Es herrscht moralisierende Maßlosigkeit, Lust am öffentlichen Richten, Tugendterror auf Kosten historischer Kontexte und biografischer Schattierungen: Der moralische Hochsitz ist offenkundig ein woker Sehnsuchtsort geworden – konstatiert Klaus Beckmann im Blick auf den Hype der Cancel Culture. Das läuft jedoch dem evangelischen Menschenbild zuwider und sollte eigentlich den Protest der Protestanten hervorrufen.
Unerbittlich
In Pullach wurde Otfried Preußler gerichtet: Er ist NS-befleckt, das ehrwürdige örtliche Gymnasium möchte daher den Namen des Kinderbuchautors nicht mehr tragen. Menschen, die weder selbst unter Diktaturbedingungen leben mussten noch gar literarische Leistungen vom Rang Preußlers vorweisen können, sprechen einem Intellektuellen des 20. Jh. ein striktes moralisches Urteil. Mich schmerzt das, denn ich verdanke Preußler neben schönen (Vor-)Leseerlebnissen manche Anregung zu einem Konventionen verlassenden, womöglich „weltoffen“ zu nennenden Denken. Für einen naziverherrlichenden Text aus dem Jahr 1941 – da war er 17! – habe er sich nicht öffentlich entschuldigt, befand man jetzt in Pullach. Somit nicht makellos, tauge Preußler nicht mehr zum „Vorbild“. Dass er sich später mit kollektivem Ungeist sensibel und klug auseinandersetzte, bleibt unbeachtet.1
Schulmeisterei dieser Art macht mir Angst und Bange. Selbst habe ich ein Theodor-Heuss-Gymnasium besucht; dass der Namensgeber 1933 dem „Ermächtigungsgesetz“ zugestimmt hatte, wurde in der Oberstufe kontrovers diskutiert, es war lehrreich und machte uns etwas bewusst von Schwäche, Irrtum und Verstrickung als Teil menschlicher Existenz. Auf die Idee, Heuss zu „canceln“, kamen wir noch nicht (eine „Entschuldigung“ zu verlangen, hätten die meisten wohl allzu gouvernantenhaft gefunden – da moralisch aufgeplustert und sachlich verharmlosend zugleich). Ich frage: Schließt christlich und ebenso demokratisch-liberal geprägte Persönlichkeitsbildung nicht ein, sich Mehrdeutigkeiten und Brüchen auszusetzen und daran zu wachsen – statt Belastete kalt zu entsorgen?
Kirchliche Repräsentanten der NS-Zeit wie der bayerische Landesbischof Hans Meiser verschwinden von Straßenschildern. Im oberpfälzischen Weiden ziert das Schild der Bischof-Meiser-Straße der naiv-vielsagende Zusatz: „In der heutigen historischen Begutachtung wird Herr Meiser in seinem Handeln während der NS-Zeit eher als eine ambivalente Person betrachtet“ – als ob je eine Person gelebt hätte, die keine Ambivalenzen aufwies! Die blanke conditio humana mutiert zum gesellschaftlichen skandalon.2
Monströses Menschenbild
Es herrscht moralisierende Maßlosigkeit, Lust am öffentlichen Richten, Tugendterror auf Kosten historischer Kontexte und biografischer Schattierungen: Der moralische Hochsitz ist offenkundig woker Sehnsuchtsort geworden.
Was in der bayerischen Provinz geschieht, ist symptomatisch für eine gesellschaftliche Tendenz, die auch die Kirche erfasst. Als ich kürzlich vor Vertretern der Unternehmensdiakonie ein paar Gedanken zu evangelisch geprägter Fehlerkultur äußerte, intervenierte ein Vorstandsmitglied einer evangelischen Krankenhaustiftung, er habe von mir nun manches zum Umgang mit Fehlern gehört, aber es müsse doch darauf ankommen, „gar keine Fehler zu machen“.
