Ich schreibe das Folgende auf, weil ich es für eine kostbare Erfahrung des Wesentlichen des christlichen Gottesdienstes halte. Es geht mir dabei nicht um das kultiviert Ästhetische und auch nicht um das schöne Erlebnis. Wohl aber um ein Erleben, das bei entsprechender Praxis in evangelischen Gottesdiensten regelmäßig und ohne außerordentlich gesteigerte Ansprüche aufsuchbar sein sollte und das sich als die Erfahrung des Leibes Christi zu deuten für Gottesdienstbesucher nahelegt. Mit Schiller gesprochen: Der Leib Christi ist wohl eine Idee. Der Kirche ist zu wünschen, dass er zugleich als Erfahrung möglich wird.
Gottesdienst unter den Bedingungen der Pandemie – eine Erinnerung
Es war an einem Sonntagmorgen in der Hochphase der Corona-Pandemie. Die Gemeinde durfte im Gottesdienst nicht singen, die Gottesdienstbesucher saßen, Masken tragend, weit voneinander entfernt. Die Gesänge der Liturgie und Liedstrophen wurden von einer, mittlerweile erfahrenen, Schola aus vier Sängern einstimmig gesungen, von der Chororgel begleitet. Auch die Scholasänger standen in Abständen von je zwei Metern hinter dem Altar. Zum ersten Mal wirkte die Schola mit dem Pfarrer zusammen, der heute Morgen amtierte. Das Singen der Salutatio, des Kyrie und des Gloria versetzte ihn (und nicht nur ihn) regelmäßig in Anspannung. Nicht wegen der Abläufe – die gewährleisteten Ringbuch und Routine –, sondern wegen der Aufmerksamkeit füreinander in erhoffter gemeinsamer Gegenwart trafen sich Schola, Pfarrer und der hier berichtende Kantor eine halbe Stunde vor dem Gottesdienst. Wir standen zu sechst vor dem Altar im Kreis und sangen zunächst mehrfach das Straßburger Kyrie ohne die responsoriale Aufteilung, schließlich fast auswendig. Daraufhin in der liturgischen Aufstellung zur Gemeinde gewandt, der Pfarrer vor, die Schola hinter dem Altar. Dann wieder im Kreis in responsorialer Aufteilung mit stetem Blickkontakt. Daraufhin auch dies in der liturgischen Aufstellung. Schließlich dies noch zweimal mit Blickkontakt zu imaginären Besuchern in Reihe 10. Vergleichbar übten wir die anderen, ungleich kürzeren und einfacheren, Wechselgesänge der Liturgie.
Nach dem Gottesdienst fanden Pfarrer, Schola und Kantor übereinstimmend: etwas Zartes, Besonderes, Beglückendes war geschehen. Ein Scholamitglied sagte über die Gottesdienstbesucher: „Die saßen anders da“.
Was ist an dem Geschehenen herstellbar? Eine Singgruppe von vier bis sechs Personen, hier Schola genannt, singt die von ihr übernommenen Gesänge in einer miteinander geteilten Energie und für die Zuhörer verständlich. Dies setzt voraus, dass die Melodien und Texte sicher beherrscht sind. Dies zu üben ist notwendig und möglich, nicht aber schwer und vor allem für Geübte bald selbstverständlich. Das Wechselspiel der Schola mit dem Liturgen oder der Liturgin wird mit einer sich steigernden Zielsetzung geübt: zunächst geht es um die Ablaufklarheit. Sodann um das Coagieren im Blickkontakt, nicht im Nacheinander der einzelnen Aktionen, sondern in einer ununterbrochen fließend sich fortspinnenden Gegenwart. Und schließlich im Blickkontakt mit den imaginierten Gottesdienstbesuchern.
Das hier beschriebene Geschehen gleicht dem Beten des Vaterunsers durch eine Gemeinde ohne hörbaren Vorbeter. Es ereignet sich unversehens in einem gemeinsamen Rhythmus der jeweiligen Anwesenden in dem jeweiligen Raum in der jeweils waltenden Atmosphäre.1
Erfahrung der „Einleibung“
Zur Analyse des Beschriebenen verwende ich einen zentralen Begriff der Leibphänomenologie des Philosophen Hermann Schmitz (1928-2021): „Einleibung“. Der Leib ist, was ein Mensch in der Gegend seines Körpers, teilweise auch über den Körper hinaus, spüren kann, ohne die fünf Sinne zuhilfe zu nehmen. Leiblich gespürt werden Regungen wie Angst oder Müdigkeit, aber auch das spontane Ergriffensein von Gefühlen. Im Leib spielt sich eine ständige Dynamik ab, der vitale Antrieb aus Engung und Weitung, man kann auch Spannung und Schwellung sagen und sich am Beispiel des Segels klarmachen, dass indem es sich weitend schwillt, zugleich seine Spannung zunimmt und umgekehrt.
