Christlicher Glaube ist – zumindest in Europa – umstritten, ja, auf dem Weg in die Marginalität. Damit wird die Frage nach seinem Proprium aufgeworfen. Christian Ferber bringt in diesem Zusammenhang die Redewendung vom „eingebildeten Glauben“ ins Spiel, in all seiner Oszillation verschiedenster Bedeutungsvarianten, die er keineswegs für verwirrend, sondern im Gegenteil für höchst produktiv hält.
Dass christlicher Glaube und kirchliche Wirklichkeit herausgefordert sind, insbesondere in Europa, gehört zum unbestreitbaren basso continuo unserer Tage. Viele pessimistische Problemanzeigen (zuletzt die neueste Mitgliedschaftsstudie der EKD) pflastern diesen Weg, viele empirische (z.T. aufgezwungene) Reformen in den Landeskirchen zeugen von einem in Etappen vollzogenen, schwierigen Rückbau der eigenen kirchlichen Präsenz in Städten, Dörfern und Einrichtungen. „Quo vadis ecclesia“ – wohin des Wegs? Aus anthropologischer Perspektive wird diese Frage notgedrungen offen und vage bleiben müssen.
Viele Pfarrpersonen, Gemeindepädagogen und Kirchenmusikerinnen stemmen sich im Zusammenspiel mit Ehrenamtlichen vor Ort unbeirrt und kreativ gegen diesen breiten Säkularisierungsstrom, feiern Teilerfolge und spüren gleichzeitig oft genug, wie mühsam und kräftezehrend die Arbeit „gegen den Strom“ ist. Umso mehr stellt sich dann in diesem herausfordernden Setting die dringliche Frage danach, um es in Worten des kanadischen Philosophen Charles Taylor zu sagen, was denn die „Quellen des christlichen Selbst“ in diesen rauen Zeiten sind und es auch verlässlich bleiben?
In dieser Flucht sind die folgenden drei semantischen Variationen zum Thema des „eingebildeten Glaubens“ zu verstehen. Die Wendung oszilliert und schillert semantisch in vielen Farben und vielleicht noch mal verschärft unter den religionskritischen Hörvoraussetzungen vieler Zeitgenossen. Das ist gut so! Denn nur so werden empirische bzw. idealistische (oder gar ontologische) Festschreibungen im offenen Feld der Kritik vermieden. Nur so wird genau jener sprachexistenzielle Spielraum eröffnet, der neue modale Figuren der creatura verbi divini möglich macht.
1. „eingebildet“ – zwischen religiöser Folklore und religionsästhetischem Elitismus
Das Sujet Religion und christlicher Glaube wird heute einer breiten Öffentlichkeit meistens und oft ausschließlich medial zugänglich. Es wird selten aktiv gesucht, es begegnet viel öfter zufällig. Was früher noch zu einem der zentraleren Konstitutionselement von Öffentlichkeit gehörte, hat sich zu einer leisen Nebenfrequenz im unübersichtlichen wie sich stets neu überschlagenden Informationsrauschen der Medienwelt reduziert.
Religion wird vornehmlich kritisch rezipiert im Feld schwieriger politischer Einmischung oder sozialethischer Verfehlungen. Vor allem aber wird Religion und Glaube immer noch oft genug von einem (naiven) naturwissenschaftlichen Positivismus gestellt, da hat sich seit den geistesgeschichtlichen Formationen und Frontverläufen des 18. Jh. leider wenig getan. Und auch die Projektionskritik feuerbachscher Provenienz feiert in diesem Zusammenhang in psychologischen, kulturellen und sozialen Dekonstruktionen mannigfaltigen fröhlichen Urstand in allen geisteswissenschaftlichen Farben und Spielarten.