Ein monströses Menschenbild breitet sich aus – Mixtur aus Technokratismus, Perfektionswahn und menschenjagender Sensationslüsternheit. Kraftstrotzendes Machertum im Moralischen triumphiert über jede Nachdenklichkeit – mit absehbar verheerenden Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mit dem entlastenden Wissen nämlich, dass niemand in seinem Wollen und Tun je wirklich frei sein kann und moralische Makellosigkeit folglich eine zutiefst unmenschliche Forderung darstellt, schwindet auch die Bereitschaft, im als fehlbar markierten Mitmenschen den Gleichen zu sehen: „Zur Würde eines Menschen gehört die Einsicht, dass alle innere Selbständigkeit zerbrechlich ist, auf Sand gebaut. Diese Einsicht kann ein kostbares Gefühl der Solidarität entstehen lassen.“3
Auf dem Schuldenkonto der protestantischen Kirche steht sicherlich kein Zuviel an Rechtfertigungslehre,4 sondern eher eklatanter Mangel an einer von Luther, Paulus und auch den Erzählungen des AT bestimmten Anthropologie, die geeignet wäre, moralische Hysterie einzugrenzen und so den gesellschaftlichen Zerfall zu bremsen. Jedem, der in ethisch komplexer Situation heute handeln muss und dabei zwangsläufig riskiert, sich ethisch zu kompromittieren, kann buchstäblich himmelangst werden, wird mit der Sakralisierung weltlichen Richtig-Seins doch der existentielle Freiheitsraum des simul iustus et peccator zunichte. Von meinen Erfahrungen aus der Seelsorge an Soldatinnen und Soldaten her will ich die modische Lust am Aburteilen etwas näher beleuchten und bewusst zugespitzt betrachten.
Das Böse erinnern
Seelsorge an Polizisten und Soldaten, kirchlicher Dienst an solchen Menschen also, deren Beruf es ist, Entscheidungen des Staates notfalls gewaltsam durchzusetzen und „in der noch nicht erlösten Welt […] nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens […] für Recht und Frieden zu sorgen“ (Barmen V), stellt die Kirche besonders auf die Probe. Schließlich können Angehörige „waffentragender“ Berufe ethisch existentiell gefordert sein wie nur wenige andere Professionen. Zu oft aber zeigt sich „bei Kirchens“ die Tendenz, im Umgang mit hier virulenten Fragen „Haltungen“ und „Grundsätze“ schlicht letztverbindlich zu setzen – ohne angemessene theologische und ethische Reflexion. Dabei läuft Kirche Gefahr, die reformatorische Grundeinsicht in den weltlichen, stets von Ambivalenzen geprägten Charakter politischen Handelns zu verleugnen, die Komplexität realer Problemlagen zu übergehen und letztlich Gewissen zu „kolonisieren“.5 Menschliches Maß und menschliche Einsicht werden zuweilen vermisst. Analog zu einem isolierten „Korpsgeist“ in Teilen der Soldatenschaft lassen sich hier „überzeugungsgetragene Subkulturen“ erkennen.6
In der öffentlichen Wahrnehmung ist auch die evangelische Kirche Teil einer Diskurs-Unkultur, zu der die Journalistin Hanna Bethke festgestellt hat, man gefalle sich „demonstrativ in seiner eigenen politischen Haltung“. Die Akzeptanz „Andersdenkender“ gelinge nur, soweit diese von den Positionen der eigenen Gruppe gerade nicht abwichen, „andersdenkend“ also lediglich gegenüber einem unterstellten „mainstream“ seien.7 Kirche zeigt sich so als „Gesinnungsmilieu“, nicht aber als Gemeinschaft gerechtfertigter Sünder, die ihrer Fehlerhaftigkeit zum Trotz in der Welt zur Verantwortung gerufen sind.8
Humane Gedenkkultur
Öffentliche Empathie für Soldaten als Menschen im ethischen Zwiespalt ist naturgemäß auch epochenübergreifend gefordert. Über das, was „Gedenkkultur“ ist und leisten soll, muss daher gründlich nachgedacht werden. Prinzipiell dazu bereit, für ihr Land ihr eigenes Leben zu riskieren, haben Soldaten ein existentielles Interesse daran, wie die Gemeinschaft Soldaten ein Andenken bewahrt. Kaum werden platter Heldenkult und schönfärbendes Überspielen der Fehlgänge deutscher Militärgeschichte dabei erwartet. Sehr wohl erwartet wird hingegen basale Menschlichkeit:Rücksichtnahme darauf, dass sich niemand je den Umständen seiner Zeit völlig entziehen kann, und Unterscheidung gelebter Kameradschaft von fragwürdigen politischen Absichten, die sich des Militärs bedienten. Kollektive und individuelle Fehlgänge der Vergangenheit erheischen, so betrachtet, in erster Linie Trauer – darüber, wozu Menschen im Kontext bestimmter Umstände immer wieder bereit waren, wozu sie sich hinreißen und missbrauchen ließen und welche moralische Entstellung sie sich selbst zufügten.