Im Blickkontakt, in der Zuwendung zueinander, verschränken sich die leiblichen Antriebe zweier Menschen zu einem gemeinsamen Dritten. Schmitz spricht hier von antagonistischer Einleibung. Menschen müssen sich aber gar nicht einander zuwenden, damit es zur Einleibung kommt. Im gemeinsamen Sprechen des Vaterunsers ereignet sich, was Schmitz solidarische Einleibung nennt. Die Dynamiken der anwesenden, von der waltenden Atmosphäre bestimmten Leiber verschränken sich. Schmitz’ Begriff der Einleibung erklärt auf seine Weise, warum es nicht möglich ist, nicht zu kommunizieren.
Geteilte Gegenwart
Das Singen der Schola mit dem Pfarrer in der Gemeinde wird nun verstehbar als ein mehrfaches Einleibungsgeschehen: Die Scholamitglieder hatten in simultan mehrfacher antagonistischer Einleibung ihre Parts geübt. In der relativen Mühelosigkeit des Gekonnten war ihr Miteinander solidarischer Einleibung anheimgestellt und die Zuwendung in antagonistischer Einleibung galt nun dem Pfarrer. Im wachsenden Können wurde ihrer aller Aufmerksamkeit frei für die Gottesdienstbesucher. In antagonistischer (Zuwendung des Blickes zu Einzelnen) und solidarischer (Aufnahme der Dynamik anderer ohne besondere Zuwendung) Einleibung übertrug sich das Kommunikationsgeschehen zwischen Schola und Pfarrer auf die Gottesdienstbesucher. Es kommunizierte sich die Kommunikation.2
Wir gehen im Verstehen einen Schritt weiter: Was sich ereignete, war unter den Anwesenden geteilte Gegenwart. Und damit Unverfügbares.3 Verfügbar, oder besser: kunstregelhaft aufsuchbar, sind die oben aufgefädelten Züge des Geschehens. Sie sind die Bedingungen, dass Gegenwart sich ereignet.4 Herstellen lässt diese selbst sich nicht. Herstellbar sind Handlungen, deren Form in der Vergangenheit zum Programm gemacht wurde. Bleibt die Aufmerksamkeit an die Reproduktion dieser Form der Handlung gebunden, geschieht nicht mehr als eben die Reproduktion der Form. Denn auch die Aufmerksamkeitsbindung an die Handlungsform überträgt sich als spezifische leibliche Dynamik in der Einleibung. Erst indem die Aufmerksamkeit sich von der Form löst und in der Aufmerksamkeit füreinander5 Bilder, Bewegungen, Empfindungen sozusagen oberhalb der reproduzierten Form erscheinen können, entsteht Gegenwart, die Menschen teilen können.6
Es sind die Bilder, Bewegungen und Empfindungen der christlichen Tradition, auf die die Anwesenden sich mehr oder weniger einlassen werden und die den Geist der christlichen Botschaft gegenwärtig erscheinen lassen.7 Erfreuliches, Glückhaftes kann sich ereignen: im Vergnügen des schieren Miteinanders wie im aufatmenden Bemerken: Was für mich relevant ist, ist es auch für andere. Vielleicht erhebt sich das Erleben von Relevanz auf die Ebene des Göttlichen: mir begegnet, was durch keine Kritik und Selbstkritik in seiner für mich absoluten Autorität relativiert werden kann.8 In der Sprache des Glaubens ausgedrückt: Es ereignet sich der Leib Christi.
Die Aporie von Sichern und Überflüssigmachen
Zum Abschluss eine Überlegung zur Praxis: Es gehört zur Logik der Flächendeckungsinstitution Kirche, Funktionen zu gewährleisten. Das Streben nach Gewährleistung kann sich allerdings nur auf die herstellbaren Formen eines erstrebten Geschehens, hier des Gottesdienstes, richten. Als Stützen der Gewährleistung dienen landläufig das Ringbuch unter dem Beffchen, Mikrophon und Lautsprecher und die Orgel. Jedes dieser Instrumente der Gewährleistung führt die Aporie von Sichern und Überflüssigmachen mit sich. Das Ablesen des Geschriebenen macht die Person überflüssig und das Mikrophon mit dem Lautsprecher das Heben von Seele und Stimme. Die Orgel, erst nach dem Erlöschen des gemeindegesangsleitenden Schulgesangs zur Stabilisierung des Gemeindegesangs eingesetzt, macht diesen zum Gemurmel unter dem verführerisch schimmernden Gewicht ihres Klanges. Wer singt oder nicht, ja: wer da ist oder nicht – es spielt keine Rolle, die Orgel spielt. Auch ekklesiologisch ist die Orgel, als was der Komponist Tilo Medek (1940-2006) sie bezeichnete: die große Prothese.
