Vor 25 Jahren ist am Sonntag, 31. Oktober 1999, die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ von Repräsentanten des Lutherischen Weltbundes und des Vatikans in der Augsburger Sankt Anna-Kirche unterzeichnet worden – für Hans-Georg Link ein Meilenstein der Annäherung von evangelischer und katholischer Kirche. Link erinnert an die Erklärung und gibt Anregungen zur ökumenischen Begegnungsarbeit in ihrem Geist.
I. Die Ereignisse des Tages
Ich erinnere an die damaligen Ereignisse vom 31. Oktober 1999 in Augsburg.
Morgen
Der Sonntag begann mit einem ökumenischen Gottesdienst im Augsburger Dom, der von Bischof Dammertz und Regionalbischof Öffner geleitet wurde. Anschließend zog eine lange Prozession durch die Augsburger Innenstadt vom Dom zur St. Anna-Kirche. Dort fand die feierliche Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) durch den Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, Bischof Christian Krause von der Braunschweigischen Landeskirche, und den Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, den australischen Kardinal Idris Cassidy, sowie durch weitere Verantwortungsträger statt: „Durch diesen Akt der Unterzeichnung bestätigen die Katholische Kirche und der Lutherische Weltbund die GER in ihrer Gesamtheit“.
Mittag
Eine Stunde später begrüßte Papst Johannes Paul II. beim Angelus-Gebet auf dem Petersplatz in Rom die Unterzeichnung der GER als „Meilenstein“, „sichere Grundlage“, „Hoffnung“ sowie „Beitrag zur Reinigung des geschichtlichen Gedächtnisses und zum gemeinsamen Zeugnis“. Der Ratsvorsitzende der EKD, Präses Manfred Kockvon der Evang. Kirche im Rheinland, würdigte am Mittag in seiner Pressemitteilung die „zum ersten Mal seit der Reformationszeit“ erreichte „bedeutsame Annäherung“ und forderte „Konsequenzen aus der jetzt erreichten Gemeinsamkeit“.
Abend
Am Abend des 31. Oktober 1999 haben sich Vertreter verschiedener geistlicher Gemeinschaften im ökumenischen Zentrum Ottmaring bei Augsburg getroffen und darüber beraten, welche Auswirkungen das Ereignis der Unterzeichnung der GER für ihr gemeinsames ökumenisches Zeugnis haben kann und soll. Einer der Autoren der GER, der evangelisch-lutherische Professor Harding Meyer aus Straßburg, hat am selben Abend im Rahmen der Kölner Reformationsfeier in der Trinitatis-Kirche einen Vortrag zur „Bedeutung und Tragweite der GER“ gehalten:
„Die Bedeutung der Erklärung liegt ganz einfach in … der erreichten Übereinstimmung im Verständnis dieses Evangeliums … Wenn eine Übereinstimmung in der Rechtfertigungslehre erreicht ist,… dann kann kein Problem zwischen unseren Kirchen noch länger unlösbar sein … Das erreichte gemeinsame Verständnis des Evangeliums (muss) eine neue Begründung, Verstärkung und Erweiterung der Praxis eucharistischer Gastfreundschaft zur Folge haben … Gott befreit uns zugleich von dem Zwang, Lebensrecht selbst erwerben zu müssen … (Wir) werden frei vom verkrampften Sorgen für uns selbst. Wir werden frei für den Nächsten und frei für das Tun des Guten, das Gott von uns erwartet und fordert.“
Nach 25 Jahren ist es angebracht, Gott und den beteiligten Menschen für diesen Meilenstein in den Beziehungen zwischen evangelischer und katholischer Kirche nach 469 Jahren erneut angemessenen Dank zu sagen.
II. Auswirkungen
Ziffer 43 der GER beginnt mit diesem Ausblick: „Unser Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre muss sich im Leben und in der Lehre der Kirchen auswirken und bewähren.“ Was ist seitdem in dieser Hinsicht geschehen?
