Vor 225 Jahren veröffentlichte Friedrich Schleiermacher seine Reden über die Religion. Schleiermachers für seine Zeit ungeheuer innovative Interpretation wurde in der Folgezeit ebenso bejubelt wie mit Verachtung gestraft. Tatsächlich vermag sie auch für die gegenwärtige Krise von Religion und Glauben orientierend sein, wie Hans-Dieter Wille in seinem zweiteiligen Beitrag zeigt.

 

Als ich im Wintersemester 1968 zum ersten Mal Schleiermachers Reden „Über die Religion“ las, war das eher theologische Pflichtlektüre, und Schleiermachers Verständnis von Religion als „Anschauung des Universums“ oder „Geschmack für’s Unendliche“ muteten uns in dem ungewohnten Vokabular einer romantisch-überschwänglich klingenden Begrifflichkeit als einigermaßen befremdlich an. Vollends irritierend war dann die Definition von Glauben als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ zumal für eine Generation, die später die „68-er“ heißen sollte und für die die Idee der Freiheit, also die Emanzipation aus Zwang und Abhängigkeiten geradezu Identität stiftende Bedeutung hatte. Tilmann Mosers „Gottesvergiftung“1 hat Religion verstanden als „ekklesiogene Neurose“, also als Krankheit – damals ein Bestseller. „Religion“ galt als gefährlich oder – nicht weniger gefährlich – sie war „Opium“ für die an den „Verhältnissen“ Leidenden, dazu ausersehen und benutzt („instrumentalisiert“), die Widerstandskraft, die „Kritik“ der Vernunft zu lähmen und auszuschalten. Nicht wenige der Kommilitonen erinnerten sich an ihre eigene „religiöse“ Biografie.

 

Religion – unter Verdacht und „erledigt“

„Religion“ und alles, was mit diesem Prädikat versehen wurde, stand demnach unter Verdacht. So waren wir, die wir im Wintersemester 1967/68 unser Theologiestudium begannen, froh, bei Karl Barth zu lesen, dass Religionskritik zur Aufgabe jeder „ordentlichen“ Theologie gehöre, ja dass das eine ihrer Kernaufgaben sei. Und wir hatten gelernt, dass der Glaube selbst – und zwar seinem Wesen nach – kein Freund, sondern ein skeptischer Begleiter jedweder Religion sei.

Hatte man nicht zu Recht der liberalen Theologie und ihren sich in der Mehrheit auf Schleiermacher berufenden Vertretern den Vorwurf gemacht, sie hätten vor dieser kritischen Aufgabe einer biblisch begründeten Theologie versagt und stattdessen den politischen und kulturellen Trends jener Zeit nachgegeben?! War nicht die Unterstützung der Kriegspolitik des Kaiserreiches und deren „religiöse“ Rechtfertigung durch das Manifest jener 93 Intellektuellen (darunter die namhaften Theologen jener Zeit ein deutlicher Beleg dafür?!

„Würde er“ (sc. Schleiermacher) – so fragt Karl Barth 1968 in dem berühmten Nachwort zu einer Schleiermacher-Auswahl – „jenes Manifest vielleicht auch unterschrieben haben? Fichte sicher, Hegel vielleicht auch, aber Schleiermacher?“ „Nein“ – schreibt er, so wie er ihn kennen gelernt habe, „würde … er das nicht getan haben.“ Doch – so fährt er fort: „Entscheidend durch ihn war nun einmal eine ganze Theologie, die sich in jenem Manifest und allem, was ihm … folgte, demaskierte, begründet, bestimmt und beeinflusst.“2

Diesen Vorwurf konnten wir unseren Lehrern nicht machen. Aber wir hatten die Aussprüche von Richard Nixon im Ohr, wo er angesichts eines von Napalm verseuchten Landes von der „Mission“ und vom „heiligen Auftrag“ sprach, die die USA in Vietnam zu erfüllen hätten. So schien uns „Religion“ eher ein Wort zu sein, das wegen seiner Unschärfe und ideologischen Verwendbarkeit bestens geeignet war, Einlasstor und Sammelbecken für jene „andere(n) Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten“ zu sein, die die Barmer Theologische Erklärung ausdrücklich als zusätzliche „Quelle“ kirchlicher Verkündigung verworfen hatte. (Barmen I) Für uns war es darum logisch, dass wir mit Bonhoeffers Plädoyer für eine „nicht religiöse Interpretation“ der biblischen Texte sympathisierten und die „Gott-ist-tot“-Theologie, die Ende der 1960er Jahre die theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen bestimmte, als konsequente Fortführung von Bonhoeffers provokanter These sahen. Religion – so schien es – hatte sich für viele meiner Generation mit und trotz Schleiermacher und seiner Wirkungsgeschichte auch theologisch erledigt.

