Im Blick auf Inhalte und Aussagen des Neuen Testaments haben sich so manche Annahmen verbreitet, die jedoch einer genauen Prüfung nicht standhalten. Christfried Böttrich stellt in einer Reihe im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt die hartnäckigsten Irrtümer vor.
In Apg. 6,1-7 wird eine Geschichte erzählt, die in den meisten Bibeln mit Überschriften wie „Die Wahl der sieben Armenpfleger“ (Diakone, Sozialarbeiter, Helfer o.ä.) versehen ist. In der Regel versteht man sie als Manifest christlicher Liebestätigkeit oder als Bericht von der Geburtsstunde der Diakonie. Denn der Text unterscheidet ja zwischen dem „Dienst bei Tisch“ und dem „Dienst des Wortes“.
Doch der erste Eindruck täuscht. Zum einen sind Worte wie Armenpfleger, Sozialarbeiter oder Diakon der kleinen Episode fremd. Zum anderen weist der Begriff „Dienst“ (diakonia) zu dieser Zeit noch eine große Bedeutungsbreite auf und steht für Versorgung und Wortverkündigung gleichermaßen. Eine Sozialfürsorge gibt es im frühen Judentum natürlich schon längst. Sie ist in Jerusalem nur nicht besonders gut organisiert.
Fremd in der alten Heimat
Vordergründig geht es in dieser Geschichte um die Witwenversorgung. Doch der weitere Fortgang zeigt, dass ein ganz anderes Problem im Hintergrund steht. Zwei Gruppen werden genannt: „Hellenisten“ und „Hebräer“. Das sind nicht etwa Griechen und Juden. Nein – Juden (oder genauer: Judenchristen) sind sie beide. Nur sprechen die Hebräer Hebräisch und die Hellenisten Griechisch. Die einen haben schon immer in Jerusalem gewohnt, die anderen sind aus der Diaspora wieder zurückgekehrt. Sie unterscheiden sich vor allem durch ihre Sprache. Das erweist sich gerade für die Witwen der „Hellenisten“ als schwierig. Sie sind Fremde in der alten Heimat. Ihnen fehlen die Netzwerke, und sie bringen andere Erfahrungen mit. Deshalb übersieht man sie auch leichter als die „eigenen Leute“. Das löst Proteste (ein „Murren“) aus. Mit den Hellenisten und Hebräern stehen sich zwei Gemeindegruppen mit unterschiedlicher Geschichte gegenüber.
Wie sieht die Lösung aus? Die „Zwölf“ erkennen das Problem, berufen eine Vollversammlung ein – und geben von ihrer Leitungsverantwortung ab. Denn das Gremium der „Sieben“, das nun gewählt und eingesetzt wird, ist alles andere als ein Kreis von „Armenpflegern“. Sie gehen fortan nicht etwa mit dem Suppentopf durch die Gemeinde, sondern tun das Gleiche wie die Zwölf: Stephanus hält die längste Rede in der Apg.; dafür und nicht für seine Liebestätigkeit erleidet er das Martyrium. Philippus verkündigt und tauft in der Küstenebene; damit ist er in Erinnerung geblieben. Für die Versorgung der Witwen allein müssten die Sieben auch nicht unbedingt „voll Geist und Weisheit“ sein. Und warum überhaupt ausgerechnet Sieben? Dass sie unter Handauflegung förmlich „ordiniert“ werden, deutet ebenfalls schon auf weitere Verantwortungsfelder hin.
Eine Art Gemeindeteilung
Diakonie meint in der ersten Generation beides: den „Dienst des Wortes“ und den „Dienst der Tische“ gleichermaßen. Beide gehören zusammen und sind eine Aufgabe der gesamten Gemeinde. Geteilt wird in Jerusalem nicht die Zuständigkeit für den einen oder anderen Dienst, sondern die Gesamtverantwortung für eine neue Gemeinde. Der Ausgangskonflikt hat damit zu tun, dass die Gemeinde immer größer und unübersichtlicher wird. Wie ein Rahmen liegen zwei Wachstumsnotizen (Apg. 6,1.7) um die kleine Erzählung, die nüchtern feststellen: „Die Zahl der Gemeindeglieder nahm (gewaltig) zu.“ Genau deshalb gründen die „Hellenisten“ eine neue Gemeinde, mit dem vollen Segen der „Muttergemeinde“ und mit der vollen Verantwortung für Verkündigung und Sozialfürsorge. Die Sieben sind keine „Armenpfleger“, sondern Gemeindeleiter. Sie erfinden nicht den „Dienst der Tische“, sondern achten darauf, dass er nicht zu kurz kommt.
Die Sorge um die Bedürftigen hat in Jerusalem schon eine lange Vorgeschichte. In der Tora ist sie fest verankert. Das frühe Judentum widmet ihr sehr viel Aufmerksamkeit. In der christlichen Gemeinde erhält diese Aufgabe lediglich eine neue Struktur. Darin stimmen die Zwölf und die Sieben überein.
▬ Christfried Böttrich
(wird fortgesetzt)
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2024