Kirchentage
Ein gutes halbes Jahr nach der Verabschiedung der GER griff der 94. Deutsche Katholikentag in Hamburg das Thema auf und fragte nach Konsequenzen, zu denen Dorothea Sattler aus Münster und ich Impulsvorträge gehalten haben. Dabei ging es um ökumenische Predigtreihen, Taufseminare, eucharistische Gastbereitschaft und um alltägliche Gerechtigkeit: „Rechtfertigung vor Gott und Gerechtigkeit unter den Menschen überzeugend miteinander zu verbinden, ist die große künftige Herausforderung an die Christen“ (H.-G. Link, 104).
Wenige Jahre später führte der 1. Ökumenische Kirchentag in Berlin 2003 das Thema Rechtfertigung mit einem Vortrag von Professor Thomas Söding weiter und konzentrierte sich auf die Abendmahlsfrage: „Ein Glaube – eine Taufe – getrennt beim Abendmahl?“ Dazu wurde von mehreren tausend Teilnehmenden eine „Resolution“ angenommen: „Die Zeit ist reif für eucharistische Gastfreundschaft“. Sie ist leider nicht in den Dokumentationsband aufgenommen worden, wohl aber in die Erklärung der rheinischen Landessynode von 2004 unter der Stabführung von Pfarrer Rainer Stuhlmann: „Warum die Kirche nicht vom Abendmahl ausschließen darf.“ Im gleichen Jahr 2003 hat unser Altenberger Ökumenischer Gesprächskreis ein Plädoyer für „Eucharistische Gastfreundschaft“ in Buchform veröffentlicht.
„Miteinander für Europa“
Aus dem ersten Treffen geistlicher Gemeinschaften am 31. Oktober 1999 in Ottmaring ist die Bewegung „Miteinander für Europa“ hervorgegangen. 2004 und 2007 hat sie zwei große Kongresse in Stuttgart veranstaltet. Inzwischen finden in 12 europäischen Städten regelmäßige Zusammenkünfte statt. In Deutschland geschieht es in Würzburg. Ende Juni 2025 ist ein europäisches Treffen in München geplant. Es geht jeweils um eine „Kultur der gegenseitigen Ergänzung“ und einen Beitrag für ein geeintes Europa.
Lutheraner und Mennoniten
25 Jahre nach der Verabschiedung der Lima-Erklärungen zu Taufe, Eucharistie und Amt 1982 wurde am 29. April 2007 im Magdeburger Dom eine Erklärung der wechselseitigen Taufanerkennung durch 11 ACK-Kirchen unterzeichnet. Während der 11. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes kam es am 22. Juli 2010 zu einem historischen Akt der Versöhnung mit der Mennonitischen Weltkonferenz. In diesem Rahmen überreichte der mennonitische dem lutherischen Präsidenten einen Holzeimer, der traditionell zur Fußwaschung verwendet wird.
Vertiefungen
Im Jahr 2012 löste eine internationale Arbeitsgruppe unter Vorsitz des deutschen evangelisch-methodistischen Theologen Walter Klaiber das Versprechen der GER und der „Gemeinsamen Offiziellen Feststellung“ (GOF) ein, „das Studium der biblischen Grundlagen der Lehre von der Rechtfertigung fortzuführen und zu vertiefen“. Dem folgte ein Jahr später der Bericht der Lutherisch/Römisch-katholischen Kommission für die Einheit zum gemeinsamen Reformationsgedenken im Jahr 2017: „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“.
