Wohin wendet sich die Kirche in ihrer Krise? Vielleicht genau dorthin, woher ihr Ungemach droht: in die Fremde. Jochen Kunath deutet den Ort der Kirche in der Welt mit dem Stichwort „Außer Haus daheim sein“. Und er entfaltet, welche Herausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten sich damit für die Zukunft der Kirche eröffnen.
Krisenkreise
Beim kaukasischen Kreidekreis von Bertold Brecht geht die Geschichte für die Magd Grusche am Ende gut aus. Ihr wird ihr Kind zugesprochen. Ob für die Kirche die Geschichte am Ende gut ausgeht, ist Hoffnungssache, weiß aber mitten im Prozess keiner so richtig. Klar ist: Mit zukünftig deutlich weniger Ressourcen wird weniger Arbeit finanzierbar und auch machbar sein. So ist für viele eine der drängendsten Frage: Welche Arbeitszweige, welche Dienste, welche Funktionen von Kirche müssen bald gestrichen werden? Die Verzweiflung der Magd Grusche im Blick auf ihr Kind: „Ich hab’s aufgezogen. … Soll ich’s zerreißen?“, stellt sich für die Kirche ähnlich und anders: Im Kreis der Krise stehend hat sie viele Arbeitszweige, sprich: Kinder. Alle sind ihr lieb und teuer, gleich lieb und teuer, alle ziehen und zerren an ihr, nur: Welches ihrer geliebten Kinder soll sie abgeben? Wie soll die Mutter „Kirche“ das entscheiden?1
Bei allem auch berechtigten Optimismus, bei aller transformativen Aufbruchstimmung macht diese Frage uns umso mehr zu schaffen als die Mutter „Kirche“ selbst kränkelt, selbst in der Krise steckt oder es ihr zugesprochen wird. Und das in einer Zeit, in der manche zu Recht, die biblischen Schreckensszenenarien erweiternd, sogar fünf apokalyptische Reiter die gemeinsame Zukunft bedrohen sehen2; alle spüren, dass ganz so viel Zeit zum Weltretten nicht mehr bleibt und der, die eigentlich fürs Retten zuständig ist, der Sinn irgendwie davon rinnt. Alltäglich harmlos und deprimierend diagnostiziert die aktuelle Dichtung von Xaver Bayer (Poesie) die Lage der Kirche:
„Wie Teile eines mechanischen Figurenwerkes, das irgendwann stehen geblieben und nie mehr in Betrieb genommen ist … Manchmal tritt jemand ein und bleibt zögernd stehen, wie auf einem Amt, wenn er gewohnt ist, dass der für sein Anliegen zuständige Beamte gerade außer Haus ist … der Besucher zieht sich zurück, man hört das Tor ins Schloss fallen.“3
Warum ist die Kirche nicht zuhause? Warum ist sie gerade außer Haus? Und wo wäre sie zuhause? Daheim? Vielleicht wäre diese Frage ein Weg aus dem Krisenkreis. Aber selbst meine eigenen Wege wackeln.4 Vielleicht ist der Ansatz für die Kirche bei Buße, bei Demut, bei Selbstvergessenheit und beim Loben Gottes doch nicht die richtige Wendung, besser: es bleibt dabei die Frage nach dem „Daheim“ ungestellt. Also: Wohin wendet sich die Kirche in ihrer Krise? In wessen Arme flüchtet sie? Woraus schöpft sie sich? Woher erwachsen ihr Lebendigkeit? Wo ist ihr Zuhause? In den Gemeinden? Im Gottesdienst? In der Theologie? In der Schrift? In Christus? In Gott?
In welche Arme?
Wir alle wissen, in der Suche nach einer Antwort auf die Frage des Wo bzw. Wohin, können wir Christinnen und Christen den Kreis nicht verlassen. In die Zeit für die Ewigkeit gesetzt können wir aus dem hermeneutischen Zirkel nicht heraustreten. Bei jeder Predigt sind diese Austrittsversuche unsere Herausforderung. Sie ist nur erträglich, weil vor jeder unserer Frage nach Hinwendung Gottes Hinwendung zu uns steht. Aber selbst diese Frage bleibt im Zirkel und wir bleiben stets gefragt, um nicht zu erstarren, sondern in Bewegung zu bleiben: Wohin wendest du dich als Kirche? Wo bist du daheim?
