Gewalt gegenüber Personen des öffentlichen Lebens nimmt zu. Davon sind auch immer häufiger Pfarrerinnen und Pfarrer betroffen. Ein offizielles Gewaltmanagement fehlt den Kirchen – anders als anderen Großorganisationen – jedoch bislang. Roland Bahre beklagt dieses Defizit und zeigt auf, welche Schutzkonzepte für Pfarrerinnen und Pfarrer hilfreich und notwendig wären.
I. Die Wichtigkeit des Themas und die „hermeneutische Lücke“
„Gibt es nicht christlichere Wege als jemanden anzuzeigen?“ – „Lass das doch nicht so nah an dich ran!“ – „Was tut er/sie denn schon? Sie/er ist doch noch gar nicht gewalttätig geworden!“ – „Rechtsradikalismus, hier bei uns? Ach, was erzählen Sie denn da, das kann ich mir gar nicht vorstellen!“ – „Schon wieder dieses Thema! Lass uns doch nicht darüber sprechen, damit tun wir genau das, was er/sie will“ – „Man muss ihn/sie einfach ignorieren!“ – „Haben Sie sich alle juristische Unterstützung geholt? Gut, dann gibt es für die Landeskirche ja nichts mehr zu tun!“
Alle hier genannten Zitate sind gesammelte authentische Reaktionen unterschiedlicher landeskirchlicher Leitungsebenen und Gremien auf Äußerungen von Pfarrpersonen und kirchlich Tätigen, die von berufsbezogener Gewalt betroffen sind. Sie verdeutlichen die Hilfslosigkeit im Umgang mit diesem noch recht jungen Thema in unseren kirchlichen Organisationen und deren Mitarbeitenden. Vor dem Hintergrund tatsächlicher und mindestens subjektiv wahrgenommener existenzieller Gewalt- und Bedrohungserfahrung werden diese Äußerungen von den Betroffenen zumeist als zynisch und bagatellisierend wahrgenommen und erinnern in ihrem Tonfall und in ihrer inhaltlichen Stoßrichtung an den ersten Umgang zaghafter Schilderungen sexualisierter Gewalt in den Kirchen. Auch hier standen und stehen die Organisationen vor der Herausforderung, den Umgang mit den Opfern zu lernen. In der Rat- und Hilflosigkeit der Organisation kommt es schnell zur Bagatellisierung, die ungewollt Täterschutz zur Folge hat. Eine Kultur des Wegschauens entsteht und eine Täter-Opfer-Umkehr1. Dies führt zu Scham der Betroffenen, Angst vor Ausgrenzung und sozialer Isolation, sicher aber zum Verstummen. Die psychischen Folgen können verheerend sein.
Dieser organisationalen Unbeholfenheit steht gerade seit dem Attentat an Walther Lübcke2, das sich in diesem Jahr zum fünften Mal jährt, eine wissenschaftliche Diskussion im Kontext u.a. kriminologischer3 qualitativer und quantitativer Forschung zu Gewalt- und Bedrohungserfahrung bei Personen des öffentlichen Lebens und Amtspersonen gegenüber. Es wurde deutlich, dass berufsbezogene Gewalt an Personen des öffentlichen Lebens nicht aus persönlichen Gründen an der Privatperson geschieht, sondern sich auf die Person des öffentlichen Lebens bezieht.
Die Gewalt an Politikern und Politikerinnen nimmt stetig zu; der jüngst erfolgte Angriff auf den Europaabgeordneten Matthias Ecke ist hier kein Einzelfall: So gab es in den Jahren 2019 bis 2023 insgesamt 10.537 tätliche Angriffe auf Parteirepräsentierende (z.B. die Delikte Bedrohung, Beleidigung, Nötigung, Gewalt, Volksverhetzung u.a.) aller im Bundestag vertretenen Parteien, wie aus einer „Kleinen Anfrage“ an die Bundesregierung vom Januar 2024 hervorgeht4. Dieser Artikel soll die Lücke zwischen der breiten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatte und der Lebenswirklichkeit kirchlicher Organisationen schließen.