Harte und historisch wohlfeile Verdikte vom moralischen Hochsitz erweisen sich demgegenüber als Symptome einer dissozialen Anti-Kultur, die das Wesen menschlicher Existenz umfassend verfehlt. Es sei deshalb unterstrichen: In biblisch geprägter Tradition, insbesondere der Überlieferung des Exodus, verwebt sich die Freude über errungene Freiheit mit der Trauer um die ihrer eigenen Bosheit erlegenen Feinde. Der Sieger der Befreiungsgeschichte gelangt erst dadurch zum Ziel, dass er die Mit-Humanität des Besiegten anerkennt. Zur Exodus-Vergegenwärtigung des Sederabends gehört es folglich konstitutiv, der in den Plagen umgekommenen Ägypter zu gedenken, auch der im Meer ertrunkenen Soldaten des Pharao.9 Nur dann nämlich bringt der Sieg über das Böse einen moralischen Gewinn, wenn der Sieger mit dem Besiegten die Erfahrung moralischen Gefährdetseins zu teilen lernt.
Kluge Erinnerungsarbeit
Die in den Streitkräften gepflegte Erinnerung kann somit als zentrale Aufgabe, ja Prüfstein politischer und ethischer Bildung verstanden werden. Sie verdient gesamtgesellschaftlich Interesse. In der Gedenkkultur der Bundeswehr bedarf es, so lässt sich das eben Gesagte zusammenfassen, eines emanzipatorischen Horizontes, der die abstrakte Abrechnung mit geschehener Schuld – insbesondere im Kontext der Wehrmacht – überwindet, zugleich aber nicht in heroische Verklärung zurückfällt. Einfühlende komplexe Fehleranalyse ist gefordert, nicht moralische Vernichtung dessen, der sich fehlbar zeigte. Kluge Erinnerungsarbeit weiß zu beherzigen, dass jede reflektierte Beschäftigung mit Geschichte in der „Erkenntnis ihrer Gegenstände als letztes hermeneutisches Prinzip eine Wiedererkenntnis seiner selbst“ vermittelt.10 Geschichte lehrt conditio humana. Paulus präzisiert und mahnt: „Worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest.“ (Röm. 2,1)
Die große Herausforderung des Gedenkens liegt darin, einerseits Tätern der Vergangenheit nicht „billige Gnade“ hinterherzuwerfen und damit die Opfer zu verhöhnen, gleichzeitig aber auch nicht in einen Tugendterror gegen Frühere zu verfallen, der das Band der Mitmenschlichkeit zerstört, Heutige und Künftige nur moralisch einschüchtert, zur Heuchelei verleitet und letztlich das Handeln lähmt. Konstruktiver Umgang mit schuldhafter Vergangenheit will im Täter den Mitmenschen wahrnehmen, an dessen Stelle auch ich selbst stehen könnte. Wo geschehene Schuld aufgearbeitet wird, muss aufklärende Versöhnung das Ziel sein; aus ihr nämlich lässt sich künftig Mut zum Handeln gewinnen.11 Jede öffentliche Beschäftigung mit Historie hat sich in dieser Hinsicht befragen zu lassen, „ob sie hier und jetzt eher schadet oder nützt“.12 Die Akzeptanz von moralischer Beschädigung, Fehlbarkeit, Verletzlichkeit und Endlichkeit ist entscheidendes Moment jeder „Verteidigung des Menschen“ im politischen Diskurs.13
An Krisen wachsen
Zu ihrer Tradition will die Bundeswehr offiziell nur das hinsichtlich der Achtung von Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit gute und vorbildliche Handeln zählen, nicht das, was dem entgegensteht. Diese an sich nachvollziehbare Entscheidung birgt allerdings die Gefahr, ein verkürztes Menschenbild zu verfestigen und die Gedenkkultur moralistisch aufzuladen. Der früher am Zentrum Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr tätige Theologe Sven Behnke moniert deshalb, neben der Festlegung einer „guten“ und identitätsstiftenden Tradition müsse es auch eine Erinnerungskultur geben, die das Zweifelhafte und Nicht-Gelungene inkludiert. Zwischen „traditionswürdig“ und „erinnerungswürdig“ solle unterschieden werden. Für die Identität der Bundeswehr sei das Erinnern der Abgründe deutscher (Militär-)Geschichte sowie das Erinnern von Fehlern und Versagen in der eigenen Geschichte unverzichtbar. Eine gefestigte Identität der Bundeswehr bedürfe einer aus und an Krisen gewachsenen Gedenkkultur, die den Umgang mit Schuld und die Frage nach der Verantwortung für Misserfolge und Scheitern nicht ausblendet, sondern der Reflexion individuellen und institutionellen Versagens Raum gibt.14 Diese Einsicht lässt sich auf den Umgang unserer Nation mit schuldbeladener Vergangenheit in allen Teilbereichen übertragen.