Begegnungen in Lund und Hildesheim
Auf dieser Grundlage wurde es dann möglich, dass Papst Franziskus am 31. Oktober 2016 nach Lund in Schweden reiste, um das 50jährige Jubiläum des Lutherischen Weltbundes mitzufeiern und das 500jährige Reformationsjubiläum von 2017 international zu eröffnen. Bei dieser Gelegenheit kam es auch zur Unterzeichnung einer Gemeinsamen Erklärung durch Papst Franziskus und den lutherischen Präsidenten Bischof Munib Younan:
„… Wir bekennen und beklagen vor Christus zugleich, dass Lutheraner und Katholiken die sichtbare Einheit der Kirchen verwundet haben … Da wir diese Begebenheiten der Geschichte, die uns belasten, hinter uns lassen, … verpflichten wir uns selbst, in der Gemeinschaft, die in der Taufe wurzelt, mehr zu wachsen … Wir erfahren den Schmerz all derer, die ihr ganzes Leben teilen, aber Gottes erlösende Gegenwart im eucharistischen Mahl nicht teilen können. Wir erkennen unsere gemeinsame pastorale Verantwortung, … dass diese Wunde im Leib Christi geheilt wird … Wir fordern unsere ökumenischen Partner auf, uns an unsere Verpflichtungen zu erinnern und uns zu ermutigen.“
In Deutschland ist es im Rahmen des 500jährigen Reformationsjubiläums ebenfalls zu einem Gemeinsamen Wort und einem Versöhnungsgottesdienst am 11. März 2017 in der Hildesheimer Michaeliskirche gekommen: „Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen“. In der Liturgie sprechen sich katholische und evangelische „Glaubensgeschwister“ gegenseitig zu: „Wir danken Gott, dass es Sie gibt und Sie den Namen Jesu Christi tragen.“
Christliche Weltgemeinschaften
Schon am 23. Juli 2006 hatte der Weltrat Methodistischer Kirchen in Seoul seine Zustimmung zur GER erklärt. Ihm ist im April 2016 der Anglikanische Konsultativrat mit der Resolution 16.17 gefolgt. Als vorerst letzte hat die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen am 5. Juli 2017 in Wittenberg ihren Anschluss an die GER erklärt. Diese fünf Weltgemeinschaften, die römisch-katholische, evangelisch-lutherische, evangelisch-methodistische, anglikanische und evangelisch-reformierte, haben sich erstmals vom 26. bis 28. März 2019 in der Universität von Notre Dame (Indiana/USA) getroffen und ebenfalls eine Erklärung verabschiedet:
Wir setzen uns ein für die „Verwirklichung einer tieferen Gemeinschaft mit dem Ziel der vollen, sichtbaren Einheit der Kirche … In einer Zeit der Individualisierung und Kommerzialisierung wollen wir gemeinsam die Botschaft verkündigen, dass Gottes Heil, die Menschen und die Schöpfung für Geld nicht zu haben sind.“
Das ist die Basis, auf der nun die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) einen neuen Dialog mit dem päpstlichen Einheitsrat in Rom begonnen hat, an dem erstmals nicht nur zwei, sondern mehrere verschiedene Kirchen beteiligt sind. Er soll zu einer Vereinbarung über die Kirche, Sakramente und Ämter führen, die um das Jahr 2030 herum ermöglicht, in eine neue Qualität der Kirchengemeinschaft einzutreten.
Der vorerst letzte Beitrag zur GER ist das Gemeinsame Wort, das zum Abschluss der 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes am 19. September 2023 in Krakau vorgetragen wurde. Es wirft Fragen auf nach dem Petrusdienst und nach dem „Mysterium der Kirche, ihrer Einheit und ihrer Einzigkeit“. Zugleich schaut es voraus auf das Jahr 2030 mit dem 500jährigen Jubiläum des Augsburger Bekenntnisses, das „ein ökumenisches Potenzial von bleibender Aktualität“ in sich birgt.
Die Auswirkungen der GER reichen also von Kirchentagen über die Bewegung „Miteinander für Europa“, Erklärungen und Vereinbarungen bis zum Zusammenschluss von fünf kirchlichen Weltgemeinschaften und dem Ausblick auf eine ökumenische Anerkennung des Augsburger Bekenntnisses im Jahr 2030. Das ist angesichts des 25jährigen Jubiläums wiederum ein Anlass zu großem Dank für die Entwicklungen, die die GER in den vergangenen Jahrzehnten angestoßen hat.
III. Gegenbewegungen
Trotz dieser „Erfolgsgeschichte“ der GER in den vergangenen 25 Jahren darf und soll nicht verschwiegen werden, dass die Erarbeitung, Verabschiedung und Auswirkungen der Erklärung von Anfang an mit erheblichem Gegenwind zu kämpfen hatten – sowohl auf evangelischer wie auf katholischer Seite.
