Im Monat Juni jährt sich der Todestag Franz Kafkas zum 100. Mal. Hans-Jürgen Benedict nimmt dies zum Anlass, mit einigen Zeugnissen des literarischen Schaffens des Schriftstellers theologisch ins Gespräch zu kommen.*
Vor 100 Jahren ist Franz Kafka am 3. Juni 1924 in einem Sanatorium bei Wien im Alter von 40 Jahren an Kehlkopftuberkulose gestorben.1 Seine letzten Wochen waren von großen Schmerzen bestimmt. Er konnte kaum noch trinken und essen. Er wusste, Schwellungen am Kehlkopf bedeuten den Tod durch Ersticken. Er hatte an einem Zimmergenossen im Krankenhaus erlebt, wie schrecklich die letzten Stunden eines Lungenkranken werden konnten, aber er gab den Kampf noch nicht auf, hoffte auf eine Operation. Seine letzte große Liebe Dora Diamant ist bei ihm. Einen Besuch der Eltern lehnt er ab, schreibt ihnen aber einen Brief, den er nicht fertigstellen kann. Am 2. Juni 1924, einem warmen Tag, liest er noch die Druckfahnen seines Buchs Der Hungerkünstler, die Geschichte eines Menschen, der nicht mehr essen will, geschrieben von einem, der nicht mehr essen kann, was für eine bittere Ironie. Er kann während der Lektüre die Tränen nicht zurückhalten. Am 3.Juni leidet Kafka starke Atemnot und Schmerzen. Er bekommt eine Kampferinjektion, die nicht hilft. Von seinem Freund Robert Klopstock, der ihn in den letzten Wochen begleitet hat, verlangt er eine tödliche Dosis Morphium, das habe er ihm versprochen. Dieser zögert und gibt sie ihm schließlich doch. Dora war unter einem Vorwand ins Dorf geschickt worden, um sie nicht zur Zeugin des letzten Kampfs zu machen, das hatten Kafka und Klopstock so vereinbart. Doch dann wird sie doch noch an das Bett des Sterbenden gerufen. Kafka, schon bewusstlos, hebt noch einmal den Kopf.
Kafka wurde nur 40 Jahre und elf Monate alt. Bekannt war er in der Prager Literatenszene, sonst nicht. Sein Weltruhm begann erst nach dem 2.Weltkrieg.da war seine Welt schon untergegangen. Hat Kafka die genozidale Vernichtung der Juden Europas vorausgeahnt? Das konnte er so wenig wie alle anderen. Er konnte nicht ahnen, dass nicht einmal zehn Jahre nach seinem Tod die Nazis die Macht in Deutschland übernehmen und sofort mit der Verfolgung und Ausgrenzung der Juden beginnen würden, die mit Beginn des 2.Weltkriegs zu ihrer millionenfachen Deportation und Vernichtung führte. Auch seine Familie wurde nicht verschont. Seine drei Schwestern Elli, Valli und Ottla starben in Konzentrationslagern. Sein Onkel Siegfried Löwy, der Landarzt, entzog sich durch Selbstmord der Deportation, sein Neffe Felix starb wahrscheinlich in einem französischen KZ. Zwei der vier Frauen, zu denen er die intensivsten Beziehungen hatte, starben in Konzentrationslagern – Julie Wohryzek in Auschwitz, Milena Jasenska in Ravensbrück. Viele andere, die Kafka nahestanden, überlebten nur durch Flucht, so seine ehemalige Verlobte Felice Bauer und seine letzte Liebe Dora Diamant.