Insofern changieren die Wahrnehmungs- und Rezeptionshorizonte von Religion, Kirche und christlichem Glauben zwischen religiöser (abstruser) Folklore, oder – wenn es etwas besser geht – ominöser Arkandisziplin, die nur wenigen religionsästhetischen Eliten zugänglich ist. Am Ende aber bleibt das Ergebnis gleich: Ob religiöse Folklore oder elitäre Arkandisziplin – der volkskirchliche, in eine breitere Öffentlichkeit zielende Impetus von Religion und christlichem Glauben schwindet dahin wie schmelzendes Eis in der hellen Sonne eines vornehmlich säkularen Gegenwartshedonismus. Dieser Trend prägt unsere Epoche insbesondere in den westlichen Hemisphären eminent. Selbst die handfesten Krisen unserer Tage führen zu keiner nennenswerten Trendwende. Das Sprichwort stimmt einfach nicht mehr: Not lehrt nicht beten.
2. „eingebildet“ – passive Eröffnungen im Akt der Zeit
Diese Gegenwartsanalyse ist wahrlich nicht neu und wurde schon vielfältig intellektuell bearbeitet. Ein schwieriger Acker bleibt es trotzdem. Aber wo der Pflug der Zeit grobe Schollen in einer liebgewonnenen Ebene kirchlicher Wirklichkeit neu, eruptiv und konstant aufreißt und herausfordert, da entsteht auch Neues im Graswurzelwirken jenes eminent lebendigen Geistes Gottes, den wir als inneres Wesen von Glauben und Kirche verstehen und der uns und die Welt von der eschatologischen Zukunft Gottes her in Atem hält.1
Ja, Feuerbach ist nicht zu widersprechen. Aus anthropologischer bzw. empirischer Perspektive kann der Glaube leicht als „eingebildet“ dekonstruiert werden, als religiöse Halluzination, Fata Morgana oder als psychodynamisches Sehnsuchtskonstrukt angesichts der Widrigkeit des Wirklichkeitserlebens. Was aber Feuerbach in seiner aktivistischen und letztlich einer idealistisch verhafteten Erkenntnistheorie seiner Zeit im Wort „Einbildung“ übersehen hat, ist deren passive Spielart als – „Ein-Bildung“. Das (Erkenntnis-)Subjekt ist als in eine menschliche Lebensbewegung eingebetteter Akt nicht beständig vorgängig und auch in seinem Selbstbezug nicht ausschließend rekursiv. Wer da was, warum und wie schlüssig erkennt, ist gerade in (mitunter überraschenden) Sinn-Selbst-Erstattungen nicht ausgemacht und schon gar nicht beständig kontrolliert. Bereits die stratographischen zeitlichen Ablagerungen im lebenslangen Erkenntnisvollzug des Menschen machen das wenig plausibel, dafür steht kaum eine Disziplin so sehr Pate wie die Psychoanalyse. Das einfache, referentiell gedachte Ich der Erkenntnistheorie erkaufte insofern seine eminente Leistungskraft zum Preis einer letztlich unstatthaften Vereinfachung bzw. Reduktion. Und genau darum ist Einbildung im religiös kreativen Selbstverhältnis kein ausschließlich aktivistischer Vollzug eines kontrollierenden oder setzenden Erkenntnis-Ichs.
Man muss also gar nicht unbedingt direkt biblisch rekurrieren, wo im 1. Korintherbrief der Mensch metaphorisch als „Tempel des Geistes“ profiliert wird,2 um die Offenporigkeit der menschlichen Existenz hinsichtlich ihrer Selbstkonstitutionen zu erfassen. Menschliche Existenz in leiblicher Verfasstheit ist vielmehr in jeglicher Hinsicht – ob geistig, seelisch oder körperlich – immer auch impressional empfänglich.3 Eine feingliedrige phänomenologische Analyse der Einbildung, die ja auch in Kants Kritik der reinen Vernunft letztlich ein geheimnisvoller Vermittlungsakt zwischen Ideellem und Sinnlichem im Vollzug der Apperzeption bleibt, wird also immer ein großes Spektrum zwischen aktiven, passiven und intermediären Setzungen bzw. Vermittlungen umfassen.
