sich unverstanden, die Mehrheit brüskiert durch Zwang. So endet die Verständigung über Moral oft in sich gegenseitig ausschließender Verständnislosigkeit.
Ist Moral gut?
Theologisch betrachtet ist die Liaison der Religion mit der Moral mehr als verwunderlich. Denn die Unterscheidung von „gut“ und „böse“ wird ja schon im Buch Genesis als „Lapsus“ dargestellt. „Man sollte ja nicht vom Baum der Erkenntnis essen, und der Frevel rächt sich, indem die Benutzung moralischer Begriffe immer wieder zu der Frage nach den Motiven und Interessen führt, die dahinterstecken“, schreibt Niklas Luhmann und verweist auf die sophistische Diskussion, „ob man auch ‚im Dunkeln‘ moralgerecht handeln würde oder dies nur wegen des damit verbundenen guten Rufes tut“6. Oder im Kontext des Beispiels von oben: Der Antrag auf vegane Speisen löst bei den Gegnern die Spekulation aus, warum er gestellt worden ist. So werden Motive gesucht: Wollen die uns vorschreiben, wie die Welt zu verbessern ist? Meinen die es besser zu wissen, was wir tun oder lassen sollen?
Ist die Unterscheidung von gut und böse nun gut oder böse? Oder anders gefragt: Ist Moral gut? Diese Frage ist nicht trivial, macht sie doch deutlich, dass sie nur auf einer anderen Ebene als der der Moral beantwortet werden kann. Es scheint so zu sein, als wäre dazu eine höhere Reflexionsstufe eingeführt worden: die Ethik. Sie beabsichtigt, darüber zu befinden, ob die Unterscheidung von gut und böse als gut oder als böse zu handhaben ist und wer sich auf welcher Seite der Unterscheidung zuhause wissen darf.
Aber die Ethik kommt – trotz Ethik-Räten – auch zu keinem verbindlichen Ergebnis. Das ändert sich nur, wenn sie ihre Sache an das Recht weitergibt, das dann Gesetze erlässt – oder es sein lässt. Dazu aber hätte es der Ethik nicht bedurft. Auch sie kann also nicht helfen.
III. Moralisierte Religion
Die Liaison der christlichen Kirche mit moralischer Kommunikation hat sich insbesondere in den zurückliegenden fünf Jahrzehnten leider nochmals intensiviert. Aber die Moralisierung der Kommunikation des Evangeliums hat immer wieder die Botschaft entkernt und ihr die Kraft genommen. Niklas Luhmann verdeutlicht in seinem 1986 erschienenen Buch „Ökologische Kommunikation“ diesen Eindruck: „Auch Theologen werden zu Diskussionen eingeladen, die sich mit Umweltproblemen befassen. Sie stehen nicht unter Motiv- oder Interessenverdacht, bieten argumentative Kompetenz und sind unbestreitbar guten Willens. Ihre Beiträge zur ökologischen Diskussion bleiben gleichwohl mehr als dürftig. Weithin wiederholen sie nur, was ohnehin gedacht und gemeint wird ohne spezifisch religiösen Bezug. In konkreten Bildern und Worten, Mahnungen und Appellen verbergen sich Allgemeinplätze, die sich den wirklichen Problemen nicht stellen. Man liest etwa, daß Technik, Wissenschaft und ökonomische Verhältnisse nicht selbst zum allein dominierenden Herrschaftsträger werden, sondern Hilfsmittel zur Gestaltung einer Kultur des Menschen innerhalb natürlicher Gegebenheiten sein sollen. Wer so formuliert, kann es ebenso gut auch bleiben lassen. Es reicht nicht. Und es hilft nichts, wenn man solche Aussagen dann nochmals theologisch reformuliert und sie auf Gott bezieht.“7
Dieses Phänomen hat sich in diesen Tagen weiter gesteigert. So hat z.B. die EKD zur Attraktivierung des Theologiestudiums vorgeschlagen, im ersten Semester „durch die Erörterung ethischer Fragestellungen wie z. B. des assistierten Suizids, der Aufnahme der Klimaschutzdiskussion, der Populismus-Debatte“ die „Gegenwartsrelevanz der Theologie“8 zu erschließen.
