Dass unsere Kirchen immer leerer werden, liegt nicht daran, dass die Leute kein Bedürfnis nach Glauben hätten; es liegt daran, dass dieses Bedürfnis in den Gottesdiensten weithin nicht mehr erfüllt wird – sagt Martin Poguntke. Mit seinen Thesen will er den Blick dafür öffnen, wie christlicher Glaube heutigen Menschen gegenüber verantwortbar begründet und verkündigt werden kann und sollte.
In weiten Teilen muten wir mit unseren Gottesdiensten den Menschen eine unverantwortliche Kinderkirch-Theologie zu, die den Verstand eines erwachsenen Menschen beleidigt. Die „Torheit“ des „Worts vom Kreuz“ meint aber nicht, dass unsere gesamte Verkündigung und ihre Grundannahmen notwendig in den Augen der „Welt“ töricht seien.
Die folgenden Thesen sind Ergebnis langjähriger Auseinandersetzung in Studium, Gemeinde, Schule und Alltag mit Menschen, die sich teils nur deshalb Atheisten nennen, weil sie finden, dass die Vorstellung von einem „Gott“ ihrem vernünftigen Weltbild widerspreche. Sie lehnen größtenteils nicht den christlichen Glauben als solchen ab, sondern lediglich seine vermeintlich übersinnlichen Vorstellungen. Mich schmerzt seit jeher, dass wir Christen eine grandiose Botschaft haben, aber zuallermeist den Zugang zu ihr verbauen, indem wir als „Eingangsticket“ fordern, die Vorstellungswelt des altorientalischen Weltbilds dafür zu übernehmen. Meine Thesen wollen deshalb den Blick dafür öffnen, wie christlicher Glaube heutigen Menschen gegenüber verantwortbar begründet und verkündigt werden kann und sollte.
Es wäre interessant, auf dieser Basis unsere gesamte Dogmatik zu reformulieren: Wie kann eine Christologie heute verständlich gemacht werden? Wie können Begriffe wie „Gnade“ oder „Rechtfertigung“ so formuliert werden, dass man für sie nicht sein Weltbild an der Garderobe abgeben muss? Ein weites Feld reformulierter Theologie harrt da seiner Bearbeitung.
I Menschen brauchen Glaube; Glaube braucht Theologie.
Menschen sind darauf angewiesen, die Stabilität, die sie für ein Leben in Freiheit brauchen, selbst herzustellen, indem sie sich in Beziehungen setzen. Sie müssen das selbst leisten, weil sie kaum orientierende und stabilisierende Instinkte besitzen. Wie alle Lebewesen, die auf Beziehungen angelegt sind, bringen – gesunde – Menschen von Geburt an die Fähigkeit dazu mit.
Solche Beziehungen müssen sowohl nahe als auch mittlere als auch ferne Beziehungen sein. Die fernste Beziehung, die Menschen suchen, um Stabilität zu gewinnen, ist die Beziehung zum Ganzen der Welt, ihrem Ursprung, ihrer Zukunft, ihrem Geheimnis, ihren Kräften, ihren Regeln: Gott. Ohne unsern Bezug aufs Ganze würden die Dinge „unterhalb“ des Ganzen zu viel Macht über uns gewinnen, weil sie vermeintlich unser Leben tragen und absichern.
Dieses Sich-zu-Gott-in Beziehung-Setzen ist das Bemühen, dem Ganzen vertrauen zu können. Vertrauen ins Ganze der Welt, das ist es, was biblisch mit Glauben (pisteuein) gemeint ist. Es ist eine Fähigkeit, die alle Menschen von Geburt an als „Urvertrauen“ mitbringen, die sie aber oft bereits in frühester Lebenszeit enttäuscht bekommen und deshalb verlieren.