Nicht nur viele Menschen, die Kafka nahestanden, wurden ausgelöscht. Auch ihre und seine Lebenswelt ging mit ihnen zugrunde. „Hätte Kafka das doppelte Glück erfahren, zunächst der Tuberkulose und dann dem Lager zu entkommen – er hätte nach dem Ende dieser zivilisatorischen Katastrophe nichts mehr wieder erkannt. Seine Welt gibt es nicht mehr. Nur seine Sprache lebt.“ (Reiner Stach)2
1. Was heißt kafkaesk?
Niemand, für den Literatur wichtig ist, kommt an Kafka vorbei. Gerade auch die Theologen nicht! Deswegen hier ein kleiner Versuch. Kafka ist der einzige Autor von Weltrang, dessen Schreibweise zu einem Begriff wurde. Kafkaesk meint eine „auf rätselhafte Weise unheimlich wirkende Schreibweise“, sagt das Lexikon,3 also ausweglos, so wie die Situation von Josef K. im Prozeß4, so wie der Mann vom Lande vor dem Tor des Gesetzes in seinem unergründlichen Dialog mit dem Türhüter. Dem Sterbenden sagt er: „dieser Eingang war nur für dich bestimmt, ich gehe jetzt und schließe ihn.“5
Weitere Bedeutungsnuancen des Begriffs sind: grotesk, absurd, labyrinthisch, surreal, clownesk, auch komisch im Sinne von seinem Begriff nicht angemessen. Kafkaesk, das meint auch „verfehlt“ und „unerlöst“ – wie beim Jäger Gracchus, dessen Todeskahn die Fahrt ins Totenreich verfehlte, „eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers“ und jetzt reist der Kahn mit dem zombiehaften Jäger auf den irdischen Gewässern (und legt in Riva am Gardasee an).6
Viele sagen: Kafka lesen – das ist wie ein Alptraum, das kann ich mir jetzt nicht zumuten, da bin ich hinterher zu verstört. Es ist wie ein Erwachen aus einem Schreckenstraum. Bei Kafka fällt die Welt ins Dunkel zurück. Ein Dunkel, das seltsam erleuchtet ist. Die Welt, so Adorno, liegt wie unter einem mythischen Bann – eine Welt nach der Aufklärung. Vorwelten steigen wieder auf, Ängste, Zwischenwesen, Tiere, der Schrecken, der aller Kultur zugrunde liegt, der Schrecken des Opfers. Wie bei kaum einem anderen Autor wird „der Bodensatz des Absurden“ sichtbar, der nach Goethe jedem großen Kunstwerk eignet7.Wir sind fasziniert und irritiert zugleich. Jenes Schwanken zwischen Bedrohlichkeit und Angst(-bewältigung) kann kaum aufgelöst werden. Jeder Satz ruft nach Deutung und widersetzt sich ihr zugleich (Adorno)8.
Kafka irritiert, aber er berührt auch existentiell. So wie er es selbst von den Büchern erwartet, dass sie „beißen und stechen“; sie sollen „die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“9. Kafkaesk im eigentlichen Sinne wäre es also auch, durch Literatur „das Eis der Seele zu spalten“, wie Dorothee Sölle das im Anschluss an Kafka genannt hat.10 Martin Walser hat in seiner kleinen Altersschrift „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ sich von Kafkas radikaler Ernsthaftigkeit beeindruckt gezeigt. Er bezeichnet den Roman „Der Prozeß“ als „durchdringendstes Beispiel einer Suche nach Rechtfertigung“. Und ohne Kenntnis der Rechtfertigungslehre Luthers und Karl Barths nicht zu verstehen.11
Kafka sieht die Welt anders als wir bzw. er erfasst sie genauer in ihrem Widerspruch und ihrer Paradoxie. Es ist eine Welt, die sich eben nicht vernünftig mit Hegel erklären lässt. Das Ganze ist das Unwahre. Es ist eine Welt, die auf den Faschismus und Stalinismus zusteuert, die den Opferschrecken über ganze Völker und Klassen verhängten. Kafkaesk ist die Angst des jüdischen Opfers vor dem Pogrom, der Vernichtung, wie sie dann im Holocaust sich vollzog – darauf hat Adorno aufmerksam gemacht.12 Eine Welt ist kafkaesk, die an dem abwesenden Gott festhält in absurden Wendungen wie der folgenden: „Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns.“13
