Vor rund zehn Jahren wurde für die Landeskirchen Württemberg und Baden die Studie „Jugend zählt“ zu Angeboten kirchlicher und kirchennaher Jugendarbeit veröffentlicht. Nun schließt sich – erstmals nach Corona – mit „Jugend zählt 2“ eine statistische Vollerhebung der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in diesen beiden Landeskirchen an. Die Autor*innen der Studie berichten über ihre Ergebnisse.
Lebendig in herausfordernden Zeiten
„Jugend zählt 2“ ist eine statistische Vollerhebung der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in den Evang. Landeskirchen in Baden und Württemberg einschließlich ihrer Diakonie und den evangelischen Jugendverbänden.1 Sie schließt an eine erste Statistik „Jugend zählt“ im Zeitraum 2012/132 an. Erfasst wurden die Kinder- und Jugendarbeit, die musikalischen Angebote, der Kindergottesdienst und die Konfi-Arbeit. Gegenüber der ersten Erhebung von 2012/13 sind in „Jugend zählt 2“ auch Daten der Diakonie (Jugendhilfe und Behindertenhilfe) und der evangelischen Freiwilligendienste einbezogen.
Erfasst wurden die Daten durch lokal Verantwortliche (Pfarrpersonen, CVJM-Vorsitzende usw.) über das Online-Tool oaseBW (Online-Antrag und Statistik-Erhebung Baden-Württemberg). „Jugend zählt 2“ ist also keine Befragung der Kinder und Jugendlichen selbst. Für die kirchlichen Arbeitsfelder trugen 1.599 Kirchengemeinden und Jugendverbände ihre Daten ein. Mit einem Rücklauf von 72%, bietet die Statistik eine gute Ausgangsbasis für verlässlich hochgerechnete Zahlen in Baden-Württemberg. Die Ergebnisse sind im Buch zur Statistik von 63 Autorinnen und Autoren auf 400 Seiten zusammengestellt – und unter www.jugend-zaehlt.de kostenfrei zugänglich.
Nachdem der Versuch einer entsprechenden bundesweiten Jugendarbeitsstatistik auf aej-Ebene in den letzten Jahren nicht erfolgreich war, stellt diese Statistik EKD-weit die präziseste statistische Beschreibung der Jugendangebote dar. Für manche anderen Arbeitsfelder, insbesondere die evangelische Kita-Arbeit, bietet die Evangelische Bildungsberichterstattung am Comenius-Institut eine ähnlich detaillierte Datenbasis.3
Ein ungeschminkter Blick auf die Situation
Um es vorwegzunehmen: „Jugend zählt 2“ ist weder Katastrophenmeldung noch gibt diese Statistik Anlass, sich beruhigt zurückzulehnen. Vielmehr ermöglicht diese Erhebung einen ungeschminkten Blick auf die Situation evangelischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Reichweite. Allein schon dem Erhebungszeitraum 2021/2022 eignet eine gewisse Brisanz: „Jugend zählt 2“ bietet auf einzigartige Weise einen Einblick in die Phase des Neustarts präsentischer Angebote in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nach Corona. Zugleich bilden gegenwärtige kirchliche Transformationsprozesse und der eklatante Rückgang kirchlicher Verbundenheit die Rahmenbedingungen von „Jugend zählt 2“.