Bei genauer und individueller Betrachtung weist das Bild der Wehrmacht viele Schattierungen auf – wenngleich die Wehrmacht als Ganze sicherlich nicht „traditionswürdig“ heißen kann. Fraglos aber kann die Bundeswehr bei denjenigen anknüpfen, die als Wehrmachtssoldaten dennoch der Humanität dienten: die Verfolgten im In- und Ausland halfen, mörderische Befehle hintertrieben, Gegner des Regimes deckten, bürokratische Spielregeln bis zur Grenze der Sabotage ausdehnten, Kameradschaft praktizierten, ohne damit NS-Kriegsziele zu unterstützen.15
Zu denken gibt in diesem Kontext das Zeugnis des Pfarrers und Nazigegners Heinz Wilhelmy, der bis 1939 von seiner „deutsch-christlichen“ Kirchenleitung und einer Meute aus Spitzeln und Zuträgern zielstrebig um die berufliche Existenz gebracht worden war, in der Wehrmacht aber geradezu einen persönlichen Schutzraum fand: „Ich konnte mit meinen Kameraden offen reden, ohne zu befürchten, dass ich hinterrücks angezeigt würde! Sie wussten nämlich, wie ich über das ‚Dritte Reich‘ dachte.“16
Vergewaltigung des Menschenmaßes im Namen moralischer Reinheit
Wie berechtigt der zitierte Einwand Behnkes ist, wird im Horizont der Gedenkkultur besonders dort deutlich, wo das zu inkludierender Selbstkritik mahnende Menschenbild, wie es maßgeblich in der Reformation und deren biblischer Grundlage (Röm. 3,23!) wurzelt, explizit unerwünscht ist, da es angestrebte harte moralische Scheidungen vereitelt. Selbst kirchlich engagierte Akteure sind manchmal nicht dagegen gefeit, einer der evangelischen Botschaft widerstreitenden perfektionistischen Anthropologie zu verfallen, die einen auf Lernerfahrungen orientierten, selbstkritisch inklusiven Blick auf Schuld und moralisches Scheitern nicht erlaubt. Im Umgang mit dem Nationalsozialismus wird so aber der historische Sieg über die Gewaltherrschaft und deren monströses Menschenbild moralisch verspielt: Rigoroses Aburteilen verwehrt dem Besiegten jeden Anteil an verbindender Humanität und lässt aufs Neue unmenschliche Monstrosität den Diskurs bestimmen. Statt Befreiung vom Übermenschlichen greift so nur neuerliche Vergewaltigung des Menschenmaßes Platz – jetzt im Namen moralischer Reinheit.