Der Aporie von Sichern und Überflüssigmachen sich zu stellen heißt, sich in der Entscheidung zwischen Aufwärts oder Abwärts der Spirale der Entwicklung zu finden. Ist es zu viel Aufwand und Risiko, auf das Ringbuch zu verzichten und die Verstärkeranlage so dezent einzustellen, dass Seele und Stimme sich heben? Sind die Mitglieder einer häufig bis regelmäßig singenden Schola schwerer zu organisieren als die Organisten? Sie waren es nicht in der Pandemie. Gesucht haben wir sie aus Not. Mitgemacht, stetig mitgemacht haben sie aus Freude.
▬ Michael Graf Münster
Anmerkungen
1 Es ist in evangelischen Kirchen zur erwartbaren Pein geworden, dass eine Liturgin oder Liturg das Vaterunser mikrophonunterstützt aus einem Ringbuch liest und dadurch die Gemeinde zu einer mühseligen Synchronisierungsleistung nötigt. Gewährleistet werden soll so das gemeinsame Sprechen des vollständigen Gebetes. Trotz kleiner Unzulänglichkeiten Einzelner an einzelnen Textstellen würde dies so gut wie jeder denkbaren Gemeinde auf Anhieb gelingen. Doch das mikrophonunterstützte Lesen des Vaterunsertextes der Liturgin oder des Liturgen geschieht in einem völlig anderen leiblichen und akustischen Raum als dem der Gemeindeglieder und in einer völlig anderen Orientierung der Aufmerksamkeit, die eben auf die Irrtumsfreiheit des Vorlesens gerichtet ist, statt sich im Miteinander des Betens tragen zu lassen. Sind die Gottesdienstbesucher aufgefordert, synchron mit der lesendenen Liturgin oder dem Liturgen zu sprechen, so wird ihnen abverlangt, mit einem anderen Raum zu coagieren, als dem, in dem sie sich finden. Das Forcierte, im Regelfall Unruhige, an den Zeilenenjambements Hastige und insgesamt nicht gegründet Atmende der Vaterunser in den meisten evangelischen Gottesdiensten ist also die zwangsläufige Folge des Strebens nach technisch gestützter Gewährleistung. Wie glücklich hingegen Luther, der keine Mikrophone und Lautsprecher kannte und sich freute, dass das Gebet nie stärker sei, als wenn der ganze Haufe miteinander bete.
2 Unübersehbar geschieht Vergleichbares in der katholischen Messe zwischen Zelebrans und Ministranten.
3 Es ist unter Theologen überflüssig, auf Hartmut Rosas Konzept der Resonanz und des dieser wesentlichen Unverfügbarkeit eigens hinzuweisen. Zwei Buchtitel sind ja mit dem letzten Satz benannt.
4 Der Dirigent Sergiu Celibidache (1912-1996) predigte geradezu: Wir können die Musik nicht machen. Wir versuchen nur die Bedingungen zu schaffen, dass sie erscheint.
5 Die Aufmerksamkeit füreinander nannte der Dirigent Wilhelm Furtwängler (1886-1954) „Liebesgemeinschaft mit dem Publikum“.
6 Ein unter Sportlern bekannter Satz lautet dementsprechend: Ist deine Aufmerksamkeit gebunden, verlierst du die Meisterschaft.
7 Hans Joas hat, Ernst Troeltsch, William James und Émile Durkheim rezipierend, in verschiedenen Büchern den Vorgang wechselseitiger Bildung und Bestätigung von Idealen als sozialen Prozess der Sakralisierung beschrieben. S. v. a. Joas, Die Macht des Heiligen, Suhrkamp 2017. Der Gottesdienst lässt sich geradezu beschreiben als liturgisch inszeniertes Sakralisierungsgeschehen im Sinne von Joas.
8 Als Autorität von absolutem Ernst definiert Hermann Schmitz das Göttliche.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2024