Biblisch-theologische Moralisierung
Ferner geben leitende Köpfe, Gremien und Kommissionen der evangelischen Kirche dieses Landes ihre Stimmen dafür her, eine vorgängige Allerweltsmoral mit biblischen Versatzstücken zu amalgamieren oder sie gar in Hyper-Moral zu transformieren (nach dem Muster „Antisemitismus ist Gotteslästerung“ oder „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“). Dazu greifen die kirchenleitenden Sprecher und Sprecherinnen vermeintlich tagesaktuelle Themen ausgewählter gesellschaftlicher Diskurse auf: Gender, Klima, Migration, Friedensethik, Nachhaltigkeit. So ist etwa im Bericht des Präsidiums der Synode der EKD von der Präses zu lesen: „Der Weg hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft, die Transformation unserer Wirtschaft, der Wandel unserer Lebensweise ist mit Zumutungen verbunden, wirft Fragen auf und führt bereits jetzt zu Konflikten. Die Bibel ist voll von Geschichten des Wandels, der Umkehr, des Neuanfangs – in ihnen begegnen Menschen Gott und schöpfen Hoffnung, gewinnen Zuversicht und wagen das Neue“.9
Hier wird für hochkomplexe Themen der Gesellschaft, die in ihren differenzierten Funktionssystemen wissenschaftlich, wirtschaftlich, juristisch oder politisch behandelt werden müssen, eine mit biblischen Floskeln amalgamierte Moralisierung als Lösung angeboten. Das wirkt weltfremd und naiv. Erschwerend kommt hinzu, dass in diesem Zusammenhang auch noch politische und rechtliche Selbstverpflichtungen für kirchliche Mitarbeitende anempfohlen werden (z.B. Tempo 80 auf Landstraßen / 100 auf Autobahnen). Damit argumentiert die EKD moralisch, sie stellt sich auf die vermeintlich „gute Seite“ und entlastet sich zugleich von der mühsamen, aber ihrer Funktion gemäßen Aufgabe, eine genuin religiöse Perspektive zu formulieren.
Moral als Rettung der Kirche
Die enge Liaison kirchenleitender Köpfe mit der Moral wird von diesen in Zeiten des öffentlich diskutierten Relevanzverlustes der Organisation Kirche als letzte Rettung angesehen. Dies mag verständlich erscheinen, zumal sich die christliche Kirche noch bis zur Jahrtausendwende in der Mitte der Gesellschaft wahrgenommen hat und dort stets auf der als richtig empfundenen Seite stand. Niemand möchte aus der Mitte der Gesellschaft oder gar aus einer übergeordneten Position verdrängt werden. Das aber ist geschehen. Und was sich durch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft schon lange abgezeichnet hat, wird nun auch durch den quantitativen Schwund eingeholt. Doch mit welchem Effekt?
IV. Ent-Moralisierung religiöser Kommunikation
Wir stellen die These auf: Die evangelische Kirche könnte froh und erleichtert sein, endlich ihr eigenes Spiel spielen zu können, wenn sie sich nur aus ihrer diabolischen Gefangenschaft befreien lassen würde. Eine Ent-Moralisierung religiöser Kommunikation lässt sich dadurch erreichen, dass sie von der leitenden Unterscheidung „gut/böse“ abrückt und zur genuin religiösen Unterscheidung „immanent/transzendent“ übergeht. Religiöser Sinn entsteht immer dann, wenn die Unterscheidung „immanent/transzendent“ auf der Seite „immanent“ angewandt wird.10 M.a.W.: Genuin religiöse Kommunikation kümmert sich nicht mehr um die Unterscheidung von gut und böse, sondern in erster Linie um diejenige von immanent und transzendent.
Befreiung der Religion zu sich selbst
Diese Einsicht stellt die bisherige These der Säkularisierung vom Kopf auf die Füße. Säkularisierung ist nicht gegen, sondern für die Religion zu begreifen. Denn sie hilft dazu, dass die Religion immer mehr zum Eigenen und damit zu sich selbst kommt. Niklas Luhmann vermerkt: „Wenn das mit ‚Säkularisierung‘ gemeint war, so sichert gerade die Säkularisierung die Eigenständigkeit von Religion“11.
Der Paradigmenwechsel von der bisherigen moralzentrierten zu einer eigenständigen religiösen Kommunikation kann beinahe im Stil einer Verhaltenstherapie stattfinden, die hier als Kommunikationstherapie auftritt. Es ist zu lernen, anders zu kommunizieren. Lernen ist – als Verlernen und als Neu-Lernen – stets Selbstkonditionierung. Die kirchliche Kommunikation kann sich also durch Selbstkonditionierung aus der diabolischen Gefangenschaft lösen.