Im Sinne des normativ evangelischen Menschenbildes der iustificatio sola gratia sollen Fehler nicht verleugnet werden; jedoch gilt es, Fehler so anzusehen, dass die Tat kritisiert und verurteilt, der Täter aber nicht moralisch vernichtet und in der Verurteilung der Tat die mitmenschliche Solidarität gewahrt wird: Ich selbst könnte, widrige Umstände vorausgesetzt, am Platz des Täters stehen. Was er getan hat, ist auch mein möglicher Schaden, der mich zum Bedenken und Lernen herausfordert. Unmenschliche Rigidität hingegen, nach rückwärts gewandt, leistet einem furchtbestimmten Menschenbild Vorschub: Die Tat grenzt aus der Gemeinschaft des Menschlichen aus. In der Führungskultur der Bundeswehr – und längst nicht nur dort – bewirkte ein von vornherein ethisch überforderndes, Fehlverhalten ausgrenzendes Verständnis des Menschen, dass Fehler nicht konstruktiv bearbeitet, sondern schamhaft verborgen würden. Dies gilt weit über das Militär hinaus.
Ausgrenzender Geschichtsaktivismus
Wo eine fehleroffene Betrachtung nicht umhinkommt, im schuldbeladenen Täter der Vergangenheit den Mitmenschen zu sehen, ergeht sich moralistischer Urteilsdrang in affektiver Polarisierung und scheut auch populistische Elemente nicht: Wer sich der Ausgrenzung des schuldigen Mitmenschen verweigert, gerät schnell selbst in den Fokus plakativer Feindmarkierung.17 Wird Abweichung zum Sakrileg, schließen sich die Reihen – jeder, der das schlichte ausgrenzende Verwerfungsurteil nicht teilt, riskiert, als Komplize der inkriminierten Tat abgetan und aus dem Diskurs der Reinen verbannt zu werden. Der die Ausgrenzung Verweigernde sieht sich schnell selbst an die Schandwand der schwarz-weißen Scheidung gestellt.
Zudem scheint es in diesem manichäischen Denkmuster völlig legitim, bewusst diskreditierende Entstellungen vorzunehmen, der vermeintlich guten Sache wegen.18 Einerseits tritt darin ein für Bewegungen mit überschießendem moralischen oder politischen Anspruch typisches Verhalten zu Tage; im Frühjahr 1933 gab Gottfried Benn, seinerzeit glühender Fürsprecher des Hitlerschen Führerstaates, die entsprechende Parole aus: „Halte dich nicht auf mit Widerlegungen und Worten, habe Mangel an Versöhnung, schließe die Tore, baue den Staat!“19 Andererseits verrät diese Vorgehensweise aber eine tiefe Zeitgebundenheit ihrer altersbedingt zum weiten Kreis der „Nazikinder“ zählenden Akteure.
Die Frage nämlich ist berechtigt, ob die zur Schau getragene Lust am Ausgrenzen und Entsorgen nicht das genaue Gegenteil stabiler Selbstsicherheit erweist. Historisch aufgeklärt betrachtet, lassen sich in einem moralisierenden Geschichtsaktivismus, der Versöhnungsansätzen nur radikal destruktiv begegnen kann, tiefe seelische Verwundungen auffinden.
Den „selbstgerechten Furor der Nachgeborenen“ als anthropologisch ungebildet und „lebensdumm“ zu kennzeichnen, erschöpft das Problem daher nicht und wird den Akteuren nicht gerecht.20 Ihr dissozialer Moralismus spiegelt vielmehr die seelische Existenznot einer Alterskohorte, die insgesamt einer „erkältenden“ Sozialisation ausgesetzt war. Mit Fug und Recht kann die These formuliert werden, „das Schweigen der Eltern über die Nazivergangenheit und die selbstgerechte Anklage vieler ihrer Kinder“ seien „einfach auch Ausdruck der Bindungslosigkeit zwischen Eltern und Kindern gewesen“.21 Von Totalitarismus und kollektiver Beschämung bestimmte Lebensumstände haben bei vielen (Nach-)Kriegskindern elementar die Persönlichkeitsbildung beschädigt und diese zu „Experten für Gefühlsverleugnung und Selbstbetäubung“ gemacht – zum anhaltenden Schaden des psychosozialen Klimas.22
Verfiele Erinnerungspolitik einem ausgrenzenden Moralismus, so nähme unter heute Verantwortlichen das Einschüchterungsgefühl weiter zu, die Bereitschaft zu couragiertem Handeln schwände weiter. Soldaten, die gezwungen sind, auch in ethisch (über-)komplexen, mit hohem Schuldrisiko verknüpften Lagen zu agieren, müssten sich in die Enge getrieben fühlen, wo das öffentliche Urteil „Richter Gnadenlos“ spielte. Vermehrtes Ausweichen in Legalismus, weiter ausuferndes Absicherungsdenken und das Vermeiden heikler Entscheidungen sind zwangsläufige Effekte moralistischer Übersteuerung. Demgegenüber ist die entfürchtende, politisch konstruktive Leistung eines Fehler und Schuld inkludierenden Menschenbildes evident – dieses freilich erfordert kritische Selbsterkenntnis.