 

Die Verachtung der Religion durch die Gebildeten

Doch Schleiermacher hatte Kirchengeschichte geschrieben – und wir sollten ihn gelesen haben. Freilich sahen wir anfangs keinen Grund, warum wir uns mit seinen Reden „Über die Religion“ unbedingt in die Front gerade gegen die „Gebildeten unter ihren Verächtern“ einreihen sollten.3 Waren wir nicht in unserem grundsätzlichen Misstrauen gegen „Religion“ eher auf deren Seite? Und so hatten wir einige Mühe, die Begeisterung unsrer Lehrer über das angeblich so genialische Jugendwerk Schleiermachers zu teilen.

Die Aufregung freilich, die mit den „Reden“ – nur zehn Jahre nach dem Ausbruch der Französischen Revolution verfasst – schon beim Erscheinen der 1. Auflage entstand, und zwar nicht nur in den „gebildeten“ Kreisen, machte uns neugierig. Schleiermacher, dem man später – zu Unrecht – vorwarf, sein ganzes Bestreben sei es gewesen, die christliche Religion gesellschaftsfähig zu machen, stellt sich mit dieser Schrift gerade gegen einen gesellschaftlichen Mainstream, wie er zumindest in den gebildeten, durchaus einflussreichen Kreisen der damaligen Gesellschaft vorherrschte. Mit diesem keineswegs gesellschaftlich gefälligen Verständnis von Religion und Glaube musste Schleiermacher mit Widerstand rechnen und hat deshalb seine „Reden“ zuerst anonym erscheinen lassen.

Die (Gegen-)Parole zumindest unter den Intellektuellen jener Zeit hieß: „Je mehr Bildung, je weniger Religion!“ Schleiermachers Freund Friedrich Schlegel hat sie in der angesehenen Zeitschrift „Athenäum“ 1798 veröffentlicht. Wer das verkündete, galt als „aufgeklärt“ und deshalb als gesellschaftsfähig. Zumindest in bestimmten Kreisen. Der endgültig aufgeklärte Mensch brauchte keine Religion mehr. In der Kirche Notre Dame des revolutionären Paris wurde wenige Jahre zuvor demonstrativ ein Standbild der Göttin Vernunft errichtet.

 

Bei sich selbst „Religion“ finden

Schleiermacher wollte mit seinen „Reden“ die Verächter der Religion nicht belehren oder rhetorisch beeindrucken. Was ihn veranlasst, diese Reden zu schreiben, ist eine „innere unwiderstehliche Notwendigkeit, … ein göttlicher Beruf“.4„Als Mensch rede ich zu Euch, … von dem, was die innerste Triebfeder meines Daseins ist und was mir auf ewig das Höchste bleiben wird“.5 Er redet zu ihnen als ein Mensch, der selbst von „Religion“ existentiell durchdrungen ist. 

Was er dagegen wahrnimmt ist eine allgemeine Religionsvergessenheit, die er gerade bei den „Gebildeten“ sieht. Religion interessiert einfach nicht mehr. Religion spielt in der „Weltanschauung“ der „Gebildeten“ wie in ihrem Alltag keine Rolle. „Ich weiß, dass … es in Euren geschmackvollen Wohnungen keine anderen Hausgötter gibt als die Sprüche der Weisen und die Gesänge der Dichter, und dass Menschheit und Vaterland, Kunst und Wissenschaft … so völlig von Eurem Gemüte Besitz genommen haben, dass für das ewige und heilige Wesen, welches Euch jenseits der Welt liegt, nichts übrig bleibt, und ihr keine Gefühle habt für dasselbe und mit ihm. Es ist Euch gelungen, das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, dass ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und nachdem Ihr Euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr überhoben, an dasjenige zu denken, welches Euch schuf.“6