Die Bearbeitung der Unterscheidung „immanent/transzendent“, um die sich kein anderes gesellschaftliches Funktionssystem kümmert, stellt das Alleinstellungsmerkmal religiöser Kommunikation dar. Zugleich eröffnen sich von hier aus Freiheiten, in religiöser Weise (dann auch) über Politik, Recht oder Wirtschaft zu sprechen. Allerdings: Diese Kommunikation muss religiös codiert sein und nicht ersatzweise politisch oder rechtlich oder wirtschaftlich.
Genuin religiöse Kommunikation
Eine Hinwendung der evangelischen Kirche zu genuin religiöser Kommunikation würde sich auswirken. Zum einen hätte sie Konsequenzen für die Art und Weise, wie religiöse und andere Themen zu behandeln sind. Zum anderen könnte es auch zu einer veränderten Auswahl der Themen kommen. Wenn z.B. Themen wie Gender, Klima oder Migration tatsächlich unter religiösen Gesichtspunkten besprochen werden sollten, wäre noch nicht ausgemacht, dass dabei wirklich etwas Substantielles herauskommt. Denn: Wozu „gendern“, wenn in Christus weder Mann noch Frau gelten? Weshalb Weltuntergang durch selbst-gemachten Klimawandel, wenn doch der Schöpfer des Himmels und der Erde fest im Regiment sitzt und darüber befindet, wie und wann es mit dieser Welt zu einem Ende kommen soll? Und selbstverständlich könnte das Thema Migration theologisch so oder so betrachtet werden. Man könnte z.B. fragen, ob die Menschenrechte oder die Bekämpfung von Fluchtursachen auch auf anderen Wegen eingehalten bzw. angegangen werden könnten.
Weitaus bedeutsamer erscheint uns die Setzung eigener religiöser Themen, die sich durch eine programmatische Konkretisierung des abstrakten Codes von „immanent/transzendent“ erreichen lässt. Theologisch gesprochen kann dies als Arbeit an einer zeitgemäßen „Dogmatik“ im weiten Sinne begriffen werden. Damit ist eine 180-Grad-Kehrtwende verbunden, welche die momentane Beliebigkeit eines religiös-theologischen „alles ist erlaubt“ in bestimmte, religiös-theologisch verbindliche Programme wendet. Im Gegenzug könnten die derzeit hochgehandelten politisch-moralischen Eindeutigkeiten und deren vorgängige Allerweltsethiken, zu denen sich die evangelische Kirche nach wie vor hinreißen lässt, für liberale und plurale Diskussionen freigegeben werden.
Neue Aufgabengebiete christlich-kirchlicher Praxis
Eine Kirche, die sich auf ihr Eigenes besinnt, greift endlich wieder religiös qualifizierte Narrative auf, die sich von politischen, rechtlichen oder wirtschaftlichen Sinnzumutungen unterscheiden. Exemplarisch nennen wir drei maßgebliche Themenbereiche: Spiritualität, Seelsorge und Riten, die sich als einander ergänzende und erweiternde Kreise darstellen lassen.
Eine gegenwärtige Spiritualität – bei aller Fragwürdigkeit dieses mittlerweile zum Container gewordenen Begriffs – nimmt die Individualisierung des Lebens und Glaubens auf und bietet dafür religiöse Formen, die aus dem reichen christlichen Sinn- und Symbolhorizont schöpfen.
Eine auf Zukunft gerichtete Seelsorge nimmt in sich geistliche Kommunikation auf. Sie wird zum religiösen Interaktionssystem per se.
Die rituelle Vergegenwärtigung religiösen Sinns kombiniert schließlich Spiritualität und Seelsorge. In den christlichen Riten wie Taufe als Initiation und Abendmahl als Partizipation finden Bewusstsein und Kommunikation zu einem Paradox zusammen, das im Ritual zugleich vergegenwärtigt wie überschritten wird. Es ist das Paradox eines kommunikativen Kommunikationsstopps12, in dem sich die Funktion der Religion in der momentanen Gesellschaft spiegelt.