Vieles ist wohl an Dietrich Bonhoeffers Theologie prophetisch. Vielleicht auch, weil er viele Fragen, die er sich stellte, nicht mehr in Gänze beantworten konnte. So können seine Sätze sichere Weisung sein, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Sein Ringen um die sog. weltliche/nicht-religiöse Interpretation biblischer/theologischer Begriffe (v.a. in seinen Gefängnisbriefen) scheint mir genau um diese Frage zu kreisen: Wohin sollen wir uns richten in unserem kirchlichen Denken und Tun? Die nicht wirklich zur Ruhe kommende Vielzahl der Interpretationen seiner Gedanken dazu5, zeigt deren Unabgeschlossenheit, aber auch deren Potential. Mich angerührt hat Bonhoeffers Versuch, sich selbst und die Kirche zu verorten, nach einem Daheim angesichts eines „Außer Haus“ zu suchen und dabei für ihn selbst fast befremdlich festzustellen:
„Oft frage ich mich, warum mich ein ‚christlicher Instinkt‘ häufig mehr zu den Religionslosen als zu den Religiösen zieht, und zwar durchaus nicht in der Absicht der Missionierung, sondern ich möchte fast sagen ‚brüderlich‘“6.
Außer Haus daheim
Vielleicht ist die Kirche außer Haus daheim. Vielleicht wäre auf dieser Grundaussage eine Antwort auf die beiden Fragen zu suchen: Wohin soll sie sich hinwenden? Und was macht sie im Krisenkreis mit ihren geliebten Kindern?
Deswegen ein kleiner, aber eventuell wesentlicher Schritt weiter: Bei unseren wöchentlichen Bemühungen, einen bestimmten Bibeltext für die Gemeinde in die Gegenwart zu übersetzen, mache zumindest ich ab und zu die Erfahrung, dass diese „Übersetzung“ dann mir etwas zu Denkendes und zu Sagendes schenkt (ob das dann gelingt, ist etwas anderes), wenn in der „Gegenwart“ etwas von Gott neu aufleuchtet und dieses „Neue“ Bibel und Gegenwart miteinander verschmelzend miteinander sprechend macht. Wahrscheinlich ist dies eine hermeneutische (Stichwort: Horizontverschmelzung) Binsenweisheit, aber mir zeigt es etwas Elementares: Es (was immer es ist) ist nur in der Hinwendung in die Wirklichkeit zu finden.
Dies bestärkt mich, mehr dem inkarnatorischen Grundzug unseres Glaubens und unserer Theologie zu vertrauen, ein Vertrauen, das sogleich irritiert wird, das zum wirklichen Sich-Verlassen wird. Klassisch gesprochen und geglaubt: Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns. Die Inkarnation schafft aber für sich keinen Extrabereich außerhalb des „Fleisches“ und der Welt, sondern sie inkarniert sozusagen fortgesetzt und ist so ein vollkommen in der Welt geschehender Schöpfungsprozess. „Gott existiert nicht, er insistiert.“7
Die Inkarnation des Wortes kulminiert bzw. kommt zu ihrer absolut gebrochenen Vollendung am Kreuz. So würde die Frage nach der Hinwendung der Kirche zu einer sich ganz der Welt hingebenden Kreuzestheologie werden und sich nah an der Denkbewegung Paulus’ anlehnen wollen. „Außer Haus daheim sein“ könnte man dann – wenn der bisherige Weg denkbar ist – noch einmal anders „übersetzen“, vielleicht mit Worten aus einem Gedicht von Hilde Domin, ihrem Gedicht über Heilige:
„Die Heiligen in den Kapellen / wollen begraben werden, ganz nackt, / in Särgen aus Kistenholz / und wo niemand sie findet: / in einem Weizenfeld / oder bei einem Apfelbaum, / dem sie blühen helfen / als ein Krumen Erde.“8
Für mich hieße dies: Kirche müsste sich der Welt (wohlwissend, dass dies nur ein Ungefähres ist) zuwenden, in ihr sozusagen „außer Haus“ daheim sein, um dann dort (nackt!) – von Gott entborgen und geschenkt – sich und Gott, Gott und sich zu entdecken. Es hieße also: Vom Anderen der Kirche her sehen, wahrnehmen, denken, leben (und auch planen!). Doch: Wo kämen wir dann hin? Schließlich geht es um Einiges, um Vieles, zumindest um die Frage: Welche Kinder der Mutter Kirche sind aufzugeben?