Dieses Glauben – oder das, was Menschen sich davon erhalten konnten – in eine konsistente, plausible, intellektuell verantwortbare Form zu bringen, ist die Aufgabe von Theologie. Damit dieses Glauben und diese Theologie nicht reine Spekulation bleiben, muss das durch sie entstehende Begriffs- und Gedankengebäude in ständigem Austausch mit den individuellen und kollektiven Erfahrungen mit dem Weltganzen laufend weiterentwickelt werden. Dieser unablässige Abgleich von Begriffen und Erfahrung birgt die Chance, in der Welt an etwas zu gelangen, was – wenn schon nicht die große, eine „Wahrheit“, die zu haben, Religionen gerne behaupten – wenigstens ein klein wenig „etwas von Wahrheit“ hat.
II Gott ist nicht erfassbar, aber Theologie und Glaube müssen es ständig versuchen.
Gott, das Ganze der Welt, ist schon deshalb prinzipiell nicht erfassbar, weil wir Teil des Ganzen sind und deshalb keinen festen logischen Punkt außerhalb haben können, von dem aus wir Objektives erfassen und formulieren könnten. Gott ist aber auch deshalb nicht erfassbar, weil das Ganze etwas kategorial anderes ist (das „ganz Andere“) als die begrenzten Teile. Nicht zuletzt ist aber das Ganze auch deshalb nicht zu fassen, weil uns – aus logischen und aus Kapazitätsgründen – nie alle Daten gleichzeitig zur Verfügung stehen können.
Weil wir aber das Leben nicht in völliger Kontingenz ertragen können, brauchen wir es, dass wir uns ständig darum bemühen, wenigstens versuchsweise Gewissheiten über die Welt zu formulieren. „Wir können nicht von Gott reden, müssen es aber tun.“ Dadurch dass wir unser Reden von Gott ständig erneuern, überprüfen und aktualisieren, erzeugen wir die Chance, wenigstens in die Nähe von Wahrheit über das Ganze zu gelangen.
III Die Wahrheit der Welt geht allem voraus – Denken und Glauben sind aber deshalb nicht inhaltlich von ihr geprägt.
Natürlich geht das Ganze und seine Wahrheit allem Wahrnehmen, Denken, Glauben und Reden darüber voraus. Das Ganze ermöglicht alles das erst und gibt dem allen erst die Regeln des Möglichen vor. Aber das erlaubt nicht den Rückschluss, dass dieses Wahrnehmen, Denken und Reden des Glaubens dadurch inhaltlich vorgegeben sei, weil es vom Ganzen ermöglicht und durchdrungen ist. Vielmehr ist das Wahrnehmen, Denken, Glauben und Reden des Menschen eine im Zuge der Evolution entstandene Fähigkeit, die völlig autonom „funktioniert“, keinerlei Disposition hat, die Wahrheit der Welt zu erkennen.
Theologie ist deshalb rein menschliche Tätigkeit, die keinerlei besondere Inspiration für sich in Anspruch nehmen kann. Sie kann irren oder insgesamt ein Irrweg sein – wie alles, was die Evolution hervorgebracht hat und wieder hat verschwinden lassen.
Auch der „Heilige Geist“ ist kein Königsweg zur Wahrheit der Welt. Die Rede von ihm spiegelt lediglich die Erfahrung und Hoffnung – letztlich den Glauben, das Vertrauen – wider, dass auch die Gedanken- und Gefühlswelt eine Tendenz zu einem guten Ziel der Welt hat – nicht nur die materielle Welt. Von dieser Erfahrung her rührt das Vertrauen in die Gedanken- und Gefühlswelt, dass auch sie potenziell heilsam sein kann.
IV Theologie ist nie Offenbarung, sondern Philosophie unter Verwendung eines Gottesbegriffs.
Da Gott, das Ganze, das Geheimnis der Welt, das kategorial Andere prinzipiell von Menschen nicht erfassbar sein kann, kann es auch keine Offenbarung über Gott geben, denn das Offenbarte würde in den Köpfen, Worten, Gedanken und Bildern des Menschen sofort wieder zu menschlich-begrenzten Worten, Gedanken und Bildern und damit zu einer menschlichen Kategorie.