II. Der wissenschaftliche Forschungsstand
2021 führte der „Deutsche Städte- und Gemeindebund“ erstmalig eine über mehrere Jahre konzipierte quantitative Studie durch, die gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt, dem Deutschen Städtetag und dem Deutschen Landkreistag ein gesamtdeutsches kommunales Monitoring zu Hass, Hetze und Gewalt gegenüber Amts- und Mandatsträger erhebt („MOTRA“-Studie). Das Forschungsdesign umfasste die Erlebniskategorien a) der verbalen, nonverbalen und schriftlichen Anfeindungen im analogen Raum, b) Hasspostings im Internet und c) tätliche Übergriffe. Das Ergebnis ist ernüchternd: So stieg im Jahr 2020 „die Anzahl von Straftaten gegen Amts- und Mandatstragende im Vergleich zum Vorjahr von 1.894 auf 3.752 Straftaten an, was einem Fallzahlenanstieg von 98,1% entspricht“5. – „Im Jahr 2021 zeichnet sich mit 6.191 registrierten Straftaten (Anstieg um 65% im Vergleich zum Vorjahr) ein weiterer (…) Höhepunkt ab. Zudem berichten jüngere Studien, dass mehr als die Hälfte der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Deutschland im Rahmen ihrer Tätigkeit schon einmal selbst Beleidigungen, Bedrohungen oder tätliche Übergriffe erlebt haben – ähnliches gilt für Landrätinnen und Landräte. Betroffen sind Amtsträgerinnen und -träger in Städten, Landkreisen und über alle Bundesländer hinweg, und zwar unabhängig von Alter, Geschlechts- oder Parteizugehörigkeit.“6
Im kirchlichen Raum steht eine quantitative Erhebung nach ähnlichem Muster wie diese MOTRA-Studie noch aus. Auch die Frage, welche Formen von Gewalt sich im kirchlichen Raum finden, welche Spezifika sie aufweisen und welche qualitativen Differenzierungsmöglichkeiten es gibt, ist bisher noch ungeklärt.
Diesen quantitativen Befund habe ich im Jahr 2023 im Bereich der Supervisionsforschung an der Hochschule in Münster um eine qualitative, empirische Studie ergänzt, in der ich u.a. die Auswirkungen und Folgen von Gewalt- und Bedrohungserfahrung bei Personen des öffentlichen Lebens untersucht und hieraus Konzepte gewaltpräventiver Supervision und organisationalen Gewaltmanagements erarbeitet habe.
Dabei wird deutlich, dass Gewalt viel früher beginnt als bei der körperlichen Tätlichkeit. Es nehmen Schilderungen zu von Beschimpfungen und Bedrohungen von Pfarrpersonen sowie deren Familien, körperlichen (nicht sexuellen) Übergriffen, das bewusste Aufsuchen im Privatbereich, Stalking und gezielte, auch strafbewehrte Bedrohungserfahrungen, auch über Social Media. Soziale Reaktionen der Betroffenen folgen, etwa das Meiden bestimmter Orte aus Angst vor bedrohlichen Begegnungen, das Abschotten des Privatbereiches und Errichten von „Safe Spaces“, in die hinein Übertretungen als massiv übergriffig erlebt werden. Bei Grenzüberschreitungen dieser immer abgeschotteteren „Safe Spaces“ (z.B. Pfarrhaus, Dienstwohnung, privater Garten, Urlaub) folgen starke emotionale Reaktionen der Betroffenen.
Die innere Abspaltung beruflicher und privater Identität, wie sie im Pfarrdienst ja nur mit erheblichem Aufwand vollzogen werden kann, und ein Verlust beruflichen und persönlichen Kongruenzgefühls, sowie die Tendenz der fortschreitenden Abschottung in „Safe Spaces“, konnten als Folgen subjektiver und objektiver Gewalt- und Bedrohungserfahrungen wissenschaftlich gesichert werden. Das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins führt zu einer inneren und z.T. äußeren Distanzierung zur eigenen beruflichen Tätigkeit und zu einem schwindendes Kongruenzgefühl pastoral-öffentlicher und privater Identität. Es folgt eine Abwärtsspirale, die immer mehr in die Isolation und Abspaltung führt. Dieser Weg zur „inneren Kündigung“7 betroffener Pfarrpersonen, die fortschreitende Abspaltung, Desintegration und Schutz der Privatsphäre von öffentlicher, beruflicher Tätigkeit hat nicht nur fatale Auswirkungen auf die Organisation der Kirche, sondern auch auf die psychische Gesundheit der Betroffenen und deren Familien.