Schwieriges Terrain
Um die „rechte“ Weltzugewandtheit der Kirche ringt jeder Kollege und jede Kollegin, denn nichts anderes passiert bei Taufgesprächen, bei einem Event für Jugendliche oder in der diakonischen Beratung. Theologisch firmieren die Versuche, das eigene Nachdenken und kirchliche Handeln viel stärker an der Welt auszurichten, unter dem Label „politische Theologie“ oder „öffentliche Theologie“, und immer geht es dabei auch um die Frage, wie greifen Deutung und Gestaltung von Kirche und Wirklichkeit/Gesellschaft (oder Theologie und Soziologie) ineinander, wieviel Differenzmomente bleiben und wieviel Anpassung bzw. Gestaltungsmöglichkeiten gibt es.
Ich vermute, dass jede Theologie oder jede kirchliche Hinwendung „ganz an die Welt“ mindestens vor zwei größeren Gefahren steht: dass auf der einen Seite man ganz in der Welt aufgeht und/oder die Rede von Gott sich verwässert oder dass auf der anderen Seite man ganz die Welt sich selbst anverwandelt und sie ohne jegliche Differenzmomente zu einer (seiner!) göttlichen macht. Vergröbert gesprochen drohen Verweltlichung oder Theokratie. Es wäre eine Verbindung von Kirche und Gesellschaft zu suchen, die versucht, beiden Gefahren nicht zu erliegen bzw. die eine Art christliche Gesellschaftstheorie entwirft, die Kirche und Gesellschaft stets in einem fruchtbaren und auch kritischen Zusammenhang sieht und setzt.
Aber auch „Halbherzigkeit“ könnte auf diesem Weg zur Gefahr werden. Wenn z.B. der gesellschaftliche Bezug/Auftrag auf ein Segment der Gesellschaft und dann auch der Kirche bezogen und reduziert wird, als ob es nahezu allein Aufgabe von Kirche wäre, zu den politischen Entscheidungsträgern Kontakt zu halten oder Einfluss auszuüben. Oder wenn gesellschaftliches Engagement der Kirchen primär als diakonische Aufgabe wahrgenommen wird und Diakonie zu so etwas wie der gesellschaftlichen Form von Kirche wird. Oder wenn politische Äußerungen der Kirche missverstanden werden als „nur“ parteipolitische Äußerungen. Fast immer geht es darum, wie vor allem von Innen das Tun nach Außen verstanden bzw. dazu in Relation gesetzt und eben dann auch bewertet wird. Den Denkweg „Außer Haus daheim“ aber weiterzuverfolgen, hieße konsequent andersherum zu „gehen“: Auf das „Außen“ zu hören, zu vernehmen, was dort als Erfordernis uns gegenübertritt, also wirklich sich vom Außen konstituieren zu lassen. Was sagt aber das „Außen“?
Äußerungen von außen
Die Stimmen sind natürlich so mannigfaltig wie das „Außen“ (und wir) es sind. Neben offener Ablehnung und Gleichgültigkeit gibt es nicht wenige Äußerungen von Außen, die implizit oder explizit ein Anforderungsprofil von Kirche erstellen. Dem muss man nicht Folge leisten, es ist aber für die Idee „Außer Haus daheim“ geboten, sich damit zu befreunden.
Jenseits der Allgemeinplätze, dass „die Kirche“ für eine menschliche, gerechte und auch nachhaltige Gesellschaft eintreten möge und hierbei vor allem auf dem kommunikativen und ethischen Feld etwas beitragen könne, und auch jenseits des Befundes aus der KMU, dass „die Gesellschaft“ vor allem die diakonische und öffentlich-politische Dimension von Kirche schätze und fast auch einfordere, sind (für mich) die Stimmen interessant, die der Kirche nicht dort eine Aufgabe zuschreiben, wo Gesellschaft in ihrem Vermögen endet, eine Grundlage außerhalb ihrer selbst braucht oder eine Lücke hat, sondern die selbstkritisch sind und sozusagen in sich selbst über sich hinaus weißen.
Für mich stellt der Künstler Dieter Froelich in seiner Skulptur, die in der Hannoveraner Marktkirche zu sehen war, die scheinbar genau richtige Frage für uns Kirche, versperrt uns (fast in jesuanischer Manier) aber eine einfache Antwort, im Sinne „Wir sind’s“:
„Doch wer tröstet wen in einer gottlosen Welt? Tröstet uns die Kunst? Bekehrt sie uns? Kann sie das überhaupt, wenn wir als Betrachter es doch sind, die den armen Künstler trösten durch die Caritas unserer Aufmerksamkeit?“9
Echter Trost ist bitter notwendig für unsere Gesellschaft. Ich denke mir, Kirche mit all ihren geistlichen und diakonischen Schätzen, könnte ihn wunderbar leisten. Sie kann aber nur dort geschehen, wo Kirche etwas betrachtet, was Trost spendet, aber dieses selbst nicht zu trösten unternimmt. Mit anderen und noch mal den Worten von Hilde Domin aus ihrem oben zitierten Heiligengedicht: „Denn wir essen Brot / aber wir leben vom Glanz.“ Von diesem Glanz soll nun versucht werden zu reden.