Theologie zu treiben, ist daher eine rein menschliche Tätigkeit. Da sie sich aber ständig auf Gott und auf menschliche Erfahrungen mit ihm bezieht, macht sie zugleich Aussagen über Gott, die „etwas von Wahrheit“ haben können – aber eben menschlich-begrenzt.
V Wir können über Gott nur in Bildern reden, aber es tut sich damit ein Kosmos an hilfreichen Wirkungen auf.
Weil wir keinen direkten, analytischen Zugriff auf das Ganze der Welt, sein Geheimnis haben, sind wir darauf angewiesen, Bilder, Metaphern zu entwickeln, mit denen wir das Unsagbare zu sagen versuchen. Das ist aber nicht nur Einschränkung, sondern auch Erweiterung unserer Möglichkeiten. Denn solche Bilder und Metaphern haben den unschätzbaren Wert, sehr tiefe, über das „nur“ vernünftige Denken hinausgehende Verbindung mit unserer Gefühlswelt zu erzeugen. Und sie haben dadurch zugleich die Potenz, symbolisch eine die physische Wirklichkeit ergänzende und weit übersteigende Wirklichkeit – Utopie – herzustellen. Diese schöpferische Kraft, eine neue Wirklichkeit zu erschaffen, kann die Potenz entwickeln, unsern Alltag und die vorfindliche Welt zu sprengen.
Bilder, Metaphern über das Ganze der Welt, sein Geheimnis sind deshalb keine Notlösung, sondern das entscheidende Mittel, um die Welt nicht nur deskriptiv zu erfassen, sondern ihr Potenzial zu heben, ja, dieses überhaupt erst zu erzeugen.
VI Wir können über Gott nur in Bildern reden, müssen uns aber deren Begrenztheit und Unangemessenheit bewusst sein.
Weil wir von Gott nur in Bildern reden können, müssen wir uns zugleich dessen immer bewusst sein, dass es „nur“ Metaphern sind und dass sich unsere Vorstellung von Gott durch diese Bilder zugleich reduziert und verselbständigt. Metaphern sind ja nie neutral, sondern lösen unvermeidlich an ihnen hängende, ganz spezifische Vorstellungswelten aus. So tendieren etwa personhafte Bilder dazu, sich Gott in einer räumlichen Begrenztheit vorzustellen. Oder anthropomorphe Bilder tendieren dazu, Gott Gefühlsregungen oder Absichten oder Handeln zuzuschreiben, wie wir sie von Menschen kennen, wie sie aber für Gott gänzlich unangemessen sind.
Wenn wir etwa bildhaft sagen: Gott „liebt“ uns, dann drücken wir damit sehr eindrücklich und emotionsstark aus, dass wir unser Bedürfnis, in dieser Welt geborgen und gewollt zu sein, als berechtigt glauben. Es ist ja aber der vollständigen Andersartigkeit Gottes gegenüber unangemessen, ihr etwa Regungen wie Liebe zuzuschreiben.
Und dennoch ist es richtig und notwendig, dass wir diese Bilder gebrauchen – auch, weil diese Bilder ihrerseits eine eigene wirkmächtige Realität darstellen und Emotionalität auslösen, die uns hilft zu leben.
Vergleichbar mit der Unangemessenheit anthropomorpher Gottesbilder (im Sinn eines reduzierenden Bildes) ist es etwa, wenn ich von meinem Computer sage: Er „will“ heute nicht. Ich drücke damit etwas Verständliches und tendenziell Berechtigtes über ihn aus – obwohl natürlich ein Computer gar keinen Willen haben kann.
VII Gott übersteigt unser Denken, aber das Reden über ihn muss in den Grenzen unseres Denkens stattfinden.
Wenn unser Reden nicht in ein beliebiges „anything-goes“ oder „Ich-mache-mir-die Welt-wie-sie-mir-gefällt“ ausarten soll, muss es in allgemein anerkannten Regeln stattfinden. Würden Glauben und Theologie für sich eigene Regeln in Anspruch nehmen, würden sie ihre zentrale Aufgabe aufgeben: wenigstens näherungsweise Sicherheit in der vorfindlichen Welt zu bieten. So würden Glaube und Theologie zum Opium, weil sie sich von der vorfindlichen Welt verabschiedeten, eine nicht mehr überprüfbare Scheinwelt aufbauten.