Christliche Religion beobachtet das Unbeobachtbare – und findet dafür beobachtbare Formen. Sie kommuniziert das Inkommunikable – und stellt dafür kommunikative Formen bereit. Sie sorgt sich um den Sinn von Sinn – und sucht nach sinnhaften Formen dafür.13 Wird religiöse Kommunikation auf diese Weise ernst genommen und die theologische (Denk-)Arbeit daran nicht gescheut, eröffnen sich unzählige Möglichkeiten, z.B. auch neue, ergänzende Riten zu entwerfen, in denen die Kommunikation des Evangeliums Gestalt gewinnen kann. Es stellt sich die Frage, ob und wie die Kirche (wieder) religionsfähig werden kann14.
Es wäre einen Versuch wert, ob nicht das Interesse an Religion (wieder) geweckt werden kann, wenn die evangelische Kirche die Gesellschaft – statt mit moralischen Appellen oder Richtigkeiten – mit Formen erlebbarer Religion versorgt.
Anmerkungen
* Der Text ist ein Ergebnis aus Diskussionen im „Arbeitskreis für Theologie und Systemtheorie“ mit Sitz in Hannover.
1 Siehe Luhmann, Niklas/Kieserling, André (2002): Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt/M., 98: „An sich könnte gerade die christliche Theologie wissen, daß die Moral, das heißt: die Unterscheidung von gut und böse, vom Teufel ist. Man sollte ja nicht vom Baum der Erkenntnis essen, und der Frevel rächt sich, indem die Benutzung moralischer Begriffe immer wieder zu der Frage nach den Motiven und Interessen führt, die dahinterstecken und durch die Moral nicht gedeckt sind“.
2 Vgl. Luhmann, Niklas (2008): Ethik als Reflexionstheorie der Moral. In: Niklas Luhmann und Detlef Horster (Hg.): Die Moral der Gesellschaft. Orig.-Ausg., 1. Aufl. Frankfurt/M., 270f: „Diese vorsorglichen Bemerkungen sind besonders angebracht, wenn man sich als Soziologe dem Gebiet der Moral und der Ethik nähert. […] Außerdem handelt es sich um einen hochinfektiösen Gegenstand, den man nur mit Handschuhen und mit möglichst sterilen Instrumenten anfassen sollte. Sonst infiziert man sich mit Moral und setzt das, was als wissenschaftliche Untersuchung begonnen hatte, einer moralischen Verwendung aus“.
3 Vgl. exemplarisch Luhmann, Niklas (2008): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? 5. Aufl. Wiesbaden, 50f, sowie Luhmann, Niklas/Baecker, Dirk (2009): Einführung in die Systemtheorie. 5. Aufl. Heidelberg, 261ff.
4 Luhmann, Niklas (2004): Die Realität der Massenmedien. 3. Aufl. Wiesbaden, 32, Fußnote 1.
5 Vgl. Luhmann, Niklas (1997): Vom Sinn religiöser Kommunikation. In: Kaufmann, Franz-Xaver/Gabriel, Karl/Herlth, Alois/Strohmeier, Klaus Peter (Hg.): Modernität und Solidarität. Konsequenzen gesellschaftlicher Modernisierung. Für Franz-Xaver Kaufmann. Freiburg, Basel, Wien, 163-174.
6 Luhmann, Niklas/Kieserling, André (2002): Die Religion der Gesellschaft, 98.
7 Luhmann, Niklas (2008): Ökologische Kommunikation, 120.
8 Schmoll, Heike: Die alten Sprachen sind nicht verzichtbar, in: FAZ 21.12.2023, www.faz.net/-in9-bjrji.
9 Siehe Bericht des Präsidiums auf der 4. Tagung der 13. Synode der EKD vom 12. bis 15. November 2023 in Ulm: www.ekd.de/praesidiumsbericht-synode-2023-80398.htm.
10 Vgl. Luhmann, Niklas/Kieserling, André (2002): Die Religion der Gesellschaft, 53ff.
11 Ebd., 173.
12 Vgl. exemplarisch Luhmann, Niklas (2004): Funktion der Religion. Frankfurt/M., 80f. Hierzu auch Blanke, Eberhard (2014): Systemtheoretische Einführung in die Theologie. Marburg, 148ff.
13 Vgl. Luhmann, Niklas (1997): Vom Sinn religiöser Kommunikation, 163-174.
14 Im Anschluss an Volker Drehsen (1994): Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Sozialisationstheoretische Erkundungen neuzeitlicher Christentumspraxis, Gütersloh.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2024