„Jugend zählt 2“ zeigt: Die evangelische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist lebendig und zugleich stark herausgefordert! Lebendig ist sie, weil z.B. immerhin 159.109 junge Menschen in Baden-Württemberg an regelmäßigen Gruppenangeboten der Kinder- und Jugendarbeit teilnehmen, wie Abb. 1 zeigt4. Lebendig ist sie auch, weil die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein starkes Ehrenamt auszeichnet. Und der Blick auf die Zahlen der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen macht deutlich: Prozentual ist dieser Bereich kirchlichen Lebens weniger stark zurückgegangen als andere Arbeitsfelder der Kirche. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der evangelischen Bevölkerung erreicht die evangelische Kinder- und Jugendarbeit ein ähnliches Niveau wie bei „Jugend zählt 1“5. „Jugend zählt 2“ bestätigt für Baden-Württemberg, was die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung benennt: Dass keine Generation von kirchlichen Angeboten so gut erreicht wird wie die der jungen Menschen.6 Zugleich ist dies kein Grund zur Beruhigung. Befinden wir uns doch insgesamt in einer Rückwärtsbewegung. Wir werden nicht mehr, sondern weniger.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Zukunftsperspektive evangelischer Kinder- und Jugendarbeit und mithin nach ihrer theologischen Motivation und ihrem ekklesiologischem Horizont. Will die evangelische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen den Rückgang kirchlicher Bindung verwalten oder gelingt es ihr, Hoffnungsorte mit und für junge Menschen zu gestalten, die auch attraktiv für Kinder und Jugendliche ohne Kirchenbindung sind? Und es gilt zu fragen, welche Bedeutung jungen Menschen im Kontext der gesamtkirchlichen Arbeit zukommt und welche Unterstützung sie infolgedessen erhalten.
Ein programmatischer Titel
Der Titel der Statistik „Jugend zählt 2“ knüpft an die erste Erhebung von 2012/13 an und ist zugleich eine programmatische Zielformulierung: Junge Menschen sollen in Kirche, Diakonie und Jugendverbänden erfahren: Ihr Leben zählt. Es zählt für Gott. Und es zählt für Menschen, die sie begleiten und unterstützen. Und diese programmatische Zielperspektive gilt auch in zweiter Hinsicht: Dass junge Menschen zählen, dass sie ernstgenommen werden, mitreden und mitentscheiden dürfen.
„Jugend zählt 2“ bietet eine Sehhilfe für die evangelische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in herausfordernden Zeiten: Sie hilft, einen realistischen Blick zu erhalten und nicht lediglich auf eine gefühlte Wirklichkeit vertrauen zu müssen. Gewiss – was Kinder und Jugendliche an Positivem in Angeboten von Kirchen, Jugendverbänden und Diakonie erleben, kann nicht adäquat mit Hilfe von statistischen Daten erfasst werden: „Wenn junge Menschen am Lagerfeuer ein Abendgebet sprechen, wenn unbegleitete minderjährige Jugendliche in der diakonischen Jugendhilfe Zukunftsperspektiven entdecken, wenn eine 18-Jährige sich ein Jahr lang im Freiwilligendienst für andere engagiert – dann wird der Wesenskern von Kirche und Diakonie sichtbar: Glaube, Hoffnung, Liebe. Warum dann ein Buch mit einer Fülle von Zahlen und nüchternen Analysen? Nicht, weil die großen Zahlen bedeutsamer wären als der einzelne Mensch. Sondern weil Erfahrungen wie die eingangs geschilderten in einer Fülle geschehen, die mehr Sichtbarkeit verdient hat.“ 7
Reichweite und Entwicklungen
Angesichts des Erhebungszeitraums von „Jugend zählt 2“ muss davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse eine gewisse „Coronafärbung“ aufweisen. Eine Bachelorarbeit der EH Ludwigsburg vom Herbst 2020 konnte z.B. aufzeigen, dass schon durch den ersten Lockdown 2020 etwa 500 Jungscharen in Württemberg „verschwanden“8.
Gegenüber „Jugend zählt“ von 2012/13 zeigen sich deutliche Rückgänge der absoluten Zahlen. Die Anzahl von Teilnehmenden in Gruppen und Einzelangeboten liegt in „Jugend zählt 2“ fast 40% unter den Zahlen der letzten Erhebung. Diese Rückgänge sind nicht allein durch die Auswirkungen der Corona-Krise zu erklären, sondern spiegeln die grundsätzliche demografische Entwicklung in den Landeskirchen wider. Hat darauf schon die „Freiburger Studie“9verwiesen, so zeigt sich gegenwärtig eine weiter verschärfte Situation: „Die beiden großen Kirchen werden kleiner, älter und ärmer“10. In Baden-Württemberg sank die absolute Zahl evangelischer junger Menschen zwischen 6 und 26 Jahren in den neun Jahren zwischen 2013 und 2022 um 24%, während die Gesamtzahl junger Baden-Württemberger lediglich um 3% zurückging. Damit einher geht ein Rückgang der gesellschaftlichen Reichweite der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit (hier mit Blick auf die Quote der Besucher regelmäßiger Gruppenbesucher) von 7% auf 4,9% aller jungen Menschen im schulpflichtigen Alter in Baden-Württemberg. Nimmt man dagegen die evangelische Bevölkerung als Referenzrahmen, so wird deutlich, dass evangelische junge Menschen von Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit nach wie vor recht gut erreicht werden, sank doch die evangelische Reichweite der Gruppenarbeit von 22% vor neun Jahren nur leicht auf 19% (vgl. Abb. 2).