In evangelischen Kirchen
Knapp zwei Jahre vor der endgültigen Verabschiedung der GER veröffentlichten evangelische Hochschullehrer*innen eine Erklärung gegen den Inhalt der endgültigen Fassung vom Januar 1997. Ihre Hauptthese lautet: Es besteht „kein Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre“. Begründet wird das mit Verweisen auf evangelisch-lutherisches Verständnis von Gottes Wort, „allein durch den Glauben“, Heilsgewissheit, guten Werken etc. und auf die „Funktion der Rechtfertigungslehre als Kriterium für Lehre und Leben der Kirche“. Darin wird deutlich, dass sich diese Anti-Erklärung auf die Methode des „differenzierten Konsenses“ der GER, Gemeinsamkeiten zu formulieren und Spielraum für unterschiedliche Akzente zu lassen, erst gar nicht einlässt, sie möglicherweise auch nicht erfasst hat. Stattdessen dominieren antikatholische Vorurteile und Ängste: „Es ist das Programm, das über eine Reihe von Lehrkonsensen hinausläuft auf die Integration auch der evangelischen Amtsträger in das Gefüge der römisch-katholischen Hierarchie.“
Daher kommt die von zunächst 141, später von noch weiteren Hochschullehrer*innen unterzeichnete Gegenerklärung zu der abschließenden Forderung, „die GER in der vorliegenden Form abzulehnen“. Sie eröffnete damit eine zweijährige öffentliche, zum Teil erbittert geführte Auseinandersetzung über das Thema Rechtfertigung, wie es sie seit der Reformationszeit im 16. Jh. nicht mehr gegeben hat. Nachdem im Mai 1999 die GOF mit einem Annex veröffentlicht worden war, die verschiedene Klarstellungen und Verpflichtungen zu weiteren Dialogen beinhaltet, kam es im Oktober 1999 zu einer weiteren Stellungnahme dazu von Hochschullehrer*innen, die ihre Vorbehalte gegenüber dem gesamten Unternehmen der GER-Unterzeichnung erneut bekräftigen. Sie erkennen „keinerlei Verbesserungen“ und sehen sich daher veranlasst, „ihre schwerwiegenden Bedenken gegen die GOF zum Ausdruck zu bringen und vor ihrer Unterzeichnung zu warnen“.
An diesem Vorgang ist bemerkenswert, dass er ausschließlich von deutschen evangelischen Theologieprofessoren*innen initiiert und getragen worden ist. Er ist weder von ausländischen Hochschullehrer*innen übernommen worden noch von Synoden, Kirchenleitungen und Laien in und außerhalb Deutschlands. Da diese Initiative schließlich von etwa 250 akademischen Personen mitgetragen wurde, handelt es sich gleichwohl um einen gravierenden Vorgang im Bereich der EKD. Er bekundet einen Bruch zwischen Kirchen und Universitätstheologie in der Kernthematik der Reformation, der tiefere Ursachen hat und weitreichende Folgen zeitigt.
Von dieser Kampagne gegen die GER hat man nach deren Unterzeichnung in der Öffentlichkeit nichts mehr gehört. Sollte man sie also auf sich beruhen und dem Vergessen anheimfallen lassen? Man kann es nicht, weil dieses Vorgehen erhebliche Spuren im Bereich der EKD hinterlassen hat.
Zehn Jahre nach der Verabschiedung der GER verneinte der Rat der EKD im Februar 2009, das Augsburger Bekenntnis von 1530 mit seinem Akzent auf Rechtfertigung und Sakramenten „als Grundbekenntnis in die Grundordnung der EKD aufzunehmen“. Im Grundlagentext der EKD von 2014, weitere fünf Jahre später, zum 500jährigen Reformationsjubiläum ist von der GER nur einmal ganz beiläufig die Rede, ohne ihr irgendein Gewicht beizumessen (S. 39). Das hat den Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm in seinem Geleitwort zur 4. Auflage zu dem Eingeständnis genötigt, „dass im Blick auf das ökumenische Miteinander die Bezugnahme auf jene Dialoge – nicht: Erklärung! – deutlicher gemacht hätte werden können“. Es ist dann erfreulicherweise doch gelungen, das Jahr 2017 als Christusfest in ökumenischer Gemeinschaft zu feiern. Aber ein wegweisendes Wort zur ökumenischen Relevanz der unvollendeten Reformation oder gar eine bindende Vereinbarung sucht man in der Flut von Veröffentlichungen zum Jahr 2017 vergebens.