2. „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“
1916 und 1917 schrieb Kafka Aufzeichnungen und Entwürfe in Oktavhefte, aus denen Max Brod erstmals 1931 unter dem Titel Beim Bau der chinesischen Mauer Teile veröffentlichte. Die Aphorismensammlung, die Brod unter dem von ihm verfassten Titel „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“ stellte und die aus dem 3. Oktavheft stammen, soll Kafka selbst in Reinschrift zusammengestellt haben. Sie konzentrieren sich in Auseinandersetzung mit der jüdisch-christlichen Tradition auf theologisch-messianische Fragen und ziehen Folgerungen, die für unser herkömmliches Verständnis von Paradies und Sündenfall auf schöne Weise überraschend sind.14 Das liegt wohl daran, dass Kafka sich selber in Äquidistanz zu Judentum und Christentum sieht. Er sei weder von der „schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard noch habe er den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels gefangen wie die Zionisten“.15 Die Auslegungen sind nicht selten spielerisch-witzig, ich muss daran denken, dass Kafka beim Vorlesen seiner Texte oft lachte. Man sollte den ursprünglichen Text Gen. 2 und 3 lesen und die Kafka-Betrachtungen daneben lagen, dann kommt man aus dem Wundern und Staunen nicht mehr heraus. Ich gehe in Art einer Homilie auf einige Aphorismen ein, die mich besonders ansprechen.
Stolperweg
Schon der erste Aphorismus ist von abgründiger Bedeutung:
„Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.“16
Der wahre Weg erinnert an die Heilssuche – Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, sagt Christus im Johannesevangelium. Vom breiten und vom schmalen Weg spricht er Mt. 7,13. Der wahre Weg geht über ein Seil – dieses Bild erinnert an den Seiltänzer, der in der Höhe auf dem Seil seine Kunststücke vollführt. Doch nach Kafka ist das Seil widersinnig knapp über dem Boden gespannt. Wie eine Seil-Falle, die wir als boshafte Kinder aufstellten und uns dann versteckten, um zu sehen, ob etwa jemand darüber stolpert. Der wahre Weg scheint ein Stolperweg zu sein, man beachte den Konjunktiv. Wir sprechen vom Stolperstein. Das Stolperseil führt Kafka ein. Stolpern scheint zwangsläufig zu sein. Kunststücke auf dem Seil werden nicht mehr verlangt. Stolpern gehört zum Menschsein. Wie das Hinfallen seit dem ersten Fall, den ein Vorvater von uns getan über ein niedrig gespanntes Verbot: du sollst nicht davon essen, was gerade zum Essen einlädt. Das Verbot enthält einen pragmatischen Selbstwiderspruch, es schafft die Erkenntnis, die es verbietet.
In der ersten Szene von Kleists Zerbrochenem Krug sagt der Dorfrichter Adam: „Zum Straucheln brauchst du doch nichts als Füße. Auf diesem glatten Boden ist ein Strauch hier? Gestrauchelt bin ich. Ein jeder trägt den leidgen Stein zum Anstoß in sich selbst“. Den Satz hat Kafka gelesen. Man strauchelt fast ohne Hindernis. Wir sind darauf angelegt zu stolpern, und sei es durch ein Seil knapp über dem Boden. Lässt sich im Umkehrschluss sagen: Wer nicht stolpert, befindet sich nicht auf dem wahren Weg?