Gerichtsfuror statt Hoffnung?
Der „nichtarische Christ“ und Philosoph Karl Löwith hat die Kirche daran erinnert, dass christliche Hoffnung sich allein auf Gottes endzeitliches Handeln und nicht etwa auf eine innergeschichtliche Vervollkommnung des Menschen beziehen kann: „Hoffnung ist nur durch Glauben gerechtfertigt, und dieser rechtfertigt sich selbst. Vielleicht gedeihen beide nur auf den Trümmern allzumenschlicher Hoffnungen und Erwartungen, auf dem fruchtbaren Boden der Verzweiflung an all dem, was Illusionen und Enttäuschungen unterworfen ist.“23 Ethischer Perfektionismus kann, folgt man dem, im Modus der Zertrümmerung ein Segen werden. Nur so!
Anstößiges zu „canceln“, statt es mitmenschlich auszuhalten, mündet zwingend in einen Prozess beschleunigter sozialer Atomisierung. Denn als „vorbildlich“ gilt es hier ja, unverzüglich mit jedem Menschen zu brechen, der sich unvollkommen und angreifbar gezeigt hat. Dabei muss jeder Einzelne damit rechnen, bei Verletzung eines moralischen Gebots rigoros geächtet zu werden. Demgegenüber ist eine plurale Gesellschaft auf bürgerschaftlichen Zusammenhalt angewiesen – der nur dort gedeihen kann, wo eine human-inklusiv grundierte Fehler- und Erinnerungskultur herrscht. Heranwachsenden die Einsicht mitzugeben, dass jeder Mensch ein permixtus ist, sollte folglich Anspruch und Merkmal einer guten Schule sein. Eine Kirche, die bei Trost ist, verschreibt sich nicht moralischer Härte, sondern bittet ihren Herrn: „Sei gut für allen Schaden!“ (EG 477,7)
Kirchliches Handeln enthält „die Chance, ein Gegengewicht zur unbarmherzigen Suche nach dem ‚gelingenden Leben‘ zu bieten“ und das „misslingende“ Leben zwar nicht moralisch zu legitimieren, es jedoch coram Deo anzuerkennen.24Dies kann sich mit darauf berufen, dass Jesus in der großen Endzeitrede keineswegs nur den Platz solcher „geringster Geschwister“ einnimmt, die unschuldig im Gefängnis gewesen sind (vgl. Mt. 25,36). Als Regelbrecher rechtmäßig sozial gebrandmarkt zu werden, gehört demnach zu den Ausdrucksformen eines für Gott erbarmenswerten Menschseins – wobei der Gott, der sich nicht nur in das Leiden, sondern in die menschliche Schuld hinein erniedrigt, das theologisch begründete Maximum an moralischer Provokation verkörpert.
Überbordender Moralismus, auch in der protestantischen Kirche, wirkt demgegenüber theologisch entleert und kann schwerlich von der beklemmenden Erfahrung gelöst werden, dass die Kirche „am Sarge merkwürdig stumm geworden ist“.25 Ist kirchlicher Horizont verloren gegangen, dort, wo es darauf ankommt wie nirgends sonst? Ersetzt Moralismus die Eschatologie: Sakralisierung des innerweltlichen Richtigseins statt getrostem Hoffen auf Gottes gütiges Gericht, verzweifeltes Strampeln um Reinheit statt Vertrauen auf Neuschöpfung?