In der genauen Betrachtung weisen die erhobenen Gruppen und Einzelangebote allesamt Rückgänge auf. So büßten z.B. die Kinder- und Jugendchöre 64% ihrer Teilnehmenden ein, was vermutlich auf die strengen Corona-Maßnahmen für den Bereich des Singens zurückzuführen ist. Die Teilnehmenden bei Kinder- und Jungschargruppen gingen um 29%, die Teilnehmenden bei Freizeiten mit Übernachtung um 23% zurück.11
Im Vergleich der Altersgruppen wird deutlich, dass vor allem die Kinder im Grundschulalter (6 bis 9 Jahre) gut erreicht werden. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ab dem Jahr 2026 für die Arbeit mit Kindern (und Jugendlichen) große Bedeutung. Evangelische Jugendarbeit kann als starker zivilgesellschaftlicher Akteur den Ganztag mitgestalten und damit ernstnehmen, dass der Lebensraum Schule im Alltag von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle spielt.
Jugendverbände tragen zur Vitalität bei
Trotz rückläufiger Gesamtzahlen bleibt die Vitalität der evangelischen Jugendangebote beeindruckend. Dazu tragen im erheblichen Maße auch die Jugendverbände bei. In manchen Bereichen stellen CVJM, VCP, EC und weitere Verbände den Hauptteil der Angebote in der Arbeit mit jungen Menschen. Dies ist sicherlich dem für den Südwesten charakteristischen engen Miteinander von Jugendverbänden und genuin landeskirchlicher Arbeit geschuldet, das sich darin niederschlägt, dass in vielen Kirchengemeinden Jugendverbände die Jugendarbeit im Auftrag der örtlichen Kirchengemeinden gestalten. Der Südwestdeutsche Jugendverband „Entschieden für Christus“ (EC) e.V. kann sogar eine Steigerung der Zahlen in der Kinder- und Jugendarbeit ausmachen und sieht das im engen Zusammenhang mit der Investition in die Stellen von Hauptamtlichen in den letzten Jahren.12 Erstaunlicherweise berichten nur 32% der örtlichen Verbände von schriftlichen Vereinbarungen mit der Kirchengemeinde. 60% arbeiten aufgrund mündlicher Absprachen bzw. der bisher gelebten Praxis, 9% arbeiten unabhängig von der örtlichen Kirchengemeinde.
Die starke Rolle der Jugendverbände ist zumindest im Blick auf den württembergischen Teil von „Jugend zählt 2“ auch Ausdruck einer klugen Grundausrichtung in der Nachkriegszeit: Die Grundstruktur des Evang. Jugendwerks in Württemberg (EJW) erfolgt seit der Neuordnung 1946 durch die sog. Schwabenformel „selbstständig im Auftrag“ der Landeskirche. Damit ist pointiert auf den Punkt gebracht, dass die evangelische Jugendarbeit in Württemberg sowohl einen kirchlichen Auftrag wahrnimmt als auch Jugendverband im Sinn des Sozialgesetzbuches (§§11 und 12 SGB VIII) ist.