Nun plädiert der Gemeinsame Text 30 von EKD und Deutscher Bischofskonferenz, datiert auf den 14. März 2024, schon im Titel für „Mehr Sichtbarkeit in der Einheit und mehr Versöhnung in der Verschiedenheit“ und spricht sich im Untertitel für „Chancen einer prozessorientierten Ökumene“ aus. Er bringt auch manchen guten Aspekt zu Martyria, Diakonia und Leiturgia als Grundvollzügen der Kirche zur Sprache. Aber hier kommt nun die GER mit ihrem 25jährigen Jubiläum in diesem Jahr überhaupt nicht mehr vor, so als hätte es sie nie gegeben!
Das lässt nun doch fragen, ob die damalige Absicht der rund 250 Hochschullehrer*innen inzwischen nicht die Oberhand innerhalb der EKD, ihres Rates und ihrer Synode gewonnen hat. Ihr Umgang mit dem historischen „Meilenstein“ von 1999 ist jedenfalls nach 25 Jahren befremdlich und enttäuschend.
In der römisch-katholischen Kirche
Neun Monate nach der Verabschiedung der GER in Augsburg erschien in Rom ohne vorherige öffentliche Ankündigung, also „aus heiterem Himmel“, eine Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre unter ihrem Präfekten Josef Kardinal Ratzinger mit dem Titel: „Dominus Iesus. Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche“ (VAS 148). Sie setzt sich in erster Linie mit anderen religiösen Traditionen und dem interreligiösen Dialog auseinander, um gegenüber relativierenden Bestrebungen die Heilsuniversalität Jesu Christi erneut zur Geltung zu bringen.
Kapitel IV ist der „Einzigkeit und Einheit der Kirche“ gewidmet. Es unterscheidet zwischen der einen katholischen und verschiedenen orthodoxen Kirchen sowie den anderen „kirchlichen Gemeinschaften“, zu denen anglikanische, reformatorische und Freikirchen zählen: „Die(se) kirchlichen Gemeinschaften hingegen, die den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“ (Z. 17, S. 23).
Während in der GER „die lutherischen Kirchen und die römisch-katholische Kirche“ (Z. 43) in einem Atemzug genannt werden, trifft nach neun Monaten diese römisch-katholische Erklärung eine Unterscheidung, die den evangelisch-lutherischen Kirchen – ohne sie expressis verbis zu nennen, aber implizit und faktisch – das eigentliche Kirchesein abspricht. Gerade auf dem Hintergrund der ein knappes Jahr zuvor erkämpften GER wurde diese von Papst Johannes Paul II. dem Kardinalpräfekten Josef Ratzinger „kraft seiner apostolischen Autorität bestätigte und bekräftigte und … (zur) Veröffentlichung angeordnete“ Erklärung namentlich von evangelisch-lutherischer Seite als niederschmetternder Keulenschlag erlebt und erlitten. Er führte in den folgenden Jahren zumindest in Deutschland vor allem zu einer emotionalen Abkühlung der evangelisch-katholischen Beziehungen.
Dass es sich bei der zitierten Äußerung von Dominus Iesus nicht um einen einmaligen bedauerlichen ökumenischen „Betriebsunfall“ gehandelt hat, geht aus dem Dokument der Glaubenskongregation vom 29. Juni 2007 unter Papst Benedikt XVI. hervor: „Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche“. Die 5. und letzte Frage befasst sich damit, warum die aus der Reformation hervorgegangenen Gemeinschaften den Titel „Kirche“ nicht erhalten. Die Antwort lautet fast wortwörtlich wie im Jahr 2000: „Die genannten kirchlichen Gemeinschaften, die vor allem wegen des Fehlens des sakramentalen Priestertums die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, können nach katholischer Lehre nicht ‚Kirchen‘ im eigentlichen Sinn genannt werden.“ So blieb es während des gesamten Pontifikats von Papst Benedikt XVI., der im Gegensatz zu seinem Vorgänger und seinem Nachfolger weder den Lutherischen Weltbund noch den Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf je besucht hat, bei dieser kleinen ökumenischen Eiszeit.
