Mit der Aufklärung des 17. Jahrhundert begann eine Krise der Theologie, die bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist. Beunruhigend darin ist aber der permanente Anpassungsdruck an den modernen Zeitgeist, dem sich die Theologie seither unterworfen hat. Demgegenüber fordert Rigobert Donner eine selbstbewusste Theologie ein, die ihr Reden von Gott nicht schüchtern versteckt, sondern dem vermeintlich mündigen Menschen der Gegenwart polemisch entgegenhält.

 

Zur Krise der Theologie

Seit Beginn der sogenannten Aufklärung befindet sich die Theologie in einer Krise und es ist ihr bis heute nicht gelungen, diese Krise zu überwinden. Allzu schüchtern hat sich die Theologie – im Mittelalter noch die Krone der Wissenschaften – in eine Ecke drängen lassen, aus der sie sich nur durch Anpassung an den Zeitgeist glaubte befreien zu können. Dabei machte sie allerdings oft Zugeständnisse, die weit von der Mitte der Theologie – nämlich von Gott – wegführten und die diese Mitte zugleich unmöglich machte. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist heute die Auflösung der Theologie in Anthropologie, in der vornehmlich humanistische teils auch marxistische Jesusbilder gezeichnet werden.

Dieser Aufweichungsprozess der Theologie begann mit Feuerbach und fand seine Fortsetzung zum Beispiel bei Philosophen und Theologen wie Bloch und Sölle. Wenn seit Feuerbach nicht mehr glaubhaft gemacht werden kann, dass Gott keine Projektion des menschlichen Verstandes ist, wenn seit Kant jede Metaphysik erledigt ist und wenn seit Nietzsches Proklamation, dass „Gott tot sei“, die Existenz Gottes schlechthin in Frage steht, dann ist es sicher nur allzu verständlich, wenn in der Theologie alles Gewicht auf den historischen Menschen Jesus von Nazareth geworfen wird, auf sein Leben, Lieben, Leiden. Verständlich, wenn versucht wird zu retten, was zu retten ist. Nur, wenn Theologen der Meinung sind, damit – und das heißt mit Jesu Leben, Lieben, Leiden als die einzig mögliche christliche Orientierung – könne sich die Theologie in der Neuzeit behaupten und diese zugleich überleben, unterliegen sie einem gewaltigen Irrtum, denn sie tragen dazu bei, das Wesen des christlichen Glaubens endgültig zu verschleiern. Sie versperren den Weg zu einer Neuorientierung innerhalb der Theologie, die zu einem Genesungsprozess der Theologie führen könnte und ihr die Kraft zurückgeben würde, sich wirksam mit dem modernen Zeitgeist auseinandersetzen zu können.

 

Die Aufgabe der Theologie

Innerhalb der Theologie ist eine Neuorientierung vonnöten und diese Neuorientierung beginnt schon bei der Frage: Was ist Theologie? Theo-logia ist die Rede von Gott. Und diese Rede hat eben primär Gott zum Inhalt. Für die Theologie kann nur gelten: Gott ist! Gott handelt! Die Theologie hat von diesem Gott zu sprechen und zwar nicht spekulativ1, sondern bekennend gemäß der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus. Eine Theologie, die ihre Voraussetzung in Frage stellt, führt sich selbst ad absurdum. Das Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ darf niemals vereinseitigt und losgelöst werden von dem Gebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken.“2 Die Theologie hat sich heute wieder auf diese Liebe zu Gott zu besinnen. Indem das Doppelgebot der Liebe zerbrochen wird und alles Gewicht auf das zweite Gebot geworfen wird, weil das erste Gebot sich nur schwer oder gar nicht mit dem modernen Zeitgeist vereinbaren lässt, findet genau die Auflösung der Theologie in Anthropologie statt, von der eingangs die Rede war. Die Theologie wird diese Auflösung und Gewichtverschiebung von Gott auf den Menschen auf die Dauer nicht hinnehmen können.

Aber wie weit sind wir von einer Neuorientierung innerhalb der Theologie entfernt, wenn immer noch die Behauptung im Raum steht, dass Gott tot sei, und dass demnach nur noch eine „Theologie nach dem Tode Gottes“ betrieben werden könne oder eine „Gott-ist-tot-Theologie“ wie sie in den Vereinigten Staaten von Theologen wie Altizer, Hamilton und anderen entwickelt worden ist. Die Krise der Theologie seit Beginn der sog. Aufklärung hat in der Tat ihren Höhepunkt gefunden mit der Behauptung, dass Gott tot sei. „Viele Größen sind im Verlauf der Aufklärung gestürzt. Der höchste und größte Gegenstand aber war Gott. Weil er am größten war und am höchsten stand, darum musste er auch am tiefsten stürzen.“3 Es kann heute in der Theologie nicht darum gehen, den Beweis zu erbringen, dass Gott lebt – das ist genauso unmöglich wie der Beweis, dass Gott tot ist –, sondern es geht heute in der Theologie darum zu zeigen, warum eine Theologie ohne diese Arbeitshypothese „Gott“ ein theologisch schier unmögliches Unterfangen ist.