Doch wer Religion leugnet, leugnet die bestimmende Kraft seines Lebens. „Nicht einzelne Empfindungen will ich aufregen …, nicht einzelne Vorstellungen rechtfertigen oder bestreiten; in die innersten Tiefen möchte ich euch geleiten, in denen sie (sc. die Religion) das Gemüt anspricht; zeigen möchte ich Euch, aus welchen Anlagen der Menschheit sie hervorgeht und wie sie zu dem gehört, was Euch das Höchste und Teuerste ist …“.7 „Sucht Religion nicht in theologischen Lehrsätzen oder in Prinzipien der Moral. So notwendig sie sind – verwechselt beides nicht mit Religion. Sucht Religion vielmehr bei euch selbst! In euren elementaren Empfindungen und Gefühlen. Dort findet ihr sie.“

Weil Religion in jedem Menschen – wenn auch oft unentdeckt und unausgebildet – als eine jeweils individuell ausgeprägte Anlage oder Begabung da ist, ist sie auch durch Aufklärung nicht aus der Welt zu schaffen.

 

Religion berührt die Tiefen menschlicher Existenz

Religion ist ein Widerfahrnis, das die tiefsten Tiefen menschlicher Existenz berührt. Deswegen darf Religion nicht ignoriert, sondern muss im Gegenteil wahrgenommen und ernst genommen werden. „Religion“ so bei sich selbst (wieder) zu entdecken, ist der Impetus der „Reden“, eigentlich Schleiermachers ganzer Theologie.

Religion ist jedenfalls nicht die Summe bzw. das System dogmatischer Glaubenswahrheiten. Sie geht auch nicht auf in einer Ansammlung von Sätzen der Ethik, also der moralischen Vernunft. In beiden Fällen („Metaphysik“ und „Moral“) bleibt Religion, bleiben religiöse Sätze äußerlich, „kalt“ und unpersönlich, also im besten Fall Satzwahrheiten, die man für wahr halten kann, die aber nicht das „Innerste“ des Menschen erreichen.

So ist „Euch … zumute bei diesen Systemen der Theologie, diesen Theorien vom Ursprung und Ende der Welt, diesen Analysen von der Natur eines unbegreiflichen Wesens, wo alles auf ein kaltes Argumentieren hinausläuft und nichts als im Ton eines gemeinen Schulstreites behandelt werden kann. In all diesen Systemen … habt Ihr also Religion nicht gefunden und nicht finden können, weil sie nicht da ist.“8 Die wahre Religion ist vielmehr im „Gemüt“ verankert, in der je eigenen persönlichen Erfahrung, „verinnerlicht“ als unabtrennbarer Teil des Lebens.

Das Aufregende und auch für unseren „aufgeklärten“ Verstand Ungewohnte ist die Tatsache, dass Schleiermacher über diesen doch sehr intimen Vorgang, den er „Religion“ nennt und den er inhaltlich in den „Reden“ (noch) nicht näher bestimmt, redet. Über das, was heute und morgen zu tun ist, über Moral und das ethisch Notwendige wird in unserer Kirche viel geredet und muss auch geredet werden. Die Grundaussagen des Glaubens müssen immer wieder neu ausgelegt und kommuniziert werden, auch mit dem Ziel, einen kirchlichen magnus consensus zu erhalten oder neu herbeizuführen. Das alles hat sein Recht. Und Schleiermachers theologische Arbeit war zu einem großen Teil diesem Ziel gewidmet. Doch der Focus aller Theologie muss für Schleiermacher auf die persönlich erlebte „Religion“ gerichtet sein, auf das was nicht nur für die „Gebildeten“ „das Höchste und Teuerste“ ist.

Diese persönlichen religiösen Erfahrungen sind für Schleiermacher freilich nicht zufällig verbunden mit dem biblischen Text und der Tradition seiner Auslegung, also mit den Bekenntnissen der Kirche. „Religion“ kann nur im Rückbezug auf diese Tradition vermittelt und verstanden werden. Das gilt für Schleiermacher, auch wenn er methodisch diesen Rückbezug auf Bibel und Bekenntnis in seinen „Reden“ – um der Offenheit des Dialogs mit den „gebildeten Verächtern“ willen – „vorübergehend“ ausklammert.