Erst mit Papst Franziskus kam wieder neues Leben in die ökumenischen Beziehungen zwischen Katholiken und Protestanten. Da er schon in Argentinien Freunde aus charismatischen Kreisen hatte, kennt Franziskus auch keine Berührungsängste gegenüber Pfingstkirchen. In Deutschland ist mit dem Votum des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen von 2020 „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ das Gespräch über gegenseitige eucharistische Gastfreundschaft neu belebt worden. Beim 3. Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt/Main 2022 hat es erste Früchte getragen. Auch der Versuch der Deutschen Bischofskonferenz, nach dem gelungenen Reformationsjubiläum 2017 konfessionsverschiedenen Paaren die gemeinsame Teilnahme an der Kommunion zu ermöglichen, soll nicht unerwähnt bleiben, auch wenn er nur teilweise von einzelnen Bistümern wie beispielsweise Osnabrück umgesetzt wird.
Kürzlich hat das Gemeinsame Wort des Lutherischen Weltbundes und des vatikanischen Dikasteriums zur Förderung der Einheit der Christen von Krakau im September 2023 die GER als Fundament der Gemeinschaft von Lutheranern und Katholiken erneut gewürdigt: „Gott rechtfertigt uns in der Taufe … Lutheraner und Katholiken bekräftigen, dass die Rechtfertigung eine sakramentale Wirklichkeit ist, die in der Taufe zugeeignet wird. Als sakramentale Realität ist die Rechtfertigung die Gewissheit der Verheißung Gottes und die eine Hoffnung auf Gottes beständiges Wirken, ‚in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist‘“ (Abschnitt 2).
Vor allem in unserem Land der Reformation und der Kirchenspaltung ist die Verabschiedung der GER keineswegs reibungslos über die Bühne gegangen. Positive Auswirkungen haben jahrelang mit Gegenbewegungen im Konflikt gelegen, die uns die kleine ökumenische Eiszeit beschert haben. Seit dem Reformationsjubiläum 2017 scheint die Zustimmung zum Meilenstein der GER wieder zuzunehmen. Die Gegenbewegungen zur GER haben jedoch auf evangelischer wie auf katholischer Seite deutlich werden lassen, wie dünn das Eis noch ist, auf dem sich beide Kirchen zueinander bewegen. Daher ist das 25jährige Jubiläum der GER jetzt der richtige Zeitpunkt, deutliche und sichtbare Schritte miteinander zu unternehmen, damit es nicht noch einmal zu einem Rückfall in konfessionelle Grabenkämpfe kommt.
IV. Vorschläge
25 Jahre nach Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre ist es an der Zeit, das Ereignis und die Erklärung von Augsburg 1999 in ökumenischer Gemeinschaft erneut ins Bewusstsein zu bringen, zu feiern und weiterzuentwickeln. Dazu unterbreite ich abschließend sieben Vorschläge.
1. Weiterentwicklung der Themen
Die Funktion der GER besteht darin, die Differenzen, die sich über Jahrhunderte zwischen den Kirchen aufgetürmt haben, abzubauen und zu überwinden. Daher blickt sie in erster Linie zurück auf Problemstellungen im und seit dem 16. Jh. Nachdem sie mit dem gemeinsamen Verständnis der Rechtfertigung weitgehend bewältigt sind, stehen heute weitere und neue Themen zur gemeinsamen Bewältigung an. Ich nenne drei von ihnen.
(1) Wie gehören Rechtfertigung der Menschen vor Gott und Gottes Gerechtigkeit auf Erden zusammen? Die Frage betrifft nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Personengruppen und Gesellschaften, die mit Armut, Ausgrenzung und Behinderung zu kämpfen haben. Hier geht es darum, von der Vereinzelung in der Rechtfertigung vor Gott zur Vergemeinschaftung der Gerechtigkeit Gottes auf Erden zu gelangen.