Eine „Theologie nach dem Tode Gottes“, die seit den 1960er Jahren bis heute in der Theologie nachwirkt und noch längst nicht überwunden ist, ist für die Zukunft einer verantwortungsbewussten, redlichen und bekennenden „Theo-logia“ keine mögliche Alternative.

 

Eine „Gott ist tot“-Theologie als Antwort?

Erteilen wir Nietzsche das Wort zu dieser Sache: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?“4 Nietzsche hat den Ernst der Sache begriffen, um den es hier geht. Er proklamiert den Tod Gottes, aber er bleibt dabei nicht stehen. Unverblümt werden Konsequenzen sichtbar gemacht, die sich aus dem Tode Gottes ergeben: „Müssen wir nicht selber zu Göttern werden …?“ Und in der Tat wird für Nietzsche durch den Tod Gottes der Weg zum Übermenschen frei. Der Übermensch tritt an Gottes Stelle.

Für eine bekennende Rede von Gott sind sowohl die Proklamation des Todes Gottes als auch die daraus resultierenden Konsequenzen unannehmbar. Ein „Atheistisch an Gott glauben“5 beinhaltet, „dass der Mensch ein Leben führen kann, das ohne die supranaturale, überweltliche Vorstellung eines himmlischen Wesens auskommt, ohne die Beruhigung und den Trost, den eine solche Vorstellung schenken kann, eine Art Leben also ohne metaphysischen Vorteil vor den Nicht-Christen, in dem trotzdem an der Sache Jesu in der Welt festgehalten wird.“6 Das ist für die Theologie insofern unmöglich, weil hier das Göttliche in Jesus Christus ausgeblendet wird. Hier wird nicht nur eine Gottesvorstellung zu Grabe getragen und Metaphysik grundsätzlich in Frage gestellt, sondern hier wird jede Möglichkeit, die über „Allzumenschliches“ hinausführt, unmöglich gemacht.

Man muss sich vorstellen, was für die Theologie in diesem Fall übrigbleibt: ein humanistisches oder marxistisches Jesusbild. „Jesus, ein Rebell der Liebe“7, wenn das alles ist, was Theologie zu bieten hat, ist sie wahrlich hinfällig geworden, denn um einen Liebeshelden zu propagieren braucht nicht unbedingt auf Jesus von Nazareth zurückgegriffen zu werden. Erinnern wir uns an die Zeit des Nationalsozialismus, an jenen Arzt im Warschauer Ghetto, der freiwillig mit jüdischen Kindern in den Tod ging. Rebellen der Liebe gab es, gibt es und wird es in jeder Geschichtsepoche der Menschheit geben. Die Theologie aber steht und fällt mit dem Bekenntnis: Jesus Christus – vere Deus et vere Homo!

 

„Entmythologisierung“ ist keine Lösung

Es gab nun auch im 20. Jh. eine Reihe von ernstzunehmenden Versuchen, die Theologie für den modernen Menschen fruchtbar zu machen und damit die Krise der Theologie seit Beginn der sog. Aufklärung zu überwinden. Hier sind Bonhoeffers „Nichtreligiöse Interpretation der biblischen Begriffe“ zu nennen, Tillichs Gedanken zum „Neuen Sein“ und nicht zuletzt Bultmanns „Programm der Entmythologisierung des Neuen Testamentes“.