Nicht unsere Vorstellung von der Welt muss sich nach unseren Glaubenssätzen richten, sondern wir müssen unsere Glaubenssätze so formulieren, dass sie im Rahmen der jeweils gegebenen Vorstellung von der Welt plausibel sind. So darf beispielsweise der Glaubenssatz, dass die Welt sich nicht selbst erlösen kann, sondern ein „extra nos“ braucht, auf das sie ihre Hoffnung setzt, nicht zu einem dualistischen Weltbild führen, das sich Gott als Gegenüber der Welt vorstellt. Wenn eine solche Unterscheidung im heutigen Weltbild nicht mehr darstellbar ist, muss es Aufgabe von Theologie sein, neue Bilder und Sprachformen zu finden, die eine Erlösung der Welt plausibel machen, die nicht von Selbsterlösungsphantasien gespeist wird.
VIII Ohne Zukunft ist die Gegenwart nicht aushaltbar.
Glaube und Theologie kann sich nicht darin erschöpfen „Richtigkeiten“ über das Sein Gottes zu verbreiten. Denn Menschen leben nie nur in der Gegenwart. Und diese Gegenwart gewinnt wesentlich Sinn daraus, dass sie Zukunft hat. Und Menschen brauchen für ihre gegenwärtige Sicherheit immer auch ein gewisses Maß an Gewissheit, dass es auch ein gutes Morgen gibt. Deshalb muss, was wir über Gott meinen, sagen zu können, immer auch das Bemühen um die Zuversicht sein: Die Welt, unser Leben, hat eine Zukunft, auf die zu hoffen sich lohnt.
IX Zukunftshoffnung ist der eigentliche Sinn von Glauben, weil sie die Potenz für die Veränderung der Welt darstellt.
Die Hoffnung auf ein lohnendes Morgen ist nicht nur ein schöner Gedanke, der den Abschied vom Heute leichter macht, sondern eine wirkmächtige Realität. Die glaubwürdige Vorstellung von einem guten Morgen verändert bereits das Heute, weil es in eine Bewegung zu einem besseren Morgen hin eingebunden wird. Und die Vorstellung von einem guten Morgen trägt bereits die Kraft in sich und die Richtung, um das Heute im Blick auf das bessere Morgen hin zu verändern.
Damit ist die konkrete Zukunftshoffnung nicht nur nötig, um die Gegenwart aushaltbar zu stabilisieren, sondern überhaupt, um der Welt eine Zukunft zu geben.
X Mit dem Erzeugen des Gedankens an eine bessere Zukunft transzendieren wir die Welt.
Transzendenz – also das Überschreiten der Grenzen unserer Wirklichkeit – ist das entscheidende Wirkelement des Glaubens. Indem der Glaube Gedanken, Bilder, Träume von einer anderen Welt erzeugt, überschreitet er die Grenzen der vorfindlichen Welt zunächst gedanklich. Weil aber diese Bilder selbst eine wirkmächtige Realität darstellen, überschreitet der Glaube mit ihnen auch materiell die vorfindliche Welt hin zu einer besseren.
Der Glaube ist damit die Kraft, die diese Welt überwindet und eine neue schafft.
XI Wenn Menschen sich als Teil des die Welt transzendierenden Prozesses begreifen, transzendieren sie sich selbst.
Indem Menschen die Hoffnung auf eine Zukunft erzeugen und mittragen, transzendieren sie nicht nur die vorfindliche Welt, sondern auch sich selbst. Die Teilhabe an einem Prozess, der über mich selbst hinausweist, lässt auch mein eigenes Leben über sich selbst hinausweisen: Ich werde Teil von etwas, das mehr ist als ich selbst. Mein eigenes endliches Leben wird Teil eines weit darüber hinausweisenden „ewigen“ Lebens.