Moralistischer Totalitarismus und religiöse Diktatur
Wie dem im Einzelnen auch sei: Das geistige Erbe des Westens wird heute massiv angefochten durch Totalitarismus und religiöse Diktatur. Dass das Aushalten-Können von Widersprüchen und Gegensätzen Ausdruck innerer Stärke ist, darf gerade in der brisanten aktuellen Situation keine belanglose Phrase bleiben. Moralistischer Richtgeist gegenüber Früheren verkennt außerdem, wie exponiert wir Heutige sind. Anders als solche Akteure in der Vergangenheit, denen heute wohlfeil Antijudaismus vorgeworfen wird, sind wir, die wir – auf welche konkrete Weise auch immer – derzeit in der Kirche das Sagen haben, nicht nur selbst unter demokratischen Bedingungen aufgewachsen, sondern haben im Studium ausgiebig von den lehrreichen Früchten des jüdisch-christlichen Dialogs zehren können. Bewähren wir diesen Vorsprung heute, wo es darauf ankäme, dem Staat der Shoah-Überlebenden wirksam beizustehen und im Innern jüdisches Leben mutig zu schützen? Wer selbst richtet, wird gerichtet. Nur so ein Gedanke …
Anmerkungen
1 https://www.br.de/nachrichten/kultur/pullach-otfried-preussler-gymnasium-will-namen-aendern,U512GGy (eingesehen am 30.03.2024).
2 Eine Übersicht der „gecancelten“ Bischof-Meiser-Straßen findet sich hier: https://www.sonntagsblatt.de/bischof-meiser-strassen-bayern-umbenennungen (eingesehen am 30.03.2024). Ausgerechnet aus Pullach ist zu vermelden, dass dort die Hans-Meiser-Straße erhalten bleibt. Im Jahr 2022 ließ sich die SPD-Fraktion im Gemeinderat zitieren, man habe „die Ambivalenz im Leben von Hans Meiser“ gewürdigt; der vermeintliche „rassistische Antisemit“ sei „von den Nazis als ein Judenfreund bezeichnet und als Verräter diffamiert worden“; https://www.sueddeutsche.de/muenchen/landkreismuenchen/pullach-hans-meiser-strasse-bischof-hans-meiser-antisemitismus-deutsche-geschichte-1.5571912 (eingesehen am 30.03.2024).
3 Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, Frankfurt/M. 2015, 86.
4 Dazu kritisch Johannes Fischer, Ist Luthers Lehre schuld? https://zeitzeichen.net/node/10977 (eingesehen am 30.03.2024).
5 Vgl. Horst Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München 2018, 148.
6 Vgl. Reiner Anselm, Notwendige Abschiede. Zur evangelischen Diskussion um Friedensethik und Militärseelsorge, in: Zeitzeichen 2019, Heft Juli, 8-11, hier: 11.
7 Vgl. Hanna Bethke, Anders denken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.05.2019.
8 Vgl. Johannes Fischer, Kirche als Gesinnungsmilieu? Eine kritische Anfrage in Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer, in: DPfBl 2020, 201-204, bes. 201.
9 Vgl. https://raawi.de/pessachseder_die-aufzaehlung-der-zehn-plagen; https://www.deutschlandfunk.de/juedisches-pessach-wir-feiern-die-freiheit-100.html (beide eingesehen am 30.03.2024).
10 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Philosophische Lehrjahre, Frankfurt/M. 1977, 153.
11 Vgl. Notger Slenczka, Auch am Täter orientiert, in: Zeitzeichen 2022, Heft Mai, 12-14, hier: 14.
12 Vgl. Per Leo, Tränen ohne Trauer, Stuttgart 2020, 13.
13 Vgl. Thomas Fuchs, Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie, Berlin 2020, 113.
14 Vgl. Sven Behnke, Das Gute erinnern ohne das Böse zu vergessen. Theologische Erwägungen zum Traditionsverständnis der Bundeswehr, Vortrag im Rahmen der Tagung „Die Normativität sozialer Gedächtnisse“ des Arbeitskreises „Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen“ in der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (18.03.2022), vom Autor zur Verfügung gestellt.
15 Vgl. exemplarisch: Simon Malkès, Der Gerechte aus der Wehrmacht. Das Überleben der Familie Malkes in Wilna und die Suche nach Karl Plagge, Berlin 2014.