Ungeduld und Lässigkeit
„Ungeduld und Lässigkeit“ bezeichnet Kafka im nächsten Aphorismus als „die menschlichen Hauptsünden“, die zur Vertreibung aus dem Paradies führten. „Wegen der Ungeduld sind sie (die Menschen) vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück.“ (3) Was ist diese Ungeduld? Kierkegaard sagt, „die Angst (sei) der Schwindel der Freiheit“, der die Menschen ergreift, wenn sie sich von Gott losreißen.17 Die Ungeduld des Misstrauens also in den tragenden Grund. Oder die Ungeduld des Wissenwollens. Oder die Ungeduld, die Pascal meinte, wenn er formuliert, „daß alles Unglück des Menschen einem entstammt, nämlich, daß sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können.“18
Aufforderung zum Kampf
„Eines der wirksamsten Verführungsmittel des Bösen ist die Aufforderung zu Kampf.“ (7) Der Kampf des Josef K. im Prozeß illustriert das. Er nimmt den Kampf auf gegen seine ungerechte Verhaftung, für die schnelle Erledigung seines Prozesses und scheitert damit. Er will ständig verstehen und versteht doch nichts.
„Seine Antwort auf die Behauptung, er besitze vielleicht, sei aber nicht, war nur Zittern und Herzklopfen“ (37). Auch hier findet sich wieder die Angst vor dem falschen Weg, vor der Verfehlung. Erich Fromms viel spätere und populär gewordene Unterscheidung zwischen Sein und Haben ist hier angesprochen. Das Wissen um die Grundverfehlung löst „Furcht und Zittern“ (Kierkegaard) aus.
„Das Wort ‚sein‘ bedeutet im Deutschen beides: Dasein und Ihm-gehören.“ (46) Ist hier eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit erkennbar, wie sie Kafka verloren gegangen ist? Vielleicht muss man jenen anderen Aphorismus hinzunehmen, der bündig konstatiert: „Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört Halt zu sein.“ (78)
Vertreibung aus dem Paradies?
„Die Vertreibung aus dem Paradies ist in ihrem Hauptteil ewig: Es ist zwar also die Vertreibung aus dem Paradies endgültig, das Leben in der Welt unausweichlich, die Ewigkeit des Vorganges aber (oder zeitlich ausgedrückt: die ewige Wiederholung des Vorgangs) macht es trotzdem möglich, daß wir nicht nur dauernd im Paradies bleiben können sondern tatsächlich dauernd dort sind, gleichgültig ob wir es wissen oder nicht.“ (64/65)
Noch einmal ein rätselhafter Satz über das Paradies: Im ersten Teil ist sich Kafka mit Schiller und Hegel darin einig, dass die Vertreibung aus dem Paradies notwendig war. Indem Gott dem Menschen freistellt, das Verbot zu akzeptieren oder nicht, hat er ihm das Geschenk der Freiheit gemacht. Kafka kehrt nun, indem er den Gedanken der Ewigkeit des Vorgangs, die ewige Wiederkehr desselben (mit Nietzsche) ins Spiel bringt und von der Heilsgeschichte absieht (urzeitlicher Verlust des Paradieses und endzeitliche Wiedergewinnung), die Logik um und behauptet, wir seien noch im Paradies, gleichgültig ob wir es wissen oder nicht. Dieser Gedanke beruhigt den Lebenskampf, schützt auch vor den Säkularisierungen der jüdisch-christlichen Eschatologie, wie sie sich im protestantisch induzierten Geist des Kapitalismus und seinem Gewinnstreben oder im sozialistischen Fortschrittsgedanken zeigten.
Ähnlich sagt Aphorismus 84: „Wir wurden geschaffen um im Paradies zu leben, das Paradies war bestimmt uns zu dienen. Unsere Bestimmung ist geändert worden; daß dies auch mit der Bestimmung des Paradieses geschehen wäre, ist nicht gesagt.“
Was ist das, was uns weiter dient, wäre die Frage? Die Erinnerung? Die Sehnsucht? Die Welt?