XII Die Transzendierung des Lebens ist die eigentliche Kraftquelle des Glaubens.
Die Teilhabe an einem Prozess, der sowohl die Welt auf eine gute Zukunft hin verändert als auch mein eigenes Leben zu einem Teil dieser Zukunft macht, hat entscheidende (dialektische) Rückwirkung auf mein eigenes Lebensgefühl. Hatte ich mich ursprünglich nur auf das Ganze der Welt bezogen, um in diesem zunächst statischen Ganzen Halt zu finden, führt die Teilhabe an dem genannten Zukunftsprozess dazu, dass ich nicht nur Halt in der Gegenwart finde, sondern auch Halt in der vergangenen und kommenden Geschichte. Mehr noch: Ich bekomme Bedeutung darin, weil ich wirksamer Teil der Veränderung der Welt und der Schaffung einer guten Zukunft der Welt werde.
So gibt der Glaube ein Maß an Stabilität, weit darüber hinaus, einfach nur Orientierung in der Welt zu geben.
XIII Die Bezugnahme auf Gott gibt der Transzendierung der Wirklichkeit erst ihr Gewicht.
Das Entwickeln von Utopien, von Gedanken, die die vorfindliche Welt überschreiten, stellt schon an sich eine Transzendierung der Welt und eine wirkmächtige Kraft dar. Dadurch aber, dass sich im Glauben diese Gedanken auf Gott, das Ganze beziehen, bekommen sie eine kategorial herausgehobene, grundsätzlichere Kraft. Die Vorstellung von einer besseren Welt wird ja im Glauben nicht nur als menschliche Idee formuliert, sondern als eine Aussage über den Möglichkeitsraum Gottes. Das gibt ihr ein zusätzliches Gewicht, gewissermaßen etwas von der Autorität Gottes. Es bleiben menschliche Gedanken, aber getränkt von der Auseinandersetzung mit dem Ganzen.
Die Vorstellung, das Reden von „Gott“ werde im Grunde überflüssig, wenn unter „Gott“ nicht mehr verstanden werde als das Ganze, das Geheimnis der Welt, geht deshalb am Kern vorbei. Denn woher sollten unsere Hoffnungen und Utopien ihre „Erdung“, ihren festen materiellen Bezug bekommen, wenn nicht von dem, was wir als alles umfassenden „Möglichkeitsraum“ verstehen?
Gerade der Bezug auf das Ganze, auf Ursprung und Ziel des Ganzen, gerade die Frage, was von diesem „Möglichkeitsraum“ zu erhoffen ist, ist ja der einzige Weg, unsere Hoffnungen und Utopien aus dem Verdacht bloßer Hirngespinste, bloßen Wunschdenkens zu befreien. Worauf anderes sollten wir hoffen als auf den alles umfassenden Möglichkeitsraum? Ihn „Gott“ zu nennen, muss nicht sein, hält den Begriff aber – als Ausdruck für die „höchste Komplexität“ – offen gegenüber vorschnellen Verengungen.
XIV Biblische Aussagen über Gott gewinnen ihre Bedeutung durch die lange Zeit ihres „Wachstums“.
Auch biblische Aussagen sind menschliche Versuche, Erfahrungen mit Gottes Welt in Aussagen über Gott zu formen. Das allein macht sie bereits wertvoll. Darüber hinaus sind sie aber über viele Jahrhunderte hinweg in einem rekursiven Überprüfungs- und Neuformulierungsprozess immer neu mit den Erfahrungen Israels mit Gott und mit der Erfahrung, was diese oder jene Aussage aus den Menschen macht, abgeglichen worden. Das gibt ihnen eine solche Tiefe, dass man ihnen ein gewisses Maß an „Wahrheit“ zusprechen kann.