Starkes Ehrenamt
In Baden-Württemberg engagieren sich 57.714 Personen in der evangelischen Arbeit für junge Menschen. Bei 93% davon handelt es sich um Ehrenamtliche. Das entspricht durchschnittlich 26 Personen pro Kirchengemeinde in der badischen Landeskirche bzw. 38 in der württembergischen Landeskirche. Eine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die einen Beziehungsraum eröffnet, braucht Menschen – Ehren- und Hauptamtliche. Mit dieser Terminologie des „Beziehungsraums“ wird in der Fachliteratur zur Jugendarbeit benannt, dass Kinder und Jugendarbeit Räume anbietet, „in denen junge Menschen sich als Personen wahrgenommen und begleitet wissen. Die Mitarbeitenden werden oftmals zu wichtigen Bezugspersonen, an denen man sich orientiert und zu denen Vertrauen entsteht.“13 Die evangelische Kinder- und Jugendarbeit zeichnet sich durch einen intensiven Betreuungsschlüssel aus: In den meisten Angeboten kommen nur ca. 3 oder 4 Kinder auf eine mitarbeitende Person.14 So entstehen Beziehungsräume, „in denen nicht der Leistungsanspruch, sondern junge Menschen als Personen mit ihren Begabungen, Begrenzungen und Lebensfragen im Vordergrund stehen“15.
Die evangelische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bietet einen Erprobungsraum für junge Menschen in eigenem ehrenamtlichem Engagement. Jugendarbeit ist zugleich ein Professionalisierungsraum: Weil Schulungen, Juleica-Fortbildungen, Grundkurse usw. Haltung prägen und Handwerkszeug an die Hand geben, um Gruppen zu leiten und Kinder und Jugendliche zu begleiten. Im detaillierten Blick auf die konkrete Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen zeigen sich deutliche Unterschiede (vgl. Abb. 3): Überwiegen in der klassischen Gruppenarbeit (Pfadfinder*innen, Jungschar usw.) rein ehrenamtliche Teams, so finden sich gemischte Teams aus Haupt- und Ehrenamtlichen vor allem bei Gruppen für Jugendliche und junge Erwachsene sowie bei Mitarbeitendengruppen. Auffällig ist, dass zwei Fünftel aller Freizeiten von rein ehrenamtlichen Teams geleitet werden. Zudem ist bemerkenswert, dass zwei Drittel der Mitarbeitenden in Gruppen und Einzelangeboten der Kinder- und Jugendarbeit selbst noch junge Menschen, also unter 27 Jahre alt, sind. Dass die Angebote der Jugendarbeit von jungen Menschen „mitbestimmt und mitgestaltet werden“, wie es §11 SGB VIII formuliert, spiegelt sich in den konkreten Maßnahmen der Realität evangelischer Kinder- und Jugendarbeit wider.
Themenschwerpunkte der evangelischen Arbeit mit jungen Menschen
Die detaillierten Rückmeldungen der Verantwortlichen aus Kirchengemeinden und Jugendverbänden bieten Einblicke in die Struktur der Jugendarbeit. So wurde erstmals ausgewertet, welche Themenschwerpunkte eine Rolle in den Angeboten spielen. Das in Abb. 4 dargestellte Ergebnis war erstaunlich deutlich: Religiöse Themen spielen die Hauptrolle in fast allen Arbeitsbereichen – allerdings nicht alternativ zu Spiel, Geselligkeit oder anderen Themenstellungen, sondern kombiniert mit diesen. Nicht abgefragt wurde, in welchem Umfang die jeweiligen Themenschwerpunkte in den entsprechenden Angeboten umgesetzt werden. Die Beschäftigung mit „Religion“ kann darum sowohl ausführliche Gestaltungselemente als auch kurze Impulse und Gesprächsanregungen umfassen.16
Kindergottesdienst – ein Modell im Wandel
„Die klassische Kinderkirche wandelt sich immer mehr zur Kirche mit Kindern. … Neue Formen und Modelle bereichern die Gottesdienste mit Kindern.“17 Neben dem klassischen Kindergottesdienst werden drei weitere Modelle genannt:
▮ Familienkirche: ein relativ kurzer Gottesdienst für Kinder und Familien mit knapper Liturgie,
▮ Kirche Kunterbunt: ein generationsübergreifendes, erfahrungsorientiertes Angebot mit kreativen Stationen und gemeinsamer Mahlzeit,
▮ Promiseland/Abenteuerland: im Anschluss an eine Spielphase finden ein Anspiel o.Ä. als Verkündigung sowie altersdifferenzierte Kleingruppen statt.