(2) Was haben Rechtfertigung und Recht miteinander zu tun? Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte kann man als eine politische Ausweitung des von Gott jedem Menschen gewährten Rechtes auf umfassendes Leben verstehen. Das ist heute besonders wichtig im Blick auf das Recht von Opfern sexueller Gewalt – noch dazu in den Kirchen –, gehört, geachtet und in ein besseres Leben begleitet zu werden. Dazu gehören von Seiten der Täter ein Schuldeingeständnis, eine Bitte um Vergebung und im Rahmen des Möglichen eine angemessene Wiedergutmachung.
(3) Was trägt Rechtfertigung zu einem „gerechten Frieden“ bei? Die Kernbotschaft von der Rechtfertigung verkündigt schuldig gewordenen Menschen Vergebung ihrer Sünden um Christi willen. Sie befreit bei militärischen Konflikten von der Fixierung auf die selbstbezogene Frage: „Werde ich schuldig?“, und führt zu der von der Liebe zu Opfern militärischer Gewalt motivierten Frage: „Was fördert das Wohl des Nächsten?“ Statt der Angst vor eigenem schuldhaften Verhalten, die zu lähmender Untätigkeit führt, geht es um ein mutiges und solidarisches Unterstützen der zu Unrecht Angegriffenen und Unterlegenen. Denn durch Jesus Christus „widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen“ (Barmer Theologische Erklärung 1934, 2. These).
2. Kanzeltausch am Reformationstag und zu Allerheiligen
Da es sich vor 25 Jahren in Augsburg um ein ökumenisches Ereignis allerersten Ranges gehandelt hat, ist es angezeigt, zum Jubiläum nach 25 Jahren am 31. Oktober 2024 katholische Gemeindeglieder und ACK-Partner als ökumenische Geschwister ausdrücklich und rechtzeitig zum Mitfeiern einzuladen. Auf diese Weise ändert sich die Gestaltung des Reformationstages von konfessioneller Rückbesinnung zu ökumenischer Aussicht.
Der Kern der GER besteht in einem Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre, wie er unter „3. Das gemeinsame Verständnis der Rechtfertigung“ ausgesprochen ist. Um das deutlich und verständlich werden zu lassen, schlage ich vor, eine*n Angehörige*n der römisch-katholischen Kirche dazu eine Predigt oder einen Vortrag halten zu lassen. Das könnte der Startschuss werden, statt evangelischer Starredner und Scharfmacher ökumenisch kompetente Gesprächspartner*innen zu Reformationsfeiern einzuladen.
In mehrheitlich katholischen Bundesländern ist Allerheiligen ein Feiertag. Bei den Messfeiern könnte man entsprechend verfahren und evangelische Prediger*innen einladen, das Evangelium auszulegen. So würde aus dem Nebeneinander ein Zu- und Ineinander der beiden Gedenktage. Es käme, wie es in Wülfrath bei Düsseldorf begonnen wurde, zu einer ökumenischen Feier der „Reformation aller Heiligen“.
3. Gegenseitige Anerkennung
Die GER lässt die gegenseitigen Lehrverurteilungen aus dem 16. Jh. im Blick auf das Thema Rechtfertigung in neuem Licht erscheinen: Sie stellt dazu fest, dass die damaligen Verurteilungen die heutigen Partner nicht mehr treffen (Z. 41). Damit die im Jahr 2024 in der Feier Anwesenden von der Tragweite dieser Aussage etwas erfahren, empfiehlt es sich, die gegenseitige Anerkennung positiv auszusprechen, wie es in Hildesheim 2017 geschehen ist: „Liebe evangelische Glaubensgeschwister …, Liebe katholische Glaubensgeschwister: Wir danken Gott, dass es Sie gibt und Sie den Namen Jesu Christi tragen.“ Eine solche gegenseitige Zu-Sage lässt sich gut mit dem bewussten Austausch des Friedensgrußes verbinden.