Und gerade ihre Widersprüchlichkeit, dass Spannungen und Widersprüche nicht geglättet sind, sondern ausgehalten werden, macht ihre Glaubwürdigkeit und Autorität aus. Autorität meint dabei nicht, dass sie über Gott mehr „wüssten“, sondern dass diese Texte so erfahrungsgesättigt und von intellektuellem Tiefgang sind, dass sie einen verbindlichen Bezugsrahmen für das Fragen nach Gott darstellen können.
XV Biblische Texte formulieren Gedanken über Gott in den Grenzen und Bildern ihres Weltbilds – das muss auch heutiges Reden von Gott tun.
Reden über Gott ist immer unangemessen, aber wenn es ernsthaft sein soll, muss es auf der Höhe des jeweiligen Weltbildes geschehen. Im Weltbild zur Zeit der Bibelentstehung etwa kannte man keine festen naturwissenschaftlichen Regeln, und die Vorstellung vom Kosmos war eine geschlossene, die z.B. ein Innen und Außen kannte, in dem deshalb z.B. Gott problemlos außen gedacht werden konnte. Für uns heute wäre es aber ein Bruch des Weltbilds, wenn wir Gott außerhalb denken wollten, oder wenn wir Glaubensvorstellungen formulieren würden, die naturwissenschaftlichen Regeln widersprechen.
Es gehört deshalb zur Verantwortung der Theologie zu allen Zeiten, die Inhalte der biblischen Aussagen in ihrer jeweiligen Zeit in Bildern ihres jeweiligen Weltbilds auszudrücken. In vielen Punkten tut Theologie das ja auch. Deshalb formuliert sie die Vorstellung von der Weltschöpfung nicht (mehr) als Gegensatz zur Evolutionstheorie; deshalb versteht sie die Jungfrauengeburt nicht als biologische Aussage; deshalb versteht sie Auferstehung nicht als Gegensatz zu der Tatsache, dass alle Menschen am Ende verwesen.
XVI Eine Hoffnung, die nicht in der Sprache der gegenwärtigen Welt formuliert wird, ist keine Hoffnung für die gegenwärtige Welt.
Der Grund, warum es zur Verantwortung der Theologie gehört, Glaubensaussagen grundsätzlich und durchgängig im aktuellen Weltbild auszudrücken, ist nicht, dass sie dadurch „richtiger“ wären. Sie bleiben – auch wenn sie auf noch so „fortschrittlichem“ Weltbild basieren – unangemessene menschliche Annäherungen an Gott. Der tatsächliche Grund ist, dass Hoffnung keine wirkliche Hoffnung ist, wenn ich für sie den selbstverständlichen Kommunikationszusammenhang dessen verlassen muss, der mein Leben ausmacht. Hoffnung, die sich weltbildfremder Elemente bedient, hat keine Wurzeln in dem Leben, für das sie Hoffnung sein soll.
Es könnte sein, dass darin der wesentliche Grund für die Wirkungslosigkeit und zunehmende Bedeutungslosigkeit heutiger christlicher Verkündigung liegt: dass sie dieser Welt nichts zu sagen hat.
XVII Wenn Verkündigung von ihren Zuhörer*innen verlangt, dass sie ihr Weltbild verlassen, verschließt sie ihre Botschaft vor der Mehrheit der Gesellschaft.
Hoffnung, die nicht im gegenwärtigen Weltbild formuliert ist, ist fromme Weltflucht. Wer an so formulierter Hoffnung teilhaben wollte, müsste das Zentrum dessen verlassen, wodurch sein Leben und sein Zusammenhalt mit den Menschen und seinem Alltag bestimmt ist und getragen wird. Die Folge wäre ein Sonntagsglaube, der nur im Kreis eingeweihter Frommer kommunizierbar wäre: Hoffnung, um den Preis eines gespaltenen Lebens.
Aufgabe von Verkündigung ist aber, ihre Botschaft an die Welt zu richten, sie in die Welt hineinzutragen. Die entscheidende hermeneutische Aufgabe von Theologie und Kirche ist, ihre Glaubensbotschaft in die Wirklichkeit der Welt zu übersetzen – so, wie es die biblischen Autoren in ihre Wirklichkeit hinein getan haben.