Darum ist auch die passive Alternative der Einbildung denkbar und faktisch im Alltagserleben wirkmächtig: Etwas bildet sich mir ein, wird vielleicht sogar erst später evident, und ich kann nicht (immer) sagen wieso und woher. Das Moment der Unverfügbarkeit im passiven Einbildungsakt findet aber existenzial gesprochen in der Zeit sein Ermöglichungsfeld. Gerade als in die Zeitlichkeit gehaltenes Wesen ist der Mensch auf eine „Zu-Kunft“4 hin orientiert, die ihm letztlich ein „Entgegenkommen“ ist und die er darum nur erleben und erfahren darf, aber nicht vorwegnehmen kann. Die Zeitlichkeit entäußert also den Menschen „nach vorne hin“, wo sich sein intentionales aktives „Woraufhin“ nicht mit dem passiv zu erfahrenden „Wovonher“ der „Zu-Kunft“ deckt. Biographische Brüche, 180-Grad-Kehrtwenden im Leben, schleichende Haltungsverschiebungen – sie alle zeugen in graduellen Abstufungen von dieser innovativen Veränderungskraft der Zeit als Zu-Kunft, die dem Menschen als Mögliche entgegenkommt. Die Einbildung ist dann in diesem Zusammenhang einer der wichtigsten existenzial-heuristischen Neuerungen, zu der der Mensch geistig, seelisch wie körperlich geführt wird. Sie ist „Eröffnung“ in der Zeit im wahrsten und tiefsten Sinne des Wortes und kann ein ganzes Leben prägen.
3. „eingebildet“ – von Tradition, Sitte und Neuanfängen
Die dritte semantische Dimension der Einbildung führt zu ihrer iterativen Dimension. Religion war und ist nie nur das geistlich-instantane (Erweckungs-)Erlebnis eines Individuums, sondern findet vielfältige Formen und Weisen der Einbildung ins Menschliche. Das „Sich-Einüben“ und das „Sich-Einfinden“ in eine religiös-volkskirchliche Situation, wie sie Europa über viele Jahrhunderte geprägt hat, wird quantitativ betrachtet wohl den größten Anteil an den unterschiedlichen religiösen Partizipationsfiguren ausmachen. Durch Familie und Sozialverband hat sich dieser „Einübungsprozess“ in mannigfaltiger Weise in Tradition, Sitte und Brauchtum stabilisiert und erhärtet. Der traditionelle Gottesdienstbesuch, das nach Brauchtum gestaltete Feiern christlicher Feste im Jahreszyklus, aber auch eingeübte, religiöse ethische Verhaltens- und Kommunikationsmuster sind an dieser Stelle zu nennen – und es gibt sicher viel mehr dieser Alltagsformen von Religiosität, die in der Fläche betrachtet nicht grundständig hinterfragt wurde. „Man“ hat das halt so gemacht.
Diese Form der Einbildung über eingeübtes Brauchtum und Sitte erzeugte in der Folge eine mehr oder weniger feste Haltungs- und Handlungsmatrix. Das Kirchenjahr wurde so zu einem religiösen Orientierungs- und Gestaltungsrahmen, der für die eigene individuelle Lebensführung Bedeutung gewann.
Wenn dies aber gilt, dass Religion in großen Stücken auch über eingebildete Traditions-, Denk- und Handlungsmuster vermittelt wurde, ist dies zunächst ein prekärer Befund für die Gegenwart. Denn genau diese religiösen Bindungsmuster – Brauchtum, Sitte und Tradition – verlieren in unserer Zeit zunehmend ihre Bindungs- und Orientierungskraft. Die Familie ist heute immer weniger der Ort, wo religiöses Einüben (vom Tischgebet bis hin zur pädagogischen Vermittlung christlicher Inhalte) stattfindet. Auch die volkskirchliche Präsenz in Dörfern und Städten ist auf dem Rückzug. Die regelmäßigen Kontaktflächen mit vollzogener Religion werden dadurch immer kürzer und marginaler und beenden zunehmend religiöse Selbstverständlichkeit in Denk- und Handlungsmustern. Das Christentum ist kein Selbstläufer mehr, weil es immer weniger im kulturellen Selbsterleben der Gesellschaft präsent ist.
Diese kritische Analyse ist aus meiner Sicht aber zugleich eminent hilfreich! Denn sie bewahrt vor einem an vielen Orten anzutreffenden kirchentheoretischen Erlösungsglauben, der so manches Mal in der kirchlichen Landschaft vorzufinden ist: Man muss sich nur anders aufstellen, Dekanate neu ordnen, Zuständigkeiten professionalisieren, mittlere oder höhere Ebenen stärken – die Zahl der kirchentheoretischen Reformvorschläge sind Legion. Nicht selten wurde lakonisch gesagt: Die Kirche leidet an „Reformitis“.