III. Gewaltmanagement in Organisationen
Die gute Nachricht: In dieser Abwärtsspirale von fortschreitendem Verlust beruflichen und privaten Kongruenzgefühls, der in engem Zusammenhang steht zu immer größeren Abschottungstendenzen von „Safe Spaces“ (permanent eingeschalteter Anrufbeantworter, Kontaktvermeidungen in der Öffentlichkeit, Urlaub „möglichst weit weg“) und damit zu einer immer größer werdenden Distanz zur beruflichen Identität, birgt in sich auch eine enorme Chance: Durch frühe, achtsame Intervention, juristische, ggf. psychologische und supervisorische Hilfe kann nicht nur gewaltpräventiv frühzeitig interveniert, sondern auch im Sinne eines organisationalen Gewaltmanagements mit der subjektiven und objektiven Gewalt- und Bedrohungserfahrung der Betroffenen direkt gearbeitet werden.
Die Komplexität und Unterschiedlichkeit der Gewalt- und Bedrohungserfahrungen überfordern die Organisation und deren Mitarbeitende, hermeneutisch finden eine hierarchische Organisation und ein neues, komplexes Thema nur zäh zueinander und sind nicht anschlussfähig8. Diese Überforderung und Komplexität muss in Kontakt gebracht werden zu der jeweiligen hierarchischen Organisationslogik und einer Zuständigkeit in einer innerhalb oder außerhalb dieser Organisation zu platzierenden Stelle oder internen Stellen-Zuschreibung. Dies schafft strukturelle Klarheit, hält die Organisation handlungsfähig und in ihren Entscheidungen vergleichsweise flexibel. Organisationsmitarbeitende werden entlastet und die Betroffenen finden direkten Zugang zu einer reaktionsfähigen Organisation und dem Arbeitgeber.
Diese Entwicklung ist nicht nur organisational sinnvoll, sondern in der Sammlung, Koordination und thematischen Zusammenführung steckt auch ein inhaltlicher Grund: Gewaltbereite Bedroher suchen Anschluss an eine andere Person des öffentlichen Lebens, wenn sie bei der ersten keine gewünschte Rückmeldung erfahren, während das Thema für das erste Opfer vorerst beendet scheint, wenn der Kontakt mit dem Bedroher zu einer Unterbrechung kommt9. Zugleich bleibt die Angst vor einer möglichen Fortsetzung der Bedrohung auch bei dem ersten Betroffenen latent bestehen. Bei intransparenten und unabgesprochenen Einzelreaktionen von Betroffenen fehlt daher die Nachhaltigkeit, wie sie eine empowerte Organisation leisten kann. Durch „Ignorieren und Abwarten“10 treten die Betroffenen und die Organisation in eine Passivität, die der Organisation ihre Handlungsfähigkeit entzieht.
IV. Konkrete Vorschläge zum organisationalen Empowerment
Der erste Schritt in ein nachhaltiges und wirksames Gewaltmanagement ist also zunächst elementar: Die Entscheidung der Organisation, dass es Gewaltmanagement geben soll und hierzu eine interne oder externe Koordinationsstelle berufen oder zugeschrieben wird. Die organisationale Aufgabe dieser Stelle umfasst die thematische Zuständigkeit, Koordination, interne und externe Kommunikation, interne und externe Vernetzung, Schulung. Die inhaltliche Arbeit umfasst sodann drei Kernbereiche:
1. Die Begleitung der Betroffenen und ein Betroffenenmanagement (Ansprechbarkeit, Sprachfähigkeit). Hierin fällt auch die fachbezogene juristische Beratung im Kontext des Familienrechtes, Strafrechtes, Zivilrechtes (z.B. Gewaltschutz, Hausverbot, Bedrohung, Beleidigung, Schadensersatz/Schmerzensgeld, Störung der Religionsausübung (§176 StGB) u.a.); die Zusammenarbeit mit den Behörden (Polizei, Gericht, Betreuungsstelle, Staatsschutz); die Koordination und Beratung hin zu einer koordinierten anwaltlichen Begleitung sowie die Vermittlung und Koordination supervisorischer und psychologischer Begleitung der Betroffenen und Psychoedukation.