Den Sündenfall relativiert Kafka. Nicht seinetwegen sind wir vertrieben worden, sondern damit wir nicht vom Baum des Lebens essen (82). Der Begriff Sündenfall drückt für ihn Angst aus vor dem Schritt, über die Erkenntnis des Guten und Bösen hinauszugehen und ihr entsprechend zu handeln (86). Das aber führt zur Selbstzerstörung (siehe die Todesdrohung beim Verbot des Essens). Wir sind auch sündig, weil wir noch nicht vom Baum des Lebens gegessen haben. „Sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden, unabhängig von Schuld.“ (83)
Die „Freiheit eines Christenmenschen“
Einer kafkaesken Version von Luthers Freiheit eines Christenmenschen sieht der Aphorismus 66 gleich: „Der Mensch ist ein freier und gesicherter Bürger der Erde, denn er ist an eine Kette gelegt, die lang genug ist, um ihm alle irdischen Räume frei zu geben, und doch nur so lang, daß ihn nichts über die Grenzen der Erde reißen kann. Gleichzeitig aber ist er auch ein freier und gesicherter Bürger des Himmels, denn er ist auch an eine ähnlich berechnete Himmelskette gelegt. Will er nun auf die Erde, drosselt ihn das Halsband des Himmels, will er in den Himmel, jenes der Erde.“
Der Mensch ist also zweifach gefesselt und nicht, wie bei Luther, zweifach frei als freier Herr durch die Gnade Gottes und dienstbarer Knecht in der Nächstenliebe.
Schließlich zum Leiden:
„Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen; sondern so daß das, was in dieser Welt Leiden heißt, in einer andern Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist“ (97) Also wiederum Kritik an jüdisch-christlichen Jenseitsvorstellungen mit ihrem Kompensationsgedanken. Nicht das paulinische „Ich bin überzeugt, dass die Leiden dieser Zeit nichts bedeuten gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll“ (Röm. 8, 18). Es geht um die Annahme des Leidens (auch um uns herum) als gemeinsames Schicksal ohne Aussicht auf Verdienst. Auch um Akzeptanz der darin mitenthaltenen Ungerechtigkeit. Meint er: Seligkeit ist das Leiden in der anderen Welt als akzeptiertes und überstandenes? Hegels Satz aus der Einleitung in die Phänomenologie des Geistes fällt mir ein: „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.“ Und zwar „indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es ins Sein umkehrt.“19
Passt der Satz vielleicht doch nicht nur hierher, sondern auf Kafkas gesamtes Werk? In dem Sinne nämlich, dass Kafka diese Zauberkraft literarisch entwickelte, dafür lebte und daran zugrunde ging. Literatur war ihm ein imaginäres Sterben, bis ihn zuletzt das reale Sterben in der Krankheit zum Tode einholte.20
Der verborgene Glaube
Und dann noch der schöne, auf den ersten Blick erstaunlich klare Satz, gut zitierbar: „Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgenbleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott.“ (50)
Ist im Christentum, besonders bei Luther, der verborgene Gott, der deus absconditus, als das Widersinnige im Leben, das mit dem offenbaren Gott der Liebe in kontrastreicher Spannung steht, so ist für Kafka gerade der Glaube an den offenbaren Gott eine Form des Verborgenbleibens von Vertrauen und Glauben. Wer den persönlichen Gott als Besitz führt, lebt also nicht aus diesem verborgenen Vertrauen an das Unzerstörbare in sich. Der Glaube an das Unzerstörbare verbindet die Menschen, das sagt der bindungsscheue Kafka (69-71).