Greifen wir als Beispiel Bultmann heraus: Man darf bei aller, oft von Kirchenseite aus erhobenen Kritik an Bultmann nicht vergessen, dass es ihm letztlich darum ging, die Bibel für den modernen Menschen fruchtbar zu machen, und zwar in der Weise, dass der moderne Mensch vom anredenden Kerygma der Bibel betroffen wird und eben durch das anredende Kerygma von seiner uneigentlichen Existenz zu seiner eigentlichen Existenz gelangt. Das Kerygma der Bibel wird aber nicht zum anredenden Kerygma, solange das mythologische Weltbild der Bibel – ein Weltbild mit den drei Stockwerken: Himmel-Erde-Hölle – dieses Kerygma verdeckt.8 „Der moderne Mensch kann diese mythologischen Vorstellungen von Himmel und Hölle nicht mehr annehmen, denn für das wissenschaftliche Denken hat ein Reden von ‚oben‘ und ‚unten‘ im Universum jede Bedeutung verloren“.9

Bultmann trifft nun in seinem theologischen Ansatz die grundlegende Unterscheidung zwischen dem neutestamentlichen Kerygma und dem antiken mythologischen Weltbild und fordert eine „Entmythologisierung“ des Neuen Testamentes, um die tiefere Bedeutung des Kerygmas für die menschliche Existenz hervorzuheben. Er betont aber ausdrücklich: „Entmythologisieren heißt jedoch nicht, die Schrift oder die christliche Botschaft als Ganzes zu verwerfen, sondern die Weltanschauung der Schrift, die die Weltanschauung einer vergangenen Zeit ist, die nur zu oft in der christlichen Dogmatik und in der Predigt der Kirche beibehalten wird.“10

Man sollte sich aber als Theologe in der Neuzeit nicht von Illusionen leiten lassen. Den modernen Menschen stört nicht nur das mythologische Weltbild der Bibel, auch vom eigentlichen Kerygma will er sich nicht mehr anreden lassen. Den Übergang von seiner uneigentlichen Existenz zu seiner eigentlichen Existenz will er selbst herbeiführen, in Eigenregie, jedenfalls ohne das Kerygma der Bibel. Politische Ideologien mit praktischen gesellschaftlichen Umwälzungen, Humanität ohne religiöse Basis und Psychoanalyse für die erkrankten Seelen – das sind die Wege, die der moderne Mensch zur Findung seiner eigentlichen Existenz einschlägt. Bultmanns theologischer Ansatz ist schon von diesen Überlegungen her leider von vornherein ein vergeblicher Versuch. Bultmann hat – und diese nüchterne Feststellung will seine theologische Leistung in keiner Weise schmälern – die Radikalität des neuzeitlichen Atheismus und die zum damaligen Zeitpunkt bereits weit fortgeschrittene Säkularisierung m.E. schlicht verkannt.

 

Anpassung an den modernen Zeitgeist

Doch werfen wir hier auch noch kurz einen Blick auf einen weiteren der oben genannten Ansätze. Vorzüge und Nachteile dieser Ansätze sind hier nicht zu erörtern. Aber die Grundvoraussetzung der Ansätze von z.B. Bultmann, Bonhoeffer, und auch Tillich ist die Anerkennung der von Kant geforderten Mündigkeit dieser Welt und des neuzeitlichen Menschen. Und genau dort liegt das Problem dieser Ansätze. Ohne diese Anerkennung sind sie undenkbar. Am deutlichsten tritt diese Anerkennung der Mündigkeit des neuzeitlichen Menschen bei Bonhoeffer hervor. Bonhoeffer stellt fest: „Ich will darauf hinaus, dass man Gott nicht noch an irgendeiner allerletzten heimlichen Stelle hineinschmuggelt, sondern dass man die Mündigkeit der Welt und des Menschen einfach anerkennt, dass man den Menschen in seiner Weltlichkeit nicht madig macht, sondern ihn an seiner stärksten Stelle mit Gott konfrontiert“.11

Bonhoeffer setzt also – wie auch Bultmann und Tillich – die Mündigkeit dieser Welt und des neuzeitlichen Menschen voraus. Erst von dieser Voraussetzung her sahen sich die genannten Theologen offensichtlich genötigt, Theologie neu zu überdenken, Gott und den neuzeitlichen Menschen in ein rechtes Verhältnis zu setzen. Gegen diese Versuche ist im Wesentlichen nichts einzuwenden. Problematisch erscheint mir nur die Tatsache, dass in all diesen theologischen Entwürfen die von Kant geforderte und heute so oft gepriesene Mündigkeit des modernen Menschen nirgends in Frage gestellt worden ist.