Vom Loben zum Bitten
Was mir vorschwebt als Weg der Hinwendung zur Welt, als Weg der Kirche „Außer Haus daheim“, ist nun kein „Königsweg“, als sei mit ihm alles gelöst. Es ist ein Gedanke, der anknüpft an vorherige Gedanken und der eher ein Bettlerweg ist, der demütig versucht, die „kreuzestheologische“ Ausrichtung durchzuhalten.
Sich mehr auf das Loben Gottes zu konzentrieren, dafür haben sich meine jüngst veröffentlichen Gedanken ausgesprochen.10 Dabei möchte ich gerne bleiben. Vielleicht ist das Lob die eigentliche und vorrangige Heimat der Kirche. Aber Loben ist nur ein Teil der christlichen Existenz, nur ein Teil des Lebens der Kirche.
Lob ist ein Teil des Gebets und das Gebet insgesamt ist der primäre Ausdruck unserer Existenz. Im Gebet offenbart sich uns Gott, führt er uns in sein Geheimnis und wir erleben und erfahren unseren eigenen Glauben und die Welt. Wir werden ergriffen und befreit, wir hören, schweigen, lassen los und bekommen neue Kraft, wir klagen, werfen Gott die Leiden der Welt vor und erbitten von ihm Veränderung zum Guten hin. Alle Formen des Lebens finden sich wieder im Gebet. Das fundamentalster aller Gebete, das Vaterunser „ist in seiner Summe die Vergegenwärtigung Gottes im menschlichen Leben.“11
Im Gebet findet die Wirklichkeit sozusagen einen göttlichen Widerhall: „Indem der Mensch Gott lobend als den anruft, als der er sich in der Geschichte erwiesen hat, eröffnet er der Gegenwart eine neue Perspektive: Gott vermag heute wie damals aus aussichtsloser Situation herausführen.“12 Da, wo Menschen das erfahren, wird das Lob Gottes zum das Leben neu beschreibenden Dank. Da, wo das Leben als unerfüllt, als ausständig und nicht als der göttlichen Wirklichkeitsbeschreibung angemessen erlebt wird, bittet der Beter und die Beterin um Veränderung der vorfindlichen Wirklichkeit, für sich und für andere. Lob und Dank münden in die Fürbitte.
Kontemplation und Kampf
Die Hinwendung zur Welt findet im Gebet eine ganz bestimmte Form, ja hier geschieht sie als Hinwendung zu Gott und beides fällt in eins, aber ohne die Differenzmomente zu „überspielen“, sondern sie sind lebendiger Bestandteil des Gebets. Wenn man das Gebet „aufteilen“ will, so stehen an den beiden Polen Lob und Bitte. In der Bitte spricht sich die Frage der Weltzugewandtheit und v.a. auch der Weltgestaltung besonders aus: Menschen bitten darum, dass „die Welt“ anders werde, mehr so, wie sie sie für Gott gemäßer halten. Da Gott es ist, der das Gebet annimmt und nach seinem Willen in Wirklichkeit überführt, wird das Gebet bzw. das Bittgebet nicht zur puren Weltgestaltung, sondern zur sozialen christlichen Praxis:
„Fürbittende Menschen zeichnen sich nach Simonis dadurch aus, dass sie die Vorgänge der Welt nicht nur distanziert betrachten, vielmehr ist ihre Existenz ‚die des Tunwollens, des Sich-zur-Verfügung-Stellens, damit der (…) Wille Gottes Wirklichkeit werden kann.‘ Die fürbittende Existenz ist also nach Simonis selbstloses Dasein. Tatsächlich muss der Akt der Fürbitte mit der Bereitschaft einhergehen, sich selbst – nach den spezifischen Möglichkeiten – für die Verwirklichung der Bitte bereitzustellen.“13
Kontemplation und Kampf, Brot und Rosen, gehören zusammen. Der bittende Mensch ist auch der handelnde, eine bittende Kirche ist diejenige, die sich ganz an die Welt gewiesen sieht und versucht, diese vor und durch Gott verwandeln zu lassen. Das Gebet der Kirche hat dabei verschiedene Orte, seinen vornehmsten im Gottesdienst, aber an so vielen anderen Orten. Zugespitzter: Beim eigenen Beten des uns vertrauten Morgensegen Luthers fühle ich mich oft gefragt, wie können ihn Menschen beten, deren Nacht im Bombenhagel oder in der Gewalt von Vätern und Müttern unterging: „Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, daß du mich diese Nacht vor allem Schaden und Gefahr behütet hast, und bitte dich, du wollest mich diesen Tag auch behüten vor Sünden und allem Übel, daß dir all mein Tun und Leben gefalle. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände.“ Wie können die, deren Nacht alles andere als heil vorüber ging, dafür noch „Danke für eine bewahrte Nacht“ sagen. Sie können es kaum oder nicht. Sie könnten es nur, wenn sie ihre so wirkliche und erlebte Wirklichkeit im Beten deuten, ja fast umdeuten, vielleicht anders interpretieren, eben sozusagen trotzdem als Leben in Gottes Hand. Deswegen ein letzter Schritt auf dem Weg weiter.