16 Heinz Wilhelmy, Aus meinem Leben, Speyer 1996, 34.
17 Ein bezeichnendes Beispiel gab ein auf dem DEKT 2023 in Nürnberg gehaltener Vortrag „Dietrich Bonhoeffer. Von der Kriegsbegeisterung zum Pazifismus“, der auf eine Publikation von mir Bezug nahm (vgl. Klaus Beckmann, Dienstweg – kein Durchgang? Als Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr, Berlin 2022, 238ff). Meine Impulse zur Gedenkkultur wurden dabei entstellend zitiert; zusätzlich vermittelte der Vortragende den Eindruck, als Vertreter der Militärseelsorge eignete ich mir eine ethisch unzulässige Position an. Detlef Bald, Jahrgang 1941 und nach eigenen Angaben „Politikwissenschaftler, Militärhistoriker, Friedensforscher“, machte seinen Vortrag hier öffentlich zugänglich: https://hapax.at/index.php/texte/meinungen/601-dietrich-bonhoeffer-von-der-kriegsbegeisterung-zum-pazifismus-detlef-bald (eingesehen 30.03.2024). Den Kontext der Einlassung Balds bildet die innerhalb der Bundeswehr geführte Diskussion um Admiral Rolf Johannesson (1900-1989). Dieser war als Berufsoffizier sowohl in der Wehrmacht als auch in der Bundeswehr tätig. Ab den 1950er Jahren zählte er zu den prominenten Fürsprechern des „Staatsbürgers in Uniform“ und trug zur mentalen Loslösung von der Kriegsmarine wesentlich bei. Zu seiner Biografie gehört freilich genauso, dass er im Frühjahr 1945 an Todesurteilen gegen Mitglieder einer Widerstandsgruppe auf Helgoland beteiligt war. Seine Traditionswürdigkeit für die Bundeswehr ist daher umstritten; niemand im Verteidigungsministerium oder der Bundeswehr leugnet oder beschönigt heute das Fehlverhalten Johannessons am Ende des Zweiten Weltkriegs. In meinem zitierten Buch nenne ich Johannesson einen „Mittäter im Terror der Endphase des Naziregimes“, seine traditionspolitische Herausstellung in der Bundeswehr bezeichne ich als „unglücklich“ (vgl. Beckmann, a.a.O., 241ff). Zugleich betone ich allerdings, dass im rückblickenden Umgang mit Schuldigen der NS-Zeit das Menschenbild der evangelischen Rechtfertigungsbotschaft nicht beiseitegelassen werden sollte.
18 Detlef Bald verzeichnete meine Position regelrecht zur Parteinahme zugunsten eines NS-Täters: „Nun setzte sich der Militärdekan, der persönliche Referent des Militärbischofs in Berlin, für eine positive Würdigung dieses Admirals ein. Jeder solle sich vor einer ‚schnellen Aburteilung … hüten‘; vielmehr sei ‚Versöhnungsfähigkeit‘ denen gegenüber gefragt, ‚die als Täter in ihrer Zeit schuldig wurden‘.“ Auffällig ist, dass Bald – wahrheitswidrig – insinuierte, mein von ihm behaupteter Einsatz „für eine positive Würdigung dieses Admirals“ stehe mit der Institution Militärseelsorge in Verbindung. Tatsächlich erschien mein zitiertes Buch geraume Zeit nach meinem Ausscheiden aus der Militärseelsorge. Der Gedanke liegt nicht fern, der (kirchen-)politisch umstrittenen „Soldatenkirche“ sollte hier „eins verpasst“ werden.
19 Zitiert nach Anatol Regnier, Jeder schreibt für sich allein, Schriftsteller im Nationalsozialismus, München 2020, 37.
20 Vgl. das Interview mit dem Filmemacher Dominik Graf, Kann ein guter Autor ein Nazi sein?, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 27.08.2023.
21 Vgl. Sabine Bode, Die deutsche Krankheit – German Angst, Stuttgart 2006, 179f.
22 Vgl. Evelyn Roll, Pericallosa. Eine deutsche Erinnerung, München 2023, 76.
23 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1983, 221.
24 Vgl. Christine Wenona Hoffmann, Die politische Dimension seelsorglicher Praxis, in: ZThK 2024, 82-103, hier: 100.
25 Vgl. Eberhard Jüngel, Die Leidenschaft, Gott zu denken, Zürich 2009, 79.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2024