Noch problematischer erscheint mir aber die Tatsache, dass im Zuge dieser Anerkennung der Mündigkeit des modernen Menschen in diesen theologischen Ansätzen versucht worden ist, Theologie dem modernen Zeitgeist anzupassen. Viel zu selten ist der Versuch unternommen worden, den modernen Zeitgeist kritisch zu hinterfragen, seine Schwächen aufzudecken und ihn aufgrund dieser Schwächen bloßzustellen. Allzu schüchtern ist Theologie geworden in der Auseinandersetzung mit der sog. Aufklärung. Eher wagt man Abstriche am christlichen Dogma, als dass man dem modernen Zeitgeist den Kampf ansagt. Der Versuch, Theologie dem modernen Zeitgeist anzupassen, tritt am deutlichsten bei Tillich zutage. In seiner Methode der Korrelation sieht er sogar eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Mensch und Gott, Frage und Antwort, Existenz und Offenbarung.12

 

Die aufgeklärte Ingebrauchnahme des Verstandes und deren Resultate

Nach diesen theologischen Rettungsversuchen ist es heute wieder einmal an der Zeit festzustellen: Theo-logia als Rede von Gott in Jesus Christus als Verkündigung der christlichen Wahrheit wird sich niemals mit der Welt und deren veränderlichen und unzureichenden Weisheiten arrangieren können. Weltweisheit und göttliche Weisheit stoßen sich ab wie zwei unterschiedlich magnetische Pole. Und so ist es endlich auch an der Zeit, nicht die Theologie, sondern modernes Denken, das ohne Gott auskommen will, kritisch zu hinterfragen. Als dringlichste Aufgabe erscheint es mir in diesem Zusammenhang, die von Kant geforderte Mündigkeit des neuzeitlichen Menschen einmal etwas näher zu beleuchten.

 

 

Kant hat in seiner berühmten Schrift mit dem Titel „Was ist Aufklärung?“ eine bis heute – wie mir scheint – nicht stark genug hinterfragte Definition von Aufklärung gegeben. Kant spricht vom „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Mit Unmündigkeit meint er „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“13 Hier haben wir den Wahlspruch der Aufklärung in einer bis heute ungebrochenen Wirkungsgeschichte vor Augen.

Nun, der Mensch hat seitdem den Mut gefasst, sich seines Verstandes zu bedienen und dies nicht nur in den von Kant vornehmlich geforderten „Religionsdingen“, sondern auch auf naturwissenschaftlichen und über die Theologie hinaus anderen geisteswissenschaftlichen Gebieten. Es ist für einen Theologen heute erstaunlich zu beobachten, wie die Theologie bei der Ingebrauchnahme des Verstandes vonseiten des modernen Menschen mehr oder weniger tatenlos zugesehen hat. Heute ist es mehr denn je erforderlich, die Ergebnisse dieser Ingebrauchnahme des Verstandes einmal kritisch zu hinterfragen. Und dies auf allen Gebieten. Die Ergebnisse liegen klar auf der Hand: Allein im letzten Jahrhundert zwei katastrophale Weltkriege und bis zur Stunde stehen sich Machtblöcke – mit Atombomben bis an die Zähne bewaffnet – gegenüber, um gegebenenfalls loszuschlagen, was einer totalen Vernichtung unseres Planeten gleichkäme.

Die Menschheit hat sich in die Lage versetzt, sich selbst vernichten zu können. Wie kann man hier von Verstand reden? Man muss sich nur wenige Namen in Erinnerung rufen, um die Ingebrauchnahme des Verstandes vonseiten des modernen Menschen in Zweifel zu ziehen: Verdun, Ausschwitz, Hiroshima, Vietnam, Afghanistan und gegenwärtig ein grauenvoller Krieg in der Ukraine mit vielen Toten und Verletzten. Die Liste der Ergebnisse dieser fragwürdigen Ingebrauchnahme des Verstandes kann beliebig fortgesetzt werden: eine sehr riskante und umstrittene Genforschung, die trotz aller möglichen Fortschritte in der Medizin die Gefahr birgt, dass mit ihr ins menschliche Erbgut eingegriffen wird und damit die Schöpfungsordnung stark beeinflusst wird, überfüllte Wartezimmer der Psychologen, eine schon heute nicht wieder gutzumachende Verseuchung der Umwelt auf dem Hintergrund einer gewissenlosen Industrie-und Konsumgesellschaft. Mit der Klimakrise läuft die Menschheit darüber hinaus Gefahr, dass unser Planet langfristig nicht mehr bewohnt werden kann. Und noch einmal sei die Frage erlaubt: Wie kann man angesichts dieser Ergebnisse von Verstand reden?