Kafka hinterfragt die Zeitlichkeit. Er will die Vergänglichkeit bekämpfen. Ewigkeit ist nicht Stillstand der Zeit. Im Gegenteil: „Einer staunte darüber, wie leicht er den Weg der Ewigkeit ging. Er raste ihn nämlich abwärts.“ (38) Ewigkeit meint hier Freiheit von Zeit. Erst im Augenblick des Todes ist sie möglich, deswegen Kafkas Anstrengung, diesen Moment des Übergangs immer wieder zu beschreiben (siehe den Schluss von Der Geier21 und die Türhüterlegende Vor dem Gesetz). Es geht ihm um die literarische Aufhebung der narrativen Zeiterfahrung. Deswegen, parallel zum Schluss vom Prozeß zu lesen: „Nur unser Zeitbegriff lässt uns das Jüngste Gericht so nennen. Eigentlich ist es ein Standrecht.“ (40)
3. „Die Angeklagten sind die Schönsten“ – Josef K. im Prozeß
Der erste Satz in Kafkas bekanntestem Werk lautet: „Jemand musste K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“22 Wer ist dieser jemand? Der Satan wie in der Vorgeschichte Hiobs, der Ankläger am Throne Gottes? Kafka hatte zuvor Roskoffs Geschichte des Teufels23 gelesen. Und Dostojewskijs Schuld und Sühne. „Ohne daß er etwas Böses getan hätte“, heißt es, aber die Erbsünde ist ja da, die Schuld zieht das Gericht an und eröffnet selber den nicht enden wollenden Prozess, die Anklage ist immer präsent. Und die Scham am Schluss, als der eine der beiden Herren, die aussehen wie Opernsänger, ihm das Messer ins Herz stößt: „Wie ein Hund, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“24 Schuld- und Schamkultur, sonst getrennt, stehen hier in enger Verbindung.
Die Ausgangslage ist unklar; Josef K. lacht darüber und will die Komödie der Verhaftung mitspielen: dann sieht er eine Verschwörung am Werk und wird zum paranoiden Zeichendeuter. Stets betrachtet er das Verfahren als ein ihm Äußeres und will es so in den Griff kriegen. Das zeigt sich besonders in der Domszene, in der der Geistliche die Türhüter-Parabel Vor dem Gesetz vorträgt, und zwar als ein legendenhaftes Beispiel für das Problem der Täuschung. Gegen Josef K.s. vorschnelle Deutungen macht der Geistliche auf den Meinungscharakter aller Deutungen aufmerksam. „Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht völlig aus.“ Nur eines ist unveränderlich – der Wortlaut der Schrift: „Du musst nicht zu viel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich.“25
Dieses fast magische Gesetz ist das Zentrum des Geschehens, nicht rechtsstaatliche Verfahren. Die Nähe zum jüdischen Gesetz, zur Tora ist deutlich, und doch liegt in der theologischen Deutung nicht unbedingt die Lösung. In der Türhüterlegende findet sich der Satz über den schon schwächer werdenden Mann vom Lande: „Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht.“26 Ist es der Glanz Gottes, der Laserstrahl der Gesetzestafeln?
Im ersten Gespräch nach der Verhaftung sagt der Beamte zu Josef K: „Unsere Behörde (…) wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen und muss uns Wächter ausschicken“.27 Es gibt drei Möglichkeiten, sagt der Maler Titorelli: „die wirkliche Freisprechung“ (die unerreichbar ist), „die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung.“28 Die einzige Hoffnung liegt bei den letzteren. Das ist zumindest ein kleiner Trost, ebenso wie die Bestechlichkeit der Richter29.
„Es gibt bei Gericht kein Vergessen.“30 Dass Gott nicht vergisst, ist letzte Hoffnung der Gemarterten. Hier wird es zur Hoffnungslosigkeit.
Die Schlussszene formuliert Kafka so: „Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus? Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm?“31
Ein vergeblicher Augenblick der Hoffnung scheint auf. Mit dem erhabenen Satz Goethes aus denWahlverwandtschaften: „Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg.“32
„Die Angeklagten sind eben die Schönsten“, sagt der Advokat, weil sie Angeklagte sind. Es liegt nicht an der Schuld, die sie schön macht, auch nicht an der Strafe, „es ist das gegen sie erhobene Verfahren, das ihnen irgendwie anhaftet“.33Dazu fällt dem lutherischen Theologen sofort die letzte These aus Luthers Heidelberger Disputation ein: „Die Sünder sind deshalb schön, weil sie geliebt werden. Sie werden nicht deshalb geliebt, weil sie schön sind.“34 Die Liebe Gottes schafft sich ihren Gegenstand. Die Besonderheit des Gottes Israels liegt in seiner Liebe zu den Verachteten und Elenden, in Ps. 82 wird es geradezu als Wesen eines wahren Gottes bezeichnet. Und wenn Paulus dieses Elendsein auf alle ausdehnt, indem er in dem Verfahren mit Gott (dem Prozess also) eine Grundverfehlung sieht, die sie zu Geliebten Gottes macht (Röm. 5,8), dann schließt sich der Kreis zu Kafka.