In insgesamt 71% der Kirchengemeinden in Baden-Württemberg werden Kindergottesdienste angeboten (66% in Baden, 73% in Württemberg). Im Blick auf die Gottesdienstformen finden sich erkennbare Unterschiede zwischen Baden und Württemberg. Werden in Württemberg 82% der Kindergottesdienste noch in klassischer Form gefeiert, so weist die badische Landeskirche einen höheren Anteil an Kindergottesdiensten in den benannten anderen Formen auf, zwei Fünftel der Kindergottesdienste weichen von der klassischen Form mit Liturgie ab.
Im Vergleich zu „Jugend zählt“ 2012/13 hat der Anteil der wöchentlichen Kindergottesdienste deutlich abgenommen, wobei in Württemberg die wöchentliche Frequenz mit 44% der Kindergottesdienste noch ausgeprägter ist als in Baden, wo aktuell lediglich 27% der Kindergottesdienste wöchentlich gefeiert werden (vgl. Abb. 5). Inwiefern diese Entwicklung weg vom Wochentakt auch ein Modell für den klassischen Sonntagsgottesdienst darstellen könnte, bleibt abzuwarten.
Inklusion
Vor dem Hintergrund des „Jugendarbeitsparagrafen“ (§11 SGB VIII), der 2021 um eine Inklusionsforderung ergänzt wurde, fragte „Jugend zählt 2“ auch wieder nach inklusiven Angeboten. Ein Vergleich von „Jugend zählt 1“ (2012/13) und „Jugend zählt 2“ (2021/22) zeigt: Die Ergebnisse haben sich in den vergangenen neun Jahren kaum verändert. Ein Schwerpunkt in der Umsetzung der Inklusion liegt bei Freizeiten, wie Abb. 6 zeigt. Am wenigsten inklusiv ist nach wie vor die Sportarbeit aufgrund ihrer aktuell oftmals wettkampfbetonten Ausrichtung (beispielsweise in eigenen Ligen für Handball, Fußball oder Indiaca). In den Anmerkungen der lokalen Verantwortlichen ist durchweg eine große Offenheit und die Unterstützung einer inklusiven Gestaltung der Kinder- und Jugendarbeit zu erkennen. Zugleich wird deutlich, sowohl mit Blick auf die bauliche Gestaltung von barrierearmen Räumen als auch mit Blick auf Angebote zum Beispiel im Sportbereich, dass es weiterer Anstrengungen bedarf.18
Jugendarbeit und Diakonie – neue Potenziale der Zusammenarbeit
„Jugend zählt 2“ beschreitet – zumindest aus Sicht der Jugendarbeit – neue Wege, indem diese Statistik neben den klassischen Bereichen der kirchlichen Arbeit mit jungen Menschen auch Freiwilligendienste und diakonische Felder der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Behindertenhilfe in den Blick nimmt. Die Vorsitzenden der beiden zuständigen Synodalausschüsse in Baden und Württemberg, Thomas Schalla und Siegfried Jahn, betonen die neue Perspektive dieses konzertierten Blicks: Dies habe „Signalcharakter, denn es sind keine getrennten Segmente. Vielmehr ist der diakonische Blick allem christlichen Handeln aufgegeben. Nun gilt es, sich zukünftig verstärkt zu fragen, wo stärkere Begegnungsflächen der oftmals strukturell separierten Angebote geschaffen werden können“19.