Hoffen und Sorgen
Beten ist Sprechen, sicher zum Teil auch ein performatives Sprechen, aber es ist weder ein vollständiges Konzept der Wirklichkeit als Gottes Wirklichkeit noch ist es Handeln an der Welt oder Weltgestaltung. Den Gefahren, in der Welt vollständig aufzugehen oder die Welt platt zu Gottes Welt zu machen, kann man vielleicht entgehen, wenn man Beten, Hoffen und Weltgestaltung zusammenbringt: Das eine ist, an der Welt mitzugestalten, politische oder bürgerschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Das andere ist aber, von der Hoffnung auf Gottes Wirklichkeit in der Welt beseelt zu sein. Das bedeutet nichts anders als darum zu bitten, dass sein Reich komme.
Hoffnung ist dabei nicht nur eine Lebenshaltung, sondern eine die Wirklichkeit prägende Vision einer ganz bestimmten Art der Wirklichkeit, die damit zusammenhängt und die innigst erhofft wird. Wer hofft, erhofft etwas ganz Bestimmtes, er oder sie ist ein Teil davon und er oder sie sehnt sich danach, dass diese Hoffnung Wirklichkeit wird, sie oder er wissen, dass dies Gottes Tat ist, dass sie darum bitten müssen, aber sie wollen genau diese Gestalt der Wirklichkeit. Oder: Sie leiden an einer anderen Gestalt der Wirklichkeit wie Kriege oder Zerstörung und setzen sich für deren Veränderung im Sinne Gottes ein. Hoffen bewahrt die oben erwähnte wichtige Differenz, aber eben auch das Ineinander zwischen Menschen- und Gottgestaltung.
So ist Hoffen die Form für christliche Weltzuwendung. In ihr finden Lob und Bitten zusammen als Haltung, Wirklichkeit mit gestalten zu wollen, zu sollen und zu müssen. Die Schwelle zum konkreten Handeln könnte der Begriff der Sorge übernehmen. Das schon in meinen ersten Gedanken zitierte Diktum von Eberhard Jüngel („Das Wesen des christlichen Glaubens ist Freude an Gott und deshalb Sorge für eine menschlichere Welt“) wird theologisch schon länger fruchtbar gemacht, mit dem Begriff der Verletzlichkeit und auch der Hoffnung verbunden und jüngst noch einmal mit gewisser Vehemenz vom Medizinethiker Giovanni Maio14 in ein griffiges und leidenschaftlich vertretendes (ethisches) Konzept gegossen. Hoffen entspringt vielleicht im Grund der Verletzlichkeit des Lebens und in der Sorge wird Hoffen zur konkreten Weltgestaltung.
Vielleicht sind Hoffen und Sorgen die beiden Seinsweisen der Weltzugewandtheit des christlichen Glaubens. Dabei könnte man die kirchliche Seelsorge (im engeren Sinne) weiter verstehen als allgemeine Arbeit an einer sich selbst und der Welt geltenden Sorgekultur. Vielleicht könnten sich alle kirchlichen Handlungsfelder darin wiederfinden und als Teil davon verstehen. Kirche wäre Gottes Gestalt der Sorgekultur für seine von ihm geschaffene und unbedingt zu bewahrende Welt, sie wäre creatio continua.