2. Die Beratung und Sensibilisierung für das Thema auf den unterschiedlichen organisationsinternen Ebenen (Dekanaten, Kirchenkreisen, Propsteien, Kirchenverwaltung etc.), zu denen Betroffene oft den Erstkontakt suchen; die Vermittlung eines Maßnahmenkatalogs und erfahrungssensiblen Reaktionsmusters im Umgang mit Betroffenen; psychiatrisch-forensische Aufklärung über das Phänomen der Bedrohung von Personen des öffentlichen Lebens; Fort- und Weiterbildung auch mit wissenschaftlichen Partnern zur Anreicherung des Fachwissens dieses noch jungen Forschungsgebietes.
3. Gewaltprävention. Bereits durch die Sensibilisierung zu diesem Thema auf den unterschiedlichen Organisationsebenen geschieht präventive Arbeit. Die neueste Supervisionsforschung zeigt, dass auch Supervision gewaltpräventiv wirken kann durch ressourcenorientierte Arbeit mit Haltung („mind set“), beruflicher Kongruenz, gewaltpräventiver Kommunikation, Familienarbeit und „Life Coaching“11. Auch gesundheitspsychologische Angebote, insbesondere für Personen mit Gefährdungspotential, zur Stärkung von Resilienz und Abwehr, gehören in diesen Arbeitsbereich. Eine reguläre Evaluation der Arbeit gehört zum Leistungsstandard.
V. Fazit und Handlungsvorschläge für die Landeskirchen und die EKD
Eine Reaktion der Kirchen auf die Zunahme von Gewalttaten gegenüber Personen des öffentlichen Lebens, auch im kirchlichen Bereich, kann auf der Grundlage der vorliegenden Daten und gesellschaftlichen Entwicklung als dringend erforderlich bezeichnet werden. Zugleich fehlen quantitative und qualitative Datensätze über Gewalterfahrungen, -formen und -arten im kirchlichen Raum, auch unter der Berücksichtigung einer hohen Dunkelziffer, auf die empirisch eingegangen werden kann. Eine Erhebung dieser Zahlen im Rahmen einer wissenschaftlichen empirischen Studie kann sodann fruchtbar gemacht werden für einen organisationalen Umgang im Sinne eines strukturierten Gewaltmanagements. Eine Kirche, die entlang neuerer gesellschaftlicher, an Gewalt zunehmender Entwicklungen ihre Mitarbeitenden und Amtstragenden im Blick hat, sendet ein positives Signal in die Welt und kann so auch zum Vorbild für andere Organisationen und Institutionen werden.
Anmerkungen
1 https://www.evangelisch.de/videos/217531/18-06-2023/frauennotruf-sexuelle-gewalt-zu-oft-bagatellisiert.
2 Detailliert nachlesbar in: OLG Frankfurt am Main, 28.01.2021, 5-2 StE 1/20 - 5a - 3/20.
3 Hier sei besonders das aktuelle Forschungsprojekt erwähnt: Bannenberg, Britta et al.: Schlussbericht Forschungsprojekt AKTIO (Sicherheitsaufgabe Kriminalprävention), Teilvorhaben: Kriminologische Begleitung kommunaler Kriminalprävention. Gefördert vom BMBF (FKZ 13N15148), Gießen 2021.
4 https://dserver.bundestag.de/btd/20/101/2010177.pdf.
5 Kommunales Monitoring – Hass, Hetze und Gewalt gegenüber Amtsträgerinnen und Amtsträgern (KoMo). Beobachtungen und Befunde zur Ersterhebung – Herbstbefragung 2021. Stand: 01. September 2022, in: Kemmesies, Uwe et al.: Motra-Monitor 2021, Wiesbaden 2022. Leicht abrufbar über: https://www.motra.info/radikalisierungsmonitoring/kommunalmonitoring/.
6 Ebd.
7 Höhn, Reinhard: Die innere Kündigung in Unternehmen, Harzburg 1984.
8 Vgl. v. Ameln, Falko et al.: Macht in Organisationen. Denkwerkzeuge für Führung, Beratung und Change Management, Stuttgart 2016.
9 Vgl. Hoffmann, Jens: Fixierungen auf Personen des öffentlichen Lebens, in: Lorei, Clemens: Psychologie des Stalking, Verlag der Polizeiwissenschaft, Frankfurt/M. 2006.
10 Ebd.
11 Vgl. Buer, Ferdinand: Life-Coaching, Göttingen 2008.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2024