Öffentliche Förderung
Überraschend sind die Erkenntnisse zur öffentlichen Förderung: 85% der regelmäßigen Gruppen erhalten keine direkte Förderung von Kommune oder Land. „Jugend zählt 2“ formuliert provokativ: „Die Vernachlässigung der regelmäßigen Gruppenarbeit in den Fördertöpfen von Kommunen und Land ist in Baden-Württemberg so fest etabliert, dass die Jugendverbände sich offensichtlich damit abgefunden haben.“20
Lediglich drei Bereiche erhalten in mehr als der Hälfte ihrer Angebote eine öffentliche Förderung: Bildungsmaßnahmen, Freizeiten (sowohl mit als auch ohne Übernachtung) und schulbezogene Aktionen. In allen anderen Bereichen der Jugendarbeit findet der überwiegende Teil der Angebote ohne öffentliche Förderung statt, wie Abb. 7 für die regelmäßigen Gruppenangebote summarisch aufzeigt. Dies hat nicht nur eine finanzielle Dimension, sondern zeitigt auch Auswirkungen im Blick auf die Sichtbarkeit evangelischer Jugendarbeit. Werden doch in der amtlichen Statistik der Kinder- und Jugendarbeit nur öffentlich geförderte Angebote erfasst. „Dies schließt beispielsweise Angebote aus, die von Kirchengemeinden allein aus eigenen Mitteln finanziert werden“.21
„Jugend zählt 2“ gelingt erstmals für die evangelische Kinder- und Jugendarbeit eine Art „Dunkelfeldanalyse“, indem eine begründete Einschätzung formuliert wird im Blick auf den Anteil der Aktivitäten, die in den offiziellen Jugendarbeitsstatistiken nicht beleuchtet werden.22 Für die katholische Jugendarbeit in Bayern wurde bereits 2017 in einer eigenen Erhebung erkannt, dass nur 31% ihrer Angebote öffentlich gefördert werden und damit in der amtlichen Statistik sichtbar sind.23
Hinsichtlich einer stärkeren Förderung der Kinder- und Jugendarbeit durch die öffentliche Hand legt sich eine Förderung durch die örtliche Kommune nahe, die unmittelbares Interesse an gelingenden Angeboten für Kinder und Jugendliche haben müsste.
Zukunftsperspektiven für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
„Jugend zählt 2“ ist mehr als ein Buch für das Bücherregal empirischer Forschungsliteratur, nämlich ein Arbeitsbuch für Menschen, denen Kinder und Jugendliche in Kirche, Diakonie und Jugendverbänden am Herzen liegen. So besteht unter www.jugend-zaehlt.de/auswertungen für die Landeskirchen Baden und Württemberg auch die Möglichkeit, die Daten von Kirchenbezirken einzusehen, um einen detaillierten Einblick in die regionale Situation zu erhalten.
Im Folgenden werden im Anschluss an „Jugend zählt 2“ fünf Zukunftsperspektiven für die Arbeit mit jungen Menschen skizziert:
1. Eine beziehungsorientierte Haltung ist die Leitlinie der Arbeit mit jungen Menschen.
Die Jugend zählt in der Kirche, in der Diakonie, in Jugendverbänden. Und sie muss zählen, sich einbringen dürfen und Beachtung finden. Weil jeder einzelne junge Mensch zählt, geht es um Beziehung. Kinder und Jugendliche brauchen Menschen, die verlässliche Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter sind. Leitend ist eine Haltung, in der Menschen im Mittelpunkt stehen. Glaube gewinnt im Leben von Kindern und Jugendlichen nicht Relevanz allein durch besondere Events, sondern wenn sie tragfähige Beziehungen zu Menschen erleben, denen der Glaube an Jesus Christus wichtig ist. Eine beziehungsorientierte Arbeit braucht Schutz. Darum sind Präventionsprogramme, Intervention und Aufarbeitung jeglicher Form von Gewalt selbstverständlich.
2. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen braucht (Frei)Räume.
Der Sozialminister des Landes Baden-Württemberg Manne Lucha formulierte bei der Vorstellung von „Jugend zählt 2“ im Februar 2024 einen prägnanten Satz: „Die Macht der Kirche ist nicht der Friedhof, sondern die Jugend“. Damit erinnerte er anekdotisch an einen Mediziner, der ihm vor vielen Jahren sagte, die Macht der Kirche sei der Friedhof.