 

Religion will kommuniziert werden

Es gehört zur einleuchtenden Dialektik von Schleiermachers Verständnis der Religion: Weil Religion und Glaube den persönlichsten Bereich eines jeden Menschen tangiert, dort wo Verzweiflung und Zuversicht, Krise und Neuanfang eng beieinander liegen, kann Religion auch nur persönlich plausibel und glaubwürdig vermittelt werden. Religion drängt darum nach Verstehen und Verständigung – vom intimeren (aber nicht unbedingt exklusiven) Kreis freundschaftlich Gleichgesinnter ausgehend bis hinein in den öffentlichen Raum. Es gehört für Schleiermacher zum Wesen der Religion, dass Religion, auch wenn sie im intim Persönlichen ihren Ursprung har, nicht „Privatsache“ bleiben kann und bleiben darf.

Nur in einer dogmatisch nicht reglementierten (und deswegen immer auch theologischen Missverständnissen ausgesetzten), aber keineswegs beliebigen, von der kirchlichen Tradition abgelösten Form des Miteinander-Redens kann eine freie und unverkrampfte Mitteilung dessen geschehen, was jeden einzelnen im Innersten seines religiösen Selbstbewusstseins bestimmt und bewegt. „Wie sollte er (sc. der von Religion bewegte Mensch) gerade das in sich festhalten wollen, was ihn am stärksten aus sich heraustreibt, und ihm nichts so sehr einprägt als dieses, dass er sich selbst nicht erkennen kann? Sein erstes Bestreben ist es vielmehr, wenn eine religiöse Ansicht ihm klar geworden ist, oder ein frommes Gefühl seine Seele durchdringt, auf den Gegenstand auch Andere hinzuweisen und die Schwingungen seines Gemüts womöglich auf sie fortzupflanzen. So organisiert sich gegenseitige Mitteilung, so ist Reden und Hören Jedem gleich unentbehrlich.“9

 

Ein Herrenhuter „höherer Ordnung“

Die Erziehung im Geist der Herrenhutschen Brüdergemeine, das Erlebnis von hauskreisartigen „geselligen“ Zusammenkünften der „Brüder“ – verbunden mit dem Anspruch geschwisterlicher Nähe und Vertrautheit – haben Schleiermachers Theologie und damit sein Kirchenverständnis nachhaltig beeinflusst.

Die Schulen der Brüdergemeine galten als vorbildliche Ausbildungsstätten. Hier hat Schleiermacher die individuelle Gestalt seiner Religiosität in Gemeinschaft mit anderen entwickelt. Dass Glauben nur persönlich, in „individueller“ Eigenart erlebt und verstanden werden kann, ist ihm dort vermittelt worden. Er hat die konfessionelle Toleranz der Brüdergemeine kennengelernt und sich gern an die geistliche Freundschaft zu seinen Lehrern erinnert. Auch wenn er unter manchen zwanghaften Formen des Herrenhuter Milieus gelitten hat („Die Lehre von den unendlichen Strafen und Belohnungen hatte schon meine kindische Phantasie auf eine äußerst beängstigende Art beschäftigt“, und es „kostete mich mehrere schlaflose Nächte, dass ich bei der Berechnung des Verhältnisses zwischen den Leiden Christi und der Strafe, deren Stellvertretung dieselben vertreten sollen, kein beruhigendes Facit bekommen konnte.“10), so hat er doch immer in Dankbarkeit an diese für seine Entwicklung so entscheidende Zeit gedacht: „Es gibt keinen Ort, der wie dieser (sc. wie die Brüdergemeine) die lebendige Erinnerung an den ganzen Gang meines Geistes begünstigte. Hier ging zuerst das Bewusstsein auf von dem Verhältnis des Menschen zu einer höheren Welt. Hier entwickelte sich zuerst die mystische Anlage, die mir so wesentlich ist und mich unter allen Stürmen des Skeptizismus gerettet und erhalten hat. Und ich kann nur sagen, dass ich nach allem wieder ein Herrenhuter geworden bin, nur von einer höheren Ordnung“.11

„Höhere Ordnung“ – das meint wohl: Religion hat den Einzelnen im Blick und seine ohne Religion nicht vorstellbare Bildung seiner Persönlichkeit. Dazu gehört der Austausch im kleinen überschaubaren Kreis.