Für mich dabei entscheidend ist der mit dieser Sorgekultur einhergehende Gottesgedanke. Es ist imponierend und zugleich aus heutiger Sicht irritierend, wie nahezu unverblümt Bonhoeffer den Religionslosen mit Gott „kommt“: „… kann ich den Religionslosen gelegentlich ganz ruhig und wie selbstverständlich Gott nennen.“15 Es ist nur die Frage: Welcher Gott bzw. welcher Gottesgedanke genannt wird. Für Bonhoeffer ist es ein Gott, der „mitten in unserem Leben jenseitig“16 ist und es ist der leidende Gott, an dessen Ohnmacht wir gewiesen werden.17
Es gibt weitere und andere Versuche, den Gottesgedanken im Blick auf die Weltzugewandtheit noch einmal anders oder neu zu denken und zur Sprache zu bringen. Mit meinem eingeschränkten Zeithorizont kann ich diese nicht überblicken, geschweige in ihren Begründungen vollständig nachvollziehen.18 Was mich aber bei ihnen fasziniert ist der Versuch, Gott so ins Verhältnis zur Welt zu setzen, dass Gott wirklich in der Welt vorkommt, ohne in ihr aufzugehen, er rettet sie, indem er sie erlöst. Diese Reformulierung des Gottesgedankens und v.a. ihn im konkreten kirchlichen Handeln fruchtbar zu machen, halte ich für unbedingt notwendig, ja fast überlebensnotwendig für Kirche. Wir haben „Gott“ doch nicht zu Ende gedacht. Denn die aus meiner Sicht größte Gefahr (oder ist es eine Chance?) erwächst der Kirche aus einem Konzept säkularen Glaubens, der beides verbindet (auch nicht mit zu wenig Polemik gegen unseren Glauben): Einen veritablen Glaubensbegriff mit einem echten alternativen Konzept der Weltgestaltung, so wie es der schwedische Philosoph Martin Hägglung in seinem in diesem Jahr auf Deutsch erschienenen Buch mit dem bezeichnenden Titel „Dieses eine Leben! Glauben jenseits der Religion. Freiheit jenseits des Kapitalismus“ unternimmt.
In der Diaspora
Kehren wir aber von diesem weiten und dadurch auch sehr wagen Horizont zum Anfang zurück: Der Weg vom Loben zu Bitten, Hoffen und Sorgen löst das Problem der sich reduzierenden Ressourcen und das damit einhergehenden Probleme, an welchen Arbeitszweigen die Kirche sparen soll, nicht wirklich. Im gewissen Sinne verschärft er das Problem noch. Werden die Kinder der Mutter Kirche nicht noch stärker miteinander verbunden und sozusagen zusammengeschweißt?
Aber vielleicht ist das auch der Weg. Denn nicht nur die Ressourcen werden weniger werden, sondern die Kirche wird in unserer Gesellschaft eine Minderheitenkirche werden. Sie geht auf Diasporazeiten zu. Das heißt: Wir werden als Verstreute leben und die Frage nach der Heimat wird elementar werden. „Außer Haus daheim“ könnte darauf eine Antwortmöglichkeit sein. Vielleicht ist sie es schon immer für Diasporagemeinden.
Die zwei unbedingt zusammenzuhaltenden Pole könnten werden: konsequent nach Außen sich zu orientieren und nach Innen zusammenzuhalten. Wobei nie abschließend geklärt werden darf, was oder wer „Außen“ und „Innen“ ist, denn sonst ginge diese alles zusammenhaltende und fruchtbare Spannung verloren.
Volkskirche wäre unsere Minderheitenkirche dennoch, denn sie könnte sich die innere Freiheit bewahren, unabhängig von allen äußeren Dispositiven die Botschaft von der freien Gnade allem Volk auszurichten19, vielleicht könnte sie die Freiheit sogar steigern und im umfassenden Sinne inklusiv sein. Sie könnte – der eigenen Macht sozusagen entäußert – eine Aufgabe für die Gesellschaft übernehmen, die gerade in Krisenzeiten einen „Spalt“ eröffnet, in dem die immer stärker erlebte Ohnmacht, Bedürftigkeit und Verletzlichkeit der Menschen und des Miteinanders einen göttlichen und heilsamen Raum in ihr gewinnen könnten.