Theologisch oder ekklesiologisch gewendet wird damit aber zugleich die „Gesetzlichkeit“ bzw. „Machbarkeit“ des eigenen Erneuerungserfolgs abgeschnitten. Weder in Gottesdienstreformen, Sprengel- oder Dekanatsneuaufstellungen, oder professionalisierten Pfarrteams liegt die Kraft zu einer nachhaltigen Wende. Um nicht falsch verstanden zu werden: natürlich müssen Landeskirchen strukturell auf schwindende Mittel und Mitglieder reagieren. Dennoch scheint es mir schon seit vielen Jahren eine (zu) starke Konzentration auf kirchentheoretische (und damit scheinbar „machbare“) Aspekte zu geben. Es zeigt sich aber: Der Säkularisierungsstrom der Gegenwart ist demgegenüber viel zu stark und vielgestaltig. Die redlichen Reformbemühungen haben das Ruder nicht herumgerissen. Und es wird deutlich: Die geistliche Wende ist gerade nicht zu managen.
Darin liegt aber eine ungeheure Befreiungskraft! Denn wenn die Kirche in ihrer geistlichen Dimension letztlich creatura verbi divini ist, wenn sie einen pneumatologischen Ursprung auch ihre Zukunft nennt, dann wird auch ihr empirisches Fortbestehen in der Kraft des Wirkens jenes Geistes bestehen, den wir mit dem Pfingstfest als Ursprungsgeschehen feiern. Die Kirche ist im Letzten Gottes Angelegenheit.
„Geistliche Ein-Bildung“ ist darum die letzte semantische Dimension, die in sich das große Verheißungspotential trägt, dass wir uns um die Kirche als Vehikel und Gefäß keine Sorge machen müssen. Aus protestantischer Sicht war und ist sie ja nie mehr als das – Gefäß und Vehikel. Sicher, wir dürfen und müssen dabei unterschiedliche Formen und Größen immer wieder erproben. Gefüllt im Sinne eines mannigfaltigen geistlichen Lebens wird sie aber von woanders her. Dieses pneumatologische Prae gilt, unverrückt und über alle (säkularen) Zeiten hinweg. Mag gut sein, dass die gegenwärtig bekannte Form der verfassten empirischen Kirche auch zukünftig einem gewaltigen Transformations-, Umformungs- und Abbauprozess ausgesetzt sein wird. Aber doch, um sich immer wieder nur zu wandeln und neue Anfänge und Aufbrüche im Graswurzelwirken des Geistes zu erleben.
Ja, wir werden – wie in den ersten Anfängen der Kirche – immer nur einige neu gewinnen und berühren. Aber „Ein-Bildung“ findet fruchtbar und wertvoll immer neu statt, auch wenn die dekonstruktiven Verstehenshorizonte der „Einbildung“ uns als irdischer basso continuo immer begleiten werden und vielleicht auf ihre Weise vor allzu selbstsicherer christlich-ideologischer Attitude bewahren. Sie machen deutlich: Christlicher Glaube ist immer auch ein Wagnis, eine pneumatologische Wette, wenn man so will. Aber ich bin fest davon überzeugt: Der Einsatz lohnt – gegenwärtig wie zukünftig! Weil er auf Gott setzt, den „eingebildeten“ – den Christus incarnatus.
Anmerkungen
1 Siehe Moltmann, Jürgen: Theologie der Hoffnung, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 200514, 149.
2 1. Kor. 6,19: „Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört.“
3 „Der affektive, ‚impressionale‘ Charakter der Impression […] verweist auf ihre innerste Möglichkeit, auf ihre Zugehörigkeit zu einem Fleisch, zur pathischen Selbstoffenbarung desselben im Leben.“ – siehe Henry, Michel: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 20042, 103.
4 „Die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit, das heißt die Einheit des ‚Außer-sich‘ in den Entrückungen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Seiendes sein kann, das als sein ‚Da‘ existiert.“ – siehe Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag Tübingen, Tübingen 199317, 350.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2024