Eine Kirche, die diese Aufgabe nicht wahrnimmt, macht sich schuldig an der Welt, weil sie ihr faktisch ihre Botschaft vorenthält.
XVIII Glaube braucht Emotionalität, Emotion braucht Verwurzelung im Alltag – auch im Denken.
So funktional und emotionslos zu beschreiben es ist, warum Menschen Glaube brauchen (und Glaube Theologie braucht), so unmöglich und dysfunktional wäre es, diesen Glauben ohne Gefühl, nur als Gedankengebäude zu leben und zu kommunizieren. Sondern weil unser Glaube eine unverzichtbar zentrale Funktion für unser Lebensgefühl, ja überhaupt für unsere Möglichkeit, unser Leben zu bewältigen, hat, muss er auch auf irgendeine Weise mit unseren Emotionen gelebt und kommuniziert werden. Die Emotionen unseres Glaubens stehen in einem unauflösbaren dialektischen Verhältnis zu seinen Sprachformen – Glaube ist weder ohne Sprache noch ohne Emotion denkbar.
Weil aber Emotionen – unbegriffen – sogar der eigentliche Ausdruck unseres Lebens sind – noch vor aller Sprache –, müssen auch diese Emotionen kompatibel sein mit unserem bewusst gelebten Leben. Wird die Emotionalität des Glaubens vom bewusst gelebten Leben – und damit von unserem Weltbild – getrennt, verliert sie den Kontakt zu ihren Wurzeln, wird künstlich, nur noch in speziell arrangierten Situationen aktualisierbar, verliert ihre Kraft, zur Lebensbewältigung beizutragen.
XIX Glaube braucht Gemeinschaft, Glaubensgemeinschaft braucht fokussierende Rückbindung.
Glaube braucht zur immer neuen Vergewisserung Austausch mit anderen Glaubenden. Weil der Glaube das ganze Leben erfüllen muss, muss auch der Austausch darüber das ganze Leben umfassen. Nur so bekommt Glaube seine Kraft zur Stabilisierung des Lebens.
Dieser Austausch braucht aber auch die Rückbindung an gemeinsame Glaubenstradition der Glaubensvorfahren und -vorvorfahren. Sonst steht der Glaube in der Gefahr, sich von seinem Zentrum, Gott, zu entfernen. Denn der Sinn der Glaubensgemeinschaft ist ja die ständig neue Rückbindung an das, was wir glauben, von Gott erkannt zu haben.
XX Wir Menschen sind aus der Schöpfungsordnung gefallen – deshalb brauchen wir kompensierende Glaubensvorstellungen.
Weil wir Menschen in der Evolutionsgeschichte „Geist“ entwickelt haben (biblisch: weil wir vom „Baum der Erkenntnis“ gegessen haben), sind wir aus der Schöpfungsordnung gefallen: Wir haben mehr und mehr die Möglichkeit entwickelt, uns unabhängig von unseren Instinkten zu verhalten und eigenes Planen und Handeln zu entwickeln. Wir sind damit mehr und mehr zu einem Fremdkörper in der Welt geworden, der dieser Welt einerseits gefährlich werden kann, andererseits Neues zu ihrem Nutzen in sie einbringen kann.
Um mit dieser Welt, der wir fremd geworden sind, in Versöhnung leben zu können, brauchen wir Glaubensvorstellungen, die uns emotional – im Sinn von Zuspruch und Auftrag – mit der Welt verbinden. Diese Vorstellung wird zentral mit dem Bild der „Gottebenbildlichkeit“ formuliert, das zweierlei beinhaltet: Erstens bekommen alle Menschen durch dieses Bild die Würde zugesprochen, „wenig niedriger als Gott“ zu sein, die wir uns nicht verdienen müssen. Zweitens bedeutet dieses Bild ja, dass alle Menschen als „Stellvertreter Gottes“ verstanden werden, die damit den Gestaltungsauftrag bekommen, für die Welt Verantwortung zu tragen.