Parochiale und nicht-parochiale Dienste
Nach Innen gesehen müsste – gerade angesichts der weniger werdenden Ressourcen – der seit Mitte der 1960er Jahre schwelende und nun teilweise wieder ausgetragene Konflikt zwischen parochialen und nicht-parochialen Diensten, zwischen Ortsgemeinde und Funktionsgemeinden, zwischen Gemeindepfarramt und Sonderpfarramt ausgetragen werden. Dieser Konflikt kann nicht theologisch gelöst werden.20 Es wird keine theologische Kriteriologie geben, die Kirchenleitungen und Synoden befähigt, inhaltlich zwischen verschiedenen Diensten (im obigen Sinne: Kindern) in der Kirche zu scheiden, die einen auf- und die anderen abzuwerten und so Entscheidungen für die einen und gegen die anderen zu treffen. Alle Versuche dieser Art werden scheitern, fahl schmecken, Unverständnis oder merkwürdigen Beifall ernten.
Der Auftrag der Kirche ist unteilbar und so haben alle, die ihn ausführen, gleichermaßen Anteil an ihm. Auch die obigen Überlegungen im Blick auf den Gedanken „Außer Haus daheim“ gehen davon aus bzw. zeigen dies. So werden andere Kriterien maßgeblich werden, und es zeigt sich jetzt schon, dass es wohl eher die nicht-parochialen Arbeitsfelder treffen könnte. Das ist im Blick darauf problematisch, ob die Kirche in sich das wichtige Potential der Weltzugewandtheit lebendig halten kann. Es darf nicht passieren, dass die Kirche eine Ader ihres eigenen Lebens sich abschneidet. Die Kirche braucht auch Orte, Formen und Dienste, die dazu berufen sind, ganz „Außer Haus daheim zu sein“, sich ganz der Weltzugewandtheit, dem Hören auf das Außen, dem ungesicherten Beten und dem Tun des Gerechten zu verschreiben, ja sich hier zu riskieren.
Natürlich: So wenig wie ein einfaches Rasenmäherprinzip beim Versuch, mit weniger Ressourcen auszukommen, hilft, so wenig ein Gegeneinander-Stellen der kirchlichen Dienste. Um bei dem Bild der Mutter Kirche mit verschiedenen Kindern und dem kaukasischen Kreidekreis zu bleiben: Kinder bleibend gewinnen kann eine echte Mutter wohl nur durch Loslassen. Ein Machtkampf schadet den Kindern. Loslassen bedeutet aber wohl Freisetzen (vielleicht auch finanziell) und (in meiner obigen Diktion) sich der Welt damit radikaler zuzuwenden. Und das könnte für alle Dienste in der Kirche gelten. Das könnte Maßgabe für Ressourceneinsatz werden.
Aber wichtiger als der Blick auf Ressourcen und wichtiger denn je wäre in der Diasporasituation sich aufeinander zu beziehen, sich gegenseitig den Wert anzuerkennen und zu sehen, dass die Dienste gegenseitig sich ergänzen, stellvertretend füreinander handeln und nur so gemeinsam kirchliches Handeln sind. Dieses Gemeinschaftsgefühl, das sich nicht aus einem Innen speist, sondern in der gemeinsamen Angewiesenheit auf Außen sich lebendig hält, darf aber nicht nur Theorie sein, sondern hat dort seine Potentiale, wo es „in der Praxis“ lebendig werden kann. Für mich ist da das Bild von zwei Herzkammern des einen Herzens motivierend: Die beiden Grundformen des kirchlichen Dienstes, parochiale und nicht-parochiale Dienste, sind zwei Kammern eines Herzens, die es benötigen, zusammen als Herz zu schlagen und damit nach Außen, zum Körper (Welt), hin das Blut zu befördern und „Gott“ lebendig zu halten. Die schöne Beschreibung für christliches Beten „Du bist der Atem, wenn ich zu dir bete“21 würde wunderbar zu diesem kirchlichen Lebensrhythmus passen.
Der Pfarrberuf als Resonanzraum
Im Blick auf den Pfarrberuf weiten sich im Moment die Horizonte, sozusagen nicht ohne Knirschen und mit viel (zusätzlicher) Arbeit. Die in den Dienstgruppen ermöglichte Spezialisierung ist nach Innen gesehen eine Profilierung nach Talenten, nach Außen gesehen eine stärkere Weltzugewandtheit und damit gut verknüpfbar mit (Funktions-)Diensten in der Kirche, die sich dieser besonders verschreiben und davon zehren, dass ihr Bitten im Loben anderer an Gott rückgekoppelt wird. Ich glaube, wir brauchen einander.