4. Außerkraftsetzen der gegenseitigen Verurteilungen
Nach 25 Jahren ist die Zeit reif, auch die gegenseitige Verdammung von Papsttum und „Martinus (Luther) und alle die anderen …, die diesem Martinus nachfolgen“ (Bannbulle Leos X. von 1521), in einem offiziellen Akt außer Kraft zu setzen, damit sie der künftigen Gemeinschaft beider Kirchen nicht länger im Wege stehen. Der Altenberger Ökumenische Gesprächskreis (AÖG) hat mit seiner Altenberger Erklärung 2020 bereits einen Vorschlag für das 500jährige Gedenkjahr der gegenseitigen Verwerfungen 2021 unterbreitet. Nachdem es damals dazu nicht gekommen ist, bietet sich das 25jährige Jubiläum der GER als neue Gelegenheit an, das bisher Versäumte nachzuholen.
Ein „Gemeinsames Wort der Versöhnung“ kann von dem Kontaktgesprächskreis von Deutscher Bischofskonferenz und Evangelischer Kirche in Deutschland erarbeitet werden. Für die verbindliche Außerkraftsetzung der gegenseitigen Verwerfungen des 16. Jh. stehen der Vatikan und der Lutherische Weltbund in letzter Verantwortung. Aber eine regionale Fassung aus dem Land der Reformation und der Kirchenspaltung wäre äußerst hilfreich und wünschenswert. Wie das Beispiel der Stuttgarter Erklärung von 1945 zeigt, kann eine entsprechende Formulierung über Nacht gefunden werden, wenn der richtige Geist und entsprechende Wille dazu vorhanden sind.
5. Gemeinsames Taufgedächtnis
Das Gemeinsame Wort von Krakau 2023 hat die Nähe zwischen Rechtfertigung und Taufe besonders hervorgehoben. Es liegt daher nahe, beides in der Feier des Taufgedächtnisses miteinander zu verbinden. So sieht es auch die Notre Dame-Erklärung von 2019: Es „sollten auch Liturgien zur Feier der Rechtfertigung und unserer gemeinsamen Taufe anlässlich des 31. Oktobers, des Vorabends von Allerheiligen, einem viel größeren Kreis von Menschen zugänglich gemacht werden.“ Ich schlage vor, ergänzend oder alternativ die Zeichenhandlung, sich gegenseitig die Füße zu waschen, exemplarisch zu vollziehen.
6. Eine Agape-Feier
Bedauerlicherweise ist der ökumenische Fortschritt noch nicht so weit gediehen, das Mahl des Herrn im Rahmen einer solchen Versammlung miteinander feiern zu können. Stattdessen bietet es sich an, eine Agape-Feier zum Abschluss oder im Anschluss vorzusehen. Wichtig ist dabei, in einem gestalteten Gestus Brot mit einem Segenswort untereinander zu teilen. So kommen Gegenseitigkeit und Gemeinschaftlichkeit am besten zum Ausdruck. Dazu gehört, in Gruppen möglichst an Tischen Platz zu nehmen, die ein anschließendes Gespräch miteinander erleichtern.
Wo es möglich ist, kann man bei dieser Gelegenheit zu ökumenisch „sensibler“ Teilnahme an Abendmahls- und Eucharistiefeiern in den Konfessionskirchen einladen. Das wäre ein erster Schritt über die Agape-Feier hinaus hin zu eucharistischer Gastfreundschaft.
7. Ecclesia semper reformanda
Früher diente der Reformationstag dazu, sich der Anfänge, Kraft und oft genug auch der Überlegenheit der eigenen evangelischen Konfession zu vergewissern. Seit der Verabschiedung der GER am Reformationstag 1999 bahnt sich eine Veränderung von Sinn und Gestaltung an. Der Reformationstag wird nun mehr und mehr aus einem konfessionellen zu einem ökumenischen Tag der Vergewisserung und Begegnung.
Ein mustergültiges Beispiel dafür ist die Feier des Reformationstages in der Jerusalemer Erlöserkirche. Dort versammeln sich zu Gottesdienst und anschließender Agape Vertreter von so gut wie allen Kirchen der Stadt. Der Platz reicht dann nicht immer aus, aber der Geist der Begegnung und die Freude des Miteinanders überwinden alle räumlichen Schwierigkeiten. Es ist ein Modell dafür, wie an diesem Tag aus einer einzelnen ecclesia reformata die Gemeinschaft der ecclesia semper reformanda hervorgeht.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2024