 

Das Scheitern des „Übermenschen“

Doch wenden wir uns ab von der profanen Welt und betrachten die Ingebrauchnahme des Verstandes im religiösen Bereich. Wie lauten hier die Ergebnisse? Der moderne (aufgeklärte!) Mensch hat Nietzsche anscheinend beim Wort genommen, wenn Zarathustra spricht: „Seht, ich lehre euch den Übermenschen, der Übermensch ist der Sinn der Erde. Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht“.14

Der moderne Mensch ist der Erde treu geblieben, hat den Glauben der „Giftmischer“ verworfen und lebt, als ob es Gott nicht gäbe. Heute wird mehr und mehr deutlich, dass der moderne „Übermensch“ hoffnungslos gescheitert ist. Das Selbstbewusstsein des modernen Menschen ist ins Wanken geraten und ihm wird zunehmend klarer, dass er sich nicht selbst erlösen kann, dass seine so hoch gepriesenen Ideologien von einer humanen Welt und einer Gleichbehandlung aller Menschen bis heute Utopien geblieben sind. Der einzelne Mensch geht in der Masse unter, er hat seine Identität verloren, unterliegt einem katastrophalen Konsumzwang, lebt bisweilen unter schwierigen Bedingungen in einer technisierten Welt und kann letztlich keine Antwort und keinen Trost finden auf seine Fragen und Ängste. Die Angst vor der Leere und Sinnlosigkeit prägt die hoffnungslose Existenz des modernen Menschen. Der „Mut zum Sein“ (Tillich) nimmt ständig ab und die immer mehr in den Mittelpunkt tretende Psychoanalyse kann nicht das leisten, was eine vertrauensvolle Gott-Mensch-Beziehung in der Vergangenheit (Antike, Mittelalter) zu leisten vermocht hat.

Die Verdrängung oder gar Negierung der christlichen Botschaft von der Erlösung des Menschen durch den liebenden Gott hat sich wahrlich nicht bewährt. Die beiden großen christlichen Kirchen haben im Zuge dieser Entwicklung mit hohen Austrittszahlen großen Schaden genommen. Dennoch bedarf auch der moderne Mensch der Erlösung von Schuld, Leiden und Tod. Ganz abgesehen davon bleibt die Frage nach einem sinnvollen Dasein überhaupt offen und ungelöst.

 

Die Weisheit dieser Welt …

Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt – zu Kant und seinen Forderungen – zurück und stellen uns die Frage: Was hat es nun auf sich mit der Forderung nach einer Ingebrauchnahme des Verstandes und der Forderung nach Mündigkeit? Die Ergebnisse der Ingebrauchnahme des Verstandes haben gezeigt, dass sich der moderne Mensch auf recht fragwürdige Weise seines Verstandes bedient hat. Das Wort „fragwürdig“ dürfte dabei noch ein mildes Urteil kennzeichnen. Wer seinen Verstand nur zur Selbstvernichtung – dies gilt im profanen wie im religiösen Bereich – einsetzt, stellt seine eigene Verstandesfähigkeit in Frage. Auch in Bezug auf die von Kant geforderte Mündigkeit kann nur resümiert werden: Der moderne Mensch ist auf eine recht fragwürdige Weise mündig geworden. Die Mündigkeit in „Religionsdingen“ und damit primär Gott gegenüber ist in Unmündigkeit sich selbst gegenüber umgeschlagen. Aus dem „armen Hirnhund, schwer mit Gott behangen“ (Gottfried Benn)15 ist ein armer Hirnhund, schwer mit sich selbst behangen, geworden.

Heute steht der moderne Mensch allein ohne Gott als der Mittelpunkt des Universums nur sich selbst gegenüber. In dieser Gottverlassenheit ist er unmündig geworden in seinem Umgang mit sich selbst. Man muss kein Prophet sein, um heute schon voraussagen zu können, dass ihn seine ihm ureigene Erlösungsbedürftigkeit und seine ihm ureigene Erlösungsunfähigkeit auf Gott zurückwerfen werden. Heute schon steht fest: Findet der moderne Mensch nicht zu Gott und zu einer intakten Gott-Mensch-Beziehung zurück, wird er unmündig sich selbst gegenüber und unerlöst an seiner eigenen Weisheit zugrunde gehen.

 

… und die Weisheit Gottes

Die Ingebrauchnahme des Verstandes vonseiten des modernen Menschen erfordert insbesondere aus theologischer Sicht Überlegungen zum Verhältnis von Weisheit der Welt und Weisheit Gottes. Gott hat die Weisheit der Welt zunichtegemacht. In keiner Geschichtsepoche der Menschheit tritt diese Tatsache deutlicher hervor als im Zeitalter der sog. Aufklärung. Schon beim Propheten Jesaja ist zu lesen: „Ich will die Weisheit der Weisen zunichtemachen und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.“16 Von Paulus in 1. Kor. aufgegriffen stellt dieser in Bezug auf die Weisheit Gottes fest: den „Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“17.