Vielleicht hat Karl Rahner mit seinem strapazierten Diktum, dass die Christen und Christinnen in Zukunft Mystiker und Mystikerinnen sein werden, nicht unrecht. Das gilt wohl auch für uns Pfarrerinnen und Pfarrer. Es könnte in Zukunft Gottesmänner und Gottesfrauen brauchen, die es wagen ganz in der Welt zu Hause zu sein, um dort selbstvergessen Gott zu suchen, ihn zu loben und für die Welt zu bitten. Gottesmänner und Gottesfrauen sind für mich so etwas wie lebendige, mit theologischer Erfahrung erfüllte Resonanzräume, die die Begegnung mit Gott im Vor- und Nachhinein versuchen zu erschließen. Vieles wird im Verborgenen geschehen. Da die Menschen, mit denen sie zu tun haben werden, (im Sinne von Bonhoeffers Suche) religionsloser sein werden, wird es darauf ankommen, wie sehr oder gut wir „außer Haus daheim“ sein können. Das wird schwierig werden. Eine Voraussetzung wird sein, außer Haus zu gehen. Die große Chance ist, „außer Haus“ bei den Menschen zu sein und deren Leben in seinen vielfältigen Verortungen gemeinsam mit Gottes Leben, das wie Christus in der Fremde auch dort ist, zu verknüpfen.
Anmerkungen
1 Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Bild der Mutter mit ihren Kindern ist kein Bild für die Kirche an sich; dafür taugt es nicht wirklich. Es soll eher ein Bild sein für die weltliche finanzielle „Lage“ der Kirche.
2 Vgl. Milo Rau: Die Rückeroberung der Zukunft. Ein Essay, Hamburg 2023, 22ff.
3 Xaver Bayer: Poesie, Salzburg 2023, 6.
4 Siehe meine Überlegungen zur Transformation unserer Kirche in: DPfBl 12/2023, 750-752.
5 Vgl. z.B. Axel Denecke: Das Leben nicht-religiös interpretieren. Bonhoeffers „nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe“ – im 21. Jahrhundert, zu finden auf seiner Homepage: www. axeldenecke.de, abgerufen am 13.6.24.
6 Zitiert nach der „alten“ Ausgabe von „Widerstand und Ergebung“ (Siebenstern Taschenbuch Verlag, München 1951), 134.
7 So der „Hauptsatz“ des US-amerikanischen Theologen John C. Caputo in seinem nun auf Deutsch erschienen Buch: Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten, München, 2. Aufl. 2022.
8 Aus: Hilde Domin: Nur eine Rose als Stütze. Gedichte. Frankfurt/M. 1994.
9 Vgl. http://www.dieterfroelich.de.
10 S. Anm. 4.
11 Dietrich Korsch: Dogmatik im Grundriß, Tübingen 2000, 235.
12 Dorothee Mann: „Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete“. Elemente einer christlichen Theologie des Gebets, Würzburg 1998, 150. Vgl. dazu auch: Doris Hiller: Konkretes Erkennen. Glaube und Erfahrung als Kriterien einer im Gebet begründeten theologischen Erkenntnistheorie, Neuenkirchen-Vluyn 1997.
13 Ebd., 88.
14 Vgl. Giovanni Maio: Ethik der Verletzlichkeit, Freiburg i.Br. 2024.
15 Widerstand und Ergebung, a.a.O., 134.
16 Ebd., 135.
17 Vgl. ebd., 178.
18 Vgl. John D. Caputo, a.a.O.; Gregor Maria Hoff: Glaubensräume – Topologische Fundamentaltheologie. Bd. II/1: Der theologische Raum der Gründe, Ostfildern 2021; Jan-Heiner Tück: Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation, Freiburg i.Br. 2020; Hans-Joachim Sander: Glaubensräume – Topologische Dogmatik. Bd. 1: Glaubensräumen nachgehen, Ostfildern 2019; Catherine Keller: Über das Geheimnis. Gott erkennen im Werden der Welt. Eine Prozesstheologie, Freiburg i.Br. 2013; Ina Praetorius: Gott dazwischen. Eine unfertige Theologie, Ostfildern 2008; Hans-Joachim Sander: Einführung in die Gotteslehre, Darmstadt 2006.
19 So bekanntermaßen die Barmer Theologische Erklärungen in ihrer VI. These.
20 Vgl. Eberhard Hauschildt/Uta Pohl-Patalong: Kirche. Lehrbuch Praktische Theologie Bd. 4, Gütersloh 2013, 271, und Jan Hermelink: Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011, 160ff.
21 So z.B. festgehalten in EG 382, 3.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2024