4. Die frohe und die kaiserliche Botschaft
Ich möchte schließen mit Eine kaiserliche Botschaft: „Der Kaiser so heißt es, hat dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Untertanen, gerade dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet.“35 Die Parabel hebt wohl auf die „nachrichtentheoretische Ebene“ (Kilcher) ab, sprich auf die Unmöglichkeit, dass die Nachrichten des Kaisers den ungeheuren Raum seines Reiches durchmessen können.36 Der Kaiser nimmt hier ähnlich wie Beim Bau der chinesischen Mauer die göttliche Stelle des sich selbst setzenden Zweckes ein. Aber zugleich hat seine Existenz etwas Zweifelhaftes, Legendenartiges. Gibt es ihn überhaupt? Der Botschafter jedenfalls dringt kaum durch das Gewirr des Palastes. „Und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor, aber niemals, niemals kann es geschehen, liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt …“ „Niemand dringt hier durch und gar nicht mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt.“ In dieser Formulierung verdichtet sich die Sehnsucht des Erwartenden mit der Unmöglichkeit ihrer Ankunft. Eine solche Botschaft kann nur erträumt werden. Dieser Satz hat den Goldgrund der Hoffnung früherer Geschlechter auf ein besseres Leben.37
Die ähnliche Kierkegaard-Geschichte Der Tagelöhner, die Kafka wohl kannte38, zielt hingegen auf den unmöglichen Inhalt der Botschaft – der König will dich zum Schwiegersohn haben. Ein kleiner Gunsterweis wäre denkbar, aber zum Schwiegersohn – der will mich zum Besten haben, denkt der Tagelöhner. So sind wir Menschen angesichts der christlichen Botschaft, die uns zu Kindern Gottes machen will, das wollen wir nicht glauben, wollen wir nicht annehmen, wir können uns ja auch nichts dafür kaufen.
Bei der Gedenkfeier für Kafka am 19. Juni 1924 im Prager Deutschen Kammertheater sprachen Max Brod und der Journalist Johannes Urzidil. Neben allerlei lobpreisend-trivialen Worthülsen („wundersames Genie“) findet sich ein Satz in der Rede Urzidils, der auf die alles entscheidende Frage abzielte. „Wenn es in irgendeinem Falle eine restlose Kongruenz des Lebens und des Künstlertums gegeben hat, so war dies bei Franz Kafka.“39 Später in seinen Erinnerungen, kam Urzidil noch einmal auf diese Frage zurück. Verschiedenste Deutungen von Kafkas tiefen Sätzen gebe es. „Aber wie es zuging, dass Kafka sagte, was er sagte, dass er es so sagte, wie er es sagte, dass man mit dem, was er sagte und mit ihm niemals in unmittelbaren Konflikt geriet, das wußte keiner von ihnen zu erklären.“40 Auch mein kleiner Text konnte nicht erklären, wie es zuging. Aber es war der Versuch einer Annäherung.
Anmerkungen
* In etwas anderer Form zuerst veröffentlicht in Pastoraltheologie 102/2013, 258-267unter dem Titel „Die Angeklagten sind eben die Schönsten.“ und in meinem Buch „Wär ich allmächtig, ich würde retten, retten.“ Aufsätze zur Gottesfrage in der deutschen Literatur, Stuttgart 2019, 109-118.