Diese schlagwortartige Sentenz des Sozialministers macht zum einen deutlich: Der Kirche wird weiterhin eine hohe Kompetenz im Feld der Kinder- und Jugendarbeit zugesprochen. Zum anderen impliziert dies auch eine Anfrage: Wenn junge Menschen die Generation sind, die von kirchlichen Angeboten am besten erreicht wird, dann gilt es zu fragen: Sind Angebote so konturiert, dass sich junge Menschen unabhängig von Bildung, Herkunft und religiöser Sozialisation willkommen fühlen? Und sind Strukturen und Rahmenbedingungen in der Kirche förderlich für junge Menschen? Denn Freiheit und Ermöglichung sind entscheidende Faktoren des Gelingens für die Arbeit mit jungen Menschen in der Kirche.
Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen braucht zugleich Räume im eigentlichen Wortsinn. Dies muss bei der Erstellung von Immobilienkonzeptionen von Kirchengemeinden Beachtung finden. Wo sollen prägende Freizeit-Erfahrungen gemacht werden, wenn zunehmend Selbstversorgerhäuser verschwinden, Tagungshäuser das Preisbudget von jungen Menschen und ihren Familien übersteigen oder gänzlich geschlossen werden?
3. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen lebt von Kooperationen.
„Jugend zählt 2“ zeigt deutlich: Eine Stärke der evangelischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen liegt – zumindest im Südwesten – im Miteinander von Kirche und Jugendverbänden. Ziel ist es, zusammen zu wirken statt vereinzelt zu arbeiten. Neben „innerkirchlichen“ Kooperationen müssen auch Kooperationen über kirchliche Strukturen hinaus mit Vereinen, Initiativen und öffentlichen Trägern im Blick sein; dies gilt insbesondere hinsichtlich lokaler Kooperationen im Bereich der Ganztagsbetreuung.
Die evangelische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist Teil der verschiedenen Transformationsprozesse in Kirche und Gesellschaft. Und Veränderung bedeutet immer, in Bewegung zu kommen. Die entscheidende Frage ist: In welche Richtung kommen Menschen in Bewegung? Zueinander hin oder voneinander weg? 24
4. Wenn es nichts mehr gibt, braucht es Mut, Neues zu starten.
„Jugend zählt 2“ zeichnet ein breites Bild der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen: Es gibt starke Felder der Arbeit mit jungen Menschen, und zugleich erleben Engagierte in vielen Bereichen der Jugendarbeit auch Abbrüche. Wenn es nichts mehr gibt vor Ort, dann braucht es Mut, Neues zu starten.
Solche neuen Konzepte in der Jugendarbeit sind z.B. ein „Startup Jugendarbeit“ in Württemberg, das zum Ziel hat, Jugendarbeit an „verwaisten“ Orten neu zu starten. Auch die „Outdoor-Jungschar“ ist ein solcher Versuch, Neues zu starten: Vor dem Hintergrund der Corona-Erfahrungen, in denen Freiluftangebote verstärkt angeboten wurden, wurde diese Jungscharkonzeption auf den Weg gebracht, die ihr Proprium darin hat, dass sie nicht im Gemeindehaus, sondern „outdoor“ z.B. im Wald stattfindet.
5. Nicht Rückbau verwalten, sondern Gegenwart und Zukunft hoffnungsvoll gestalten.
Wo sollen junge Menschen erleben, dass es Hoffnung gibt für ihr Leben und diese Welt, wenn nicht in der Kinder- und Jugendarbeit? Angesichts zurückgehender kirchlicher Ressourcen und einer nachlassenden Kirchenbindung muss evangelische Kinder- und Jugendarbeit – um ein Motto der Jugendorganisation Young Life aufzugreifen – im säkularen Umfeld oft zuerst (wieder) das Recht und das Vertrauen gewinnen, gehört und von Menschen als Teil ihrer Lebensgestaltung angenommen zu werden.
Hoffnung bedeutet, nicht Rückbau zu verwalten, sondern Gegenwart und Zukunft für und mit jungen Menschen hoffnungsvoll zu gestalten. Dies ist umso wichtiger, als die evangelische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen immer auch eine politische Dimension hat, indem sie Zusammenhalt stärkt und den Fliehkräften in der Gesellschaft entgegenwirkt.