Im Zuge der Aufklärung ist diese Weisheit Gottes zunehmend zur Torheit geworden. Da sind wir den Griechen von damals nicht fern. Die Paulusstelle ist auch heute – vielleicht gerade heute – von zentraler Bedeutung. Auch die Weisheit des modernen, aufgeklärten, Menschen scheitert als Weltweisheit an der Weisheit Gottes. Der moderne Mensch versucht mit Hilfe seiner naturwissenschaftlichen Einsichten die Welt und den Menschen so zu formen, dass er keiner göttlichen Weisheit mehr bedarf. Damit strebt er zugleich nach einer Selbsterlösung. Heute steht aber bereits fest, dass er mit dieser seiner Weltweisheit an der göttlichen Weisheit gescheitert ist. Die Ergebnisse der von Kant geforderten Ingebrauchnahme des Verstandes vonseiten des modernen Menschen haben gezeigt, dass Weltweisheit gegenüber jeder göttlichen Weisheit nur unzulänglich sein kann. Die Gegenüberstellung Weisheit Gottes und Weisheit der Welt bedarf in diesem Zusammenhang eigentlich einer gesonderten intensiven Betrachtung.

 

Eine Neubesinnung ist nötig

Nach dieser kritischen Beleuchtung der Ingebrauchnahme des Verstandes vonseiten des modernen Menschen und der Feststellung seiner an Gottes Weisheit gescheiterten Weltweisheit ist sowohl für den Theologen als auch für den aufgeklärten Menschen der Neuzeit eine Neubesinnung vonnöten. Für die Theologie gilt: sie muss endlich damit aufhören, sich zu verstecken oder sich bewusst oder unbewusst an diese moderne Weltweisheit anzupassen. Sie hat vielmehr in jeder Geschichtsepoche die Aufgabe, Gott und seine Weisheit zu verkündigen, so auch im Zeitalter der Aufklärung. Sie hat aber auch die Aufgabe, dem neuzeitlichen Menschen die Ergebnisse seiner Ingebrauchnahme des Verstandes entgegenzuhalten, sie hat ihn an diesen Ergebnissen festzunageln und ihm die Alternative Gott-Vertrauen-Sinnfindung-Erlösung unmissverständlich anzubieten.

Diese Aufgaben kann sie aber nur dann in Angriff nehmen, wenn zwei entscheidende Voraussetzungen dafür gegeben sind: zum einen, dass sie sich ihrer Sache sicher ist und nicht ständig der Versuchung erliegt, den Beweis zu erbringen, dass Gott existiert. Damit will sie ihre Grundvoraussetzung beweisen und führt sich selbst ad absurdum. Sie sollte sich vielmehr darauf besinnen, dass es heute an der Zeit ist, dass sich die „moderne Weltweisheit“ befragen lassen muss, was sie dem Menschen an Erlösungsmöglichkeiten anzubieten hat. Zum anderen darf die Theologie niemals die so oft beschworene Mündigkeit des modernen Menschen anerkennen, die realiter gar nicht existiert. Theologie kann und darf auch übrigens polemisch sein, wenn es um das Heiligste geht, um Gott selbst. In diesem Sinne wäre in der Theologie heute ein radikaler Umdenkungsprozess vonnöten.

Ebenso wie der Theologe muss sich aber auch der moderne Mensch im Zeitalter der sog. Aufklärung neu besinnen. Es muss ihm deutlich werden, dass seine Weltweisheit letztlich an der Weisheit Gottes scheitert und es muss ihm deutlich werden, was wahre Aufklärung beinhaltet. Im Zuge dieser Neubesinnung ist schon der Begriff „Aufklärung“ neu zu definieren. Aufklärung ist eben nicht „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, sondern vielmehr die Einsicht in die menschliche Unzulänglichkeit, die Einsicht des Menschen, dass es ihm nie gelingen wird, sich selbst zu erlösen, und zugleich die Einsicht von der Not und Hilflosigkeit des Menschen ohne Gott. Der wahrhaft aufgeklärte Mensch weiß um diese Unzulänglichkeit. Er weiß, was er mit seiner Weltweisheit leisten kann, aber er weiß auch, dass Gott diese Weisheit zunichtemacht. Gott macht diese Weisheit dort zunichte, wo der Mensch eine Selbsterlösung anstrebt. Die Frage nach einem sinnvollen Dasein und die Fragen nach Erlösung von Schuld, Leiden und Tod können nur mit Gott und Gottes Weisheit beantwortet werden.