1 Das Folgende über Kafkas Sterben nach Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt/M., 2011, 609ff.
2 Stach, Kafka, 620.
3 Die ZEIT, Das Lexikon in 20 Bänden, Bd.7, Hamburg 2005, 365.
4 Ich zitiere im Folgenden die Ausgabe: Franz Kafka, Gesammelte Werke, hrsg. von Max Brod im S. Fischer Verlag Frankfurt/M., die mir in einer Lizenzausgabe für Bertelsmann Club Gmbh Gütersloh o.J. vorlag.
5 Franz Kafka, Der Prozeß, Frankfurt/M. (1950) 1965, 183
6 Franz Kafka, Der Jäger Gracchus, in: ders., Beschreibung eines Kampfes, Frankfurt/M. 1954, 77.
7 Zitiert ohne Nachweis von Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, 174.
8 Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1963, 249f.
9 Brief an O. Pollak, in: Franz Kafka, Briefe 1902-1924, Frankfurt/M. 1958, 27f.
10 Unter diesem Titel ist die gekürzte Habilitationsschrift von Dorothee Sölle Realisation (Darmstadt 1973) im Kreuz-Verlag veröffentlicht worden.
11 Martin Walser, Über Rechtfertigung, eine Versuchung, Reinbek 2012, 7.
12 Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, 266f.
13 So hat Kafka nach Aussage Max Brods 1920 auf die Frage geantwortet, ob es denn keine Hoffnung gäbe (http.//lexikus.de/Juden in der deutschen Literatur/Der Dichter Franz Kafka von Max Brod).
14 Adorno hat zwar Recht, dass es abwegig sei, Kafkas Theologie der Dialektischen Theologie zuzurechnen. Aber gerade die Betrachtungen zeigen, dass er auch nicht nur einen „schicksalhaft vieldeutigen und drohenden (Gott)“ meint, „der nichts erweckt als Angst und Schauder“. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, 277.
15 Oktavheft H, zit. in: Andreas B. Kilcher, Franz Kafka, Suhrkamp Basisbiographie, Frankfurt/M. 2008, 54.
16 Ich zitiere im fortlaufenden Text unter Angabe der Nummern der Aphorismen, in: Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass, Frankfurt/M. (1953) 1966, 30-40.
17 Sören Kierkegard, Der Begriff Angst (1844), hrsg. von L. Richter, Reinbek 1960, 57.
18 Blaise Pascal, Über die Religion (Pensees), Heidelberg 1954, 77.
19 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Einleitung in die Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1964, 26.
20 So Kilcher, Franz Kafka, 71.
21 Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes, Frankfurt/M. 1954, 85.
22 Kafka, Der Prozeß (wie Anm. 5), 7.
23 Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von H.-G. Koch u.a., Frankfurt/M. 1990, 573.
24 Kafka, Der Prozeß (wie Anm. 5), 194.
25 Ebd., 185.
26 Ebd., 183.
27 Ebd., 11.
28 Ebd., 131.
29 Ebd., 101.
30 Ebd., 136.
31 Ebd., 194.
32 Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. VI, Hamburg 1963, 456.
33 Kafka, Der Prozeß (wie Anm. 5), 158.
34 Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers, hrsg. von K. Aland, Bd. 1, Göttingen 1983.
35 Franz Kafka, Erzählungen (1952), Frankfurt/M. 1967, 128f.
36 Kilcher, Franz Kafka, 112.
37 Sozial gesehen ist der Jurist Kafka, der bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt tätig ist, ihr juristischer Vermittler in seinem Engagement für eine Verbesserung der Arbeiterunfallversicherung und bessere Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz.
38 Mathias Mayer, Kierkegaards kaiserliche Botschaft, in: FAZ vom 11.7.2009.
39 Zitiert nach Stach, Kafka, 616f.
40 Zitiert nach Stach, Kafka, 617.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2024