XXI Die Rückbindung des Menschen an Gott ist zentral für die Wahrnehmung einer guten Rolle in der Schöpfung.
Die Rückbindung an Gott ist nicht nur nötig, zu unserer eigenen Stabilisierung, sondern – weil wir aus der Schöpfungsordnung gefallen sind – auch dazu, dass wir als instinktarme Wesen fragen und entdecken, wie wir dieser Welt guttun, also unseren Auftrag an der Welt erfüllen.
Weil wir Menschen im Laufe unserer Entwicklung zum Menschen die Instinkte als vorherrschenden Steuerungsmechanismus verloren haben, mussten und müssen wir permanent eigene „künstliche“ Steuerungsmechanismen entwickeln, grob gesagt: Moral- und Ethiksysteme. Damit diese Ethiken zum Erhalt der Schöpfung beitragen und nicht zu ihrer Zerstörung, müssen sie von der Frage geleitet sein, was der Welt guttut. Das ist die Frage nach Gottes „Willen“. Freilich ist es ein Anthropomorphismus, von Gottes „Willen“ zu reden, aber als theologisches Bild für die Frage danach, „was der Welt guttut“, hilft diese Formulierung, die zentrale Bedeutung unserer Antwortversuche zu betonen.
So ist die Rückbindung an die Frage nach Gottes „Willen“ entscheidend für die Frage, ob wir Menschen für die Schöpfung eine gute oder eine zerstörerische Rolle spielen, also, ob wir unseren – positiven – „Schöpfungsauftrag“ wahrnehmen, die Erde „zu bebauen und zu bewahren“.
Das ist auch der Sinn der Unterscheidung – nicht Trennung – zwischen Schöpfer und Schöpfung: die Unterscheidung zwischen dem Ganzen auf der einen Seite und Partial-Zielen oder -Interessen auf der anderen. Der Sinn der Unterscheidung von Schöpfer und Schöpfung ist nicht, ein bestimmtes, etwa ein dualistisches Weltbild aufrecht zu erhalten, das Gott und Welt als unterscheidbare Gegenüber versteht. Das ist auch nicht nötig, denn auch die Unterscheidung zwischen dem Ganzen – dem Schöpfer – und den Teilen – der Schöpfung – drückt den kategorialen Unterschied wünschenswert klar aus, der nötig ist, um „Gottes Willen“ nicht Partialinteressen zu unterwerfen und um nicht Partiales (etwa Arbeit, Familie, Gesundheit, Wohlstand …) zu vergöttern.
XXII Dass die Welt auf ein gutes Ziel zugeht, liegt nicht in der Hand von uns Menschen, aber es ist auch kein Automatismus, der auf uns Menschen verzichten könnte.
Die Welt ist zu komplex und unsere menschlichen Möglichkeiten zu unterkomplex, als dass irgendein von Menschen angestrebtes Konzept zur Rettung der Welt Sinn machen würde. Die Welt retten zu wollen, ist Anmaßung, von vornherein zum Scheitern verurteilt und kann nur in eine Katastrophe führen. Es ist deshalb richtig und notwendig, was die jüdisch-christliche Tradition betont: dass nur Gott – also das Innerste, das Wesen dieser Welt selbst – dieses Ziel erreichen kann.
So sehr unsere Glaubenstradition betont, dass wir Menschen die Welt nicht retten können, so sehr zieht sich aber auch der Gedanke durch, dass wir uns der Rettung der Welt zur Verfügung stellen müssen, dass wir neue Menschen werden müssen, damit die Rettung der Welt durch uns geschehen kann.
Das ist der Sinn von Glaube: dass er uns verändert und damit eine neue Wirklichkeit schafft, durch die das erst wirklich werden kann, was wir als Glaubenshoffnung entdeckt haben (oder meinen, entdeckt zu haben – egal: auch ein guter Irrtum hat neuschaffendes Potenzial, sprich: Gott wirkt auch durch unsere Irrtümer).
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2024