Der in diesem Sinne aufgeklärte Mensch wird mit dem Philosophen Blaise Pascal einer Meinung sein, wenn dieser in seinen „Gedanken“ feststellt: „Durch nichts verrät sich die äußerste Geistesschwäche mehr, als wenn man nicht erkennt, wie groß das Elend des Menschen ohne Gott ist.“18 Zum Schluss sei mir der Aufruf gestattet: Habe Mut, dich deines Verstandes in diesem Sinne zu bedienen!

 

Anmerkungen

1 Vgl. Martin Luthers Unterscheidung zwischen „Deus absconditus“ und „Deus revelatus“ in: De servo arbitrio aus dem Jahre 1525.

2 Mt. 22,37.

3 Zahrnt, Heinz, Gott kann nicht sterben, 3. Aufl. München 1970, 29.

4 Nietzsche, Friedrich, Werke in 2 Bänden, 4. Aufl. München 1978, Bd. 1, 126ff.

5 Sölle, Dorothee, Auferstehung nach dem Tode Gottes, in: Atheistisch an Gott glauben, 5. Aufl. Freiburg i.Br., 1979.

6 A.a.O., 79.

7 Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, Bd. III, 8. Aufl., Frankfurt/M. 1982, 1490.

8 Bultmann, Rudolf, Jesus Christus und die Mythologie, Hamburg 1964, 11.

9 A.a.O., 18.

10 A.a.O., 37.

11 Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung, München 1951, 236.

12 Tillich, Paul, Systematische Theologie, Bd. I, 6. Aufl. Stuttgart 1979, 75ff.

13 Kant, Immanuel, Werke in 6 Bänden, Bd. 6, Frankfurt/M. 1964.

14 Nietzsche, a.a.O., 549.

15 Benn, Gottfried, Gesammelte Werke IV, Wiesbaden 1961, 184.

16 Jes. 29,14.

17 1. Kor. 1,20-24.

18 Pascal, Blaise, Gedanken, Berlin 2012.

 

Über die Autorin / den Autor:

Dipl.-Theol. Rigobert Donner, Studium der Evang. Theologie, beruflich seit über 30 Jahren im Fremdsprachendienst an der Universität Marburg tätig.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2024