Evangelische Kinder- und Jugendarbeit lebt von einer Hoffnung, die größer ist als sie selbst. Diese Hoffnung hat ihren Grund im auferstandenen Jesus Christus. Dies ist nicht fromme Floskel, sondern notwendige Rückbesinnung auf den Kern evangelischer Jugendarbeit, ja kirchlichen Handelns überhaupt. Die Hoffnung, in der die evangelische Arbeit mit jungen Menschen in die Zukunft gehen kann, ist mehr als Optimismus. Diese Hoffnung lebt davon, dass Gott die Zukunft öffnet, auch und gerade für junge Menschen, weil auch bei Gott die Jugend zählt.
Anmerkungen
1 Das Buch „Jugend zählt 2“ wird im Folgenden mit „JZ 2“ abgekürzt: Ilg, Wolfgang/Kuttler, Cornelius/Sommer, Kerstin (Hg.): Jugend zählt 2! Einblicke und Perspektiven aus der Statistik 2022 zur Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in den Evangelischen Landkirchen Baden und Württemberg und ihrer Diakonie, Stuttgart 2024, online (open access): www.jugend-zaehlt.de.
2 Ilg, Wolfgang/Heinzmann, Gottfried/Cares, Mike (Hg): Jugend zählt! Ergebnisse, Herausforderungen und Perspektiven aus der Statistik 2013 zur Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in den Evangelischen Landeskirchen Baden und Württemberg, Stuttgart 2014, online: www.jugend-zaehlt.de.
3 Vgl. https://comenius.de/ebib-evangelische-bildungsberichterstattung. Zentrale Ergebnisse der Evangelischen Bildungsberichterstattung werden auch im Auswertungsband zur 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung enthalten sein, der im Herbst 2024 erscheint.
4 Vgl. JZ 2, 27.
5 Vgl. JZ 2, 118f.
6 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.): Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023, 60-62. Online: https://kmu.ekd.de/downloads-medien.
7 JZ 2, 11.
8 Vgl. Brinkmann, Hannah/Ilg, Wolfgang: Wie geht es der Jugendverbandsarbeit nach dem Corona-Lockdown? Empirische Erkenntnisse aus einem evangelischen Jugendverband. in: deutsche jugend 69 (4/2021), 170-179.
9 Gutmann, David/Peters, Fabian: #projektion2060 – Die Freiburger Studie zur Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer. Analysen – Chancen – Visionen. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2021.
10 Gutmann/Peters, in: JZ 2, 64.
11 JZ 2, 157-161.
12 Vgl. JZ 2, 321.
13 JZ 2, 32; vgl. dazu auch Ilg, Wolfgang: Jugendarbeit gestalten. Reihe Praktische Theologie konkret, Bd. 4, Göttingen 2021.
14 Vgl. JZ 2, 97-100.
15 Ilg, Wolfgang/Hintzenstern, Anika/Sigle, Luca: Das Wesentliche ist für die amtliche Statistik unsichtbar. Erkenntnisse aus der Jugendarbeitsstatistik „Jugend zählt 2“ zur Situation in evangelischen Jugendverbänden und Kirchengemeinden, in: deutsche jugend, Ausgabe 5/2024, 203-212, hier 206.
16 JZ 2, 106-107.
17 Hintzenstern/Grapke/Wöhrle in: JZ 2, 245-256.
18 Vgl. die wegweisenden Perspektiven von Zehnle/Tuscher/Bohlien, in: JZ 2, 131-136.
19 Jahn/Schalla, in: JZ 2, 380.
20 JZ 2, 34.
21 Mühlmann, in: JZ 2, 355.
22 Vgl. dazu die Ausführungen in: Ilg/Hintzenstern/Sigle, a.a.O., 209-211.
23 Vgl. Heck-Nick, Magdalena: Jugendarbeit zählt – Warum eine Leistungsstatistik der katholischen Jugendarbeit in Bayern? In: deutsche jugend, 65. Jg., H. 12, 2017, 513-521.
24 Vgl. Seidel-Humburger, Ilse-Dore: Zusammen wirken – Veränderung gelingt nur gemeinsam. Methodische Prinzipien und geistliche Perspektiven, Stuttgart 2024.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2024