Doch – hier setzt Schleiermacher sich kritisch mit Herrenhut auseinander – Religion, wie er sie versteht, verträgt keinen Zwang, keine religiösen Vorschriften, die dem „Individuum“ eine bestimmte religiöse Gesinnung einflößen wollen; sie verträgt auch keine separaten Räume, sondern sucht das offene Gespräch und die „Anregung“ durch die von anderen religiösen Erfahrungen geprägten „Brüder“. Denn bei „keiner Art zu denken und zu empfinden hat der Mensch ein so lebhaftes Gefühl von seiner gänzlichen Unfähigkeit, ihren Gegenstand jemals zu erschöpfen als bei der Religion.“12

 

An der „Religion“ der Anderen partizipieren

Dieses „Gesellige in der Religion“ sucht sich seine Gestalt selbst. Kirche – die historisch gewordene Gestalt einer solchen „Geselligkeit“ – muss deshalb so organisiert sein, dass sie solche freien und offenen Formen anbietet und zulässt. Diese Geselligkeit bleibt nicht auf Kirche beschränkt, sondern strahlt weit in die Gesellschaft hinein und bekommt auf diese Weise – so würden wir vielleicht heute sagen – öffentliche Resonanz und Relevanz. Sich über Religion zu verständigen (was etwas anderes ist, als ein bestimmtes Muster von Religion vorzuschreiben), muss darum eine Angelegenheit aller sein.

Wir könnten auch sagen: Jede religiöse Erfahrung muss darauf aus sein und hat damit das Recht, in diesen allgemeinen Verständigungsprozess mit einbezogen zu werden. Dabei ist „in der wahren religiösen Geselligkeit alle Mitteilung gegenseitig“.13 Alle geben ihre eigenen Erfahrungen an andere weiter und nehmen dabei gleichzeitig die religiösen Erfahrungen der anderen auf.

Das Idealbild einer kirchlichen Gemeinschaft scheint hier auf, wo Kirche nicht in Parteiungen und einzelne von einer bestimmten Gesinnung geprägten Konventikel zerfällt, sondern jeder und jede geradezu begierig ist, an der „Religion“ der Brüder und Schwestern im Glauben Anteil zu nehmen.

 

Was ist das eigentlich: Religion?

Was versteht aber Schleiermacher nun unter „Religion“? „Anschauen des Universums, ich bitte, befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion, woraus Ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Grenzen aufs genaueste bestimmten lassen.“14Der ungewohnte Begriff der Anschauung ist viel mehr als nur ein äußerliches Betrachten, nämlich ein Aufnehmen des „Universums“ mit allen Sinnen. „Universum“ bleibt dabei unbestimmt. Gott und Welt sind hier auf eigentümliche Weise miteinander verschränkt. Diese bewusst unbestimmte Verschränkung dient Schleiermacher als Anknüpfung für die „Gebildeten“ unter den „Verächtern“ der Religion, die selbst ihre Identität mit Vorstellungen universaler Ideen verbinden und zu „ihrem“ Universum ein ganz bestimmtes Verhältnis haben: Die religiösen Metaphysiker haben ein spekulatives Verhältnis, indem sie nach dem Sein an sich, „hinter“ allen Phänomenen suchen; das „Universum“ der Moral-Philosophen und Moral- Theologen besteht darin, dass sie – wie Fichte z.B. – an eine universale moralische Weltregierung „glauben“, die das Handeln bestimmt und normiert.

Aber nun ist das Wesen der Religion weder (sc. spekulativ-metaphysisches) Denken noch eine (sc. auf einen bestimmten Handlungsvollzug ausgerichtete) Moral, sondern „Anschauung und Gefühl.“15 Im Anschauen des Universums ist der Mensch wie das Auge, auf das Licht fällt, ohne dass es dafür etwas „tun“ muss, im Zustand des Empfangens, jenseits aller denkerischen und moralischen Anstrengungen in der Haltung „kindlicher Passivität“. Denn „alles Anschauen gehet aus von einem Einfluss des Angeschauten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefasst und begriffen wird.“16 Religion ist ein Akt der Wahrnehmung, „Sinn und Geschmack für’s Unendliche“, wie Schleiermacher sagen kann, also ein „ästhetischer“ Vorgang.