4 Kommentare zu diesem Artikel
31.08.2024 Ein Kommentar von Konrad Rampelt Die Ausführungen von Rigobert Donner haben wohltuende theologische Resonanzen bei mir erzeugt. Seit 40 Jahren bin ich Pfarrer, werde morgen am Sonntag predigen. Rigobert Donner hat mir neu Mut gemacht von Gott zu reden und dem erschrockenen Menschen unserer Zeit, in unserer „gestressten Gesellschaft“. Die Vorgängerkommentatoren haben sich scheinbar schmerzlich berührt gefühlt in ihrem aufgeklärten theologischen Denken. Fast die Wiederkehr eines regierenden Gottes über uns rauschen gehört. Gott bleibt Gott um Gottes Willen. Was wir belieben, wird sich noch zeigen. In meinen jungen Jahren als Pfarrer, sagte eine Kirchenvorsteherin, ich würde mehr von den Menschen als von Gott reden. Im Alter rede ich mehr von Gott, mindestens so viel wie von den Menschen. In Ehrfurcht von Gott zu reden ist keine Schande. Nicht nur in Ehrfurcht vor den Menschen zu reden. Neu von Gott zu reden ist nötig. Bitter nötig. Weil wir mit unserem Latein am Ende sind. Wir sind berufen neu von Gott zu reden um Gottes Willen und um unseretwillen. Denn wir spüren neu, in den Wirren unserer Zeit, das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott. Und beim Prediger Schleiermacher war die Dreifaltigkeitskirche in Berlin immer voll. Nur Gott kann uns noch retten, sagte sogar ein Philosoph.
30.08.2024 Ein Kommentar von Rigobert Donner Antwort des Autors zum Kommentar von Herrn Bernd Kehren Es ist zunächst einmal unerheblich, , dass in den Naturwissenschaften Gott nicht vorkommt. Da unterliegen Sie wieder einem Trend, sich dem modernen Zeitgeist anzupassen. Die Theologie ist immerhin ein eigenständiges Fachgebiet. Dort geht es darum, dass die Theologie als Wissenschaft wenigstens von Gott als einer Arbeitshypothese auszugehen hat. Nur von dieser Arbeitshypothese her können theologische Fragen und Themen entfaltet und diskutiert werden. Die Verkündigung eines außergewöhnlich humanistischen Jesus von Nazareth reicht in der Theologie m.E. nicht aus. Und wenn Sie schon die Naturwissenschaften ansprechen: Stellen Sie sich einmal vor, die Physiker würden plötzlich vom Gesetz der Schwerkraft Abschied nehmen wollen. Zweitens: Ich kann gut verstehen, dass es nicht besonders toll klingt, wenn man einmal die Schattenseiten der Aufklärung auflistet. Aber der wahrhaft aufgeklärte Mensch (im Umkehrschluss zu Kant) ist derjenige, der begreift wie groß das Elend des Menschen ohne Gott ist. Diese Weisheit stammt keineswegs von mir, sondern vom Philosophen Blaise Pascal (wurde auch so zitiert). Theologen sollten den modernen aufgeklärten Menschen auch durchaus einmal mit den Schattenseiten der Aufklärung konfrontieren. Drittens: Es ist sicher sehr ehrenhaft, dass Theologen wie Bultmann oder auch Tillich versucht haben, das Kerygma für den "modernen" Menschen fruchtbar zu machen. Auch ich habe von diesen namhaften Theologen viel gelernt. Wenn Sie sich heute aber einmal das Christentum und die Situation der Kirchen in Deutschland anschauen, blieben alle diese Versuche leider ohne Erfolg. Das schmälert keineswegs deren Leistungen. Ich möchte mich aber bei Ihnen an dieser Stelle bedanken, dass Sie sich mit meinem Beitrag so intensiv beschäftigt haben.
26.08.2024 Ein Kommentar von Angelika Nothwang Leonard Swidler hat für den interreligiösen und interideologischen Dialog die Forderung formuliert, man solle "nicht unsere Ideale mit der Praxis unserer Partner vergleichen, sondern unsere Ideale mit den Idealen unserer Partner, unsere Praxis mit der Praxis unserer Partner." Meiner Ansicht nach ist das hier unterblieben. Wenn Aufklärung als Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit ein nie abschließbarer Prozess ist, schließt sie auch Reflexion über die Irrwege der Aufklärung ein - was ja auch erfolgt ist. Hier werden die Selbstzerstörungspotentiale angesprochen, die wir Menschen angehäuft haben, und allein der Aufklärung zugeschrieben. Kants Überlegungen dazu, welche Staatsformen und zwischenstaatlichen Institutionen dem Frieden dienen können, fallen unter den Tisch. Errungenschaften der Aufklärung wie die Menschenrechte und die nach langer Zeit zumindest als Anspruch formulierte Gleichberechtigung von Frauen sind nicht der Rede wert. Auch gibt es kein Bemühen darum, die Erfahrung des Holocausts mit der Theologie Dorothee Sölles in Verbindung zu bringen. Es ist doch kein Zufall, dass sie nicht mehr so einfach von dem Gott singen konnte, "der alles so herrlich regieret."
26.08.2024 Ein Kommentar von Bernd Kehren In den Naturwissenschaften kommt Gott nicht vor - kann Gott nicht vorkommen. Darum kann der moderne Mensch seiner Verantwortung nur dadurch gerecht werden, dass er auf diese Erkenntnisse angemessen reagiert. Das ist die Aufgabe, die Gott dem Menschen - uns - stellt. Diese Aufgabe wahrzunehmen, hat aber gar nichts damit zu tun, sich selbst erlösen zu wollen. Mit Bonhoeffer kann man sich dieser Aufgabe vor Gott vertrauensvoll stellen. Und wir könnten dabei mit allen Menschen guten Willens zusammenarbeiten, auch wenn sie anders oder gar nicht glauben. Was ich immer noch nicht verstanden habe: Was soll das sein, dieser böse Zeitgeist? Mündig zu sein, bedeutet ja nicht, automatisch seiner Verantwortung gerecht zu werden, immer die richtigen Informationen zu haben oder diese angemessen auszuwerten. Auch der mündige Mensch kann gravierend falsch liegen. Da gibt es keinen Unterschied zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Diesem Elend des Menschen müssen sich die, die an Gott glauben ebenso stellen wie die, die es nicht tun. Ich empfinde es als unredlich, bei all diesen Überlegungen außer Acht zu lassen, mit welchen kirchlichen und Antiwissenschaftlichen Positionen sich all die im Beitrag Genannten auseinanderzusetzen hatten. Und: Die Erlösung kommt erst zum Schluss, ganz zum Schluss. Bis dahin können wir nur hoffen und Glauben und das Beste draus machen. Und da kann man von all den Genannten von Bultmann bis Tillich immer noch eine Menge lernen.
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