 

 

Dabei ist Religion alles andere als Geschmackssache, wonach jeder sich die Religion seiner Wahl zusammenbastelt. Das wäre eine sehr äußerliche und rudimentäre Wahrnehmung. So nehmen heute viele Menschen Religion wahr, als ein vielleicht interessantes bis aufregendes Event, der, weil dessen Wirkung schnell verfliegt, von einem nächsten Event abgelöst werden muss.

Doch Schleiermacher geht es bei seinem Religionsverständnis um eine Verankerung im Innersten des Menschen, um seine – in bemerkenswerter Nähe zu Luther – innere Gewissheit. Gefühl ist dabei nicht zu verwechseln mit Gefühligkeit, also mit zufälligen religiösen Gefühlsregungen, sondern ein Lebendigwerden von Religion in der gesamten Existenz des Menschen, dort, so könnten wir sagen, wo Herz des Menschen schlägt und woran sein Herz hängt. Oder – mit einer zeitgenössischen Vokabel ausgedrückt – wo seine Identität, sein Selbst, auch sein Selbstwertgefühl berührt ist – und zwar auf eine im Wortsinn empfindliche Weise. In der Erfahrung von Religion ist darum der Mensch als ganzer beteiligt – oder er ist es gar nicht.

 

Atheismus ist im Grunde unmöglich

Schleiermacher kann darum auch von einem „frommen Gefühl“ sprechen als von einem „ursprünglichen Existentialverhältnis“. Gefühl ist nichts Sentimentales, sondern – wie es später in seiner Glaubenslehre heißt: „frommes Selbstbewusstsein“.17 Dieses Selbstbewusstsein ist auf der anderen Seite nicht nur „für sich allein“, sondern in demselben ist das Bewusstsein von einem Anderen, von Gott „mitgesetzt.“ Denn „Gott ist uns gegeben im Gefühl auf eine ursprüngliche Weise.“18

Wenn das aber gilt: Gott ist in meinem Selbstbewusstsein immer schon dabei, ob ich das nun wahrhaben will oder nicht, ist Atheismus für Schleiermacher im Grunde unmöglich. Die Vorstellung von der Einheit (Identität) der Person, die von ihrem Schöpfer erst konstituiert wird, wäre zerstört: „Demzufolge nun müssen wir alle Gottlosigkeit des Selbstbewusstseins für Wahn und Schein erklären.“19 In diesem „ursprünglichen“ Verhältnis zu sich selbst und seiner Welt und zu Gott ist der Mensch wie ein Kind – frei.

 

(Fortsetzung im nächsten Heft)

 

Anmerkungen

1 T. Moser, Gottesvergiftung, 1976.

2 H. Bolli (Hg.), Schleiermacher-Auswahl, 1968, 293f.

3 F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Hrsg. v. H.-J. Rothert, Philosoph. Bibliothek Bd. 255, 1961, 5.

4 Ebd.

5 A.a.O., 4f.

6 A.a.O., 5.

7 A.a.O., 11.

8 A.a.O., 15.

9 A.a.O., 99.

10 Zit. bei F.W. Kantzenbach, F.D.E. Schleiermacher in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 1967, 14f.

11 A.a.O., 24.

12 A.a.O., 99.

13 Ebd.

14 A.a.O., 55/52.

15 A.a.O., 29.

16 A.a.O., 31.

17 F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 7. Aufl. 1960, §29 (GL).

18 GL §4.

19 GL §37.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prälat i.R. Hans-Dieter Wille, Jahrgang 1946, Theologiestudium in Tübingen und Zürich, Pfarrer in Stuttgart und Korntal, 1983-1990 Theol. Geschäftsführer des Instituts für Praktische Theologie der Universität Tübingen, 1995-2007 Ausbildungsdezernent für den Pfarrdienst in der württ. Landeskirche, 2007-2011 Prälat von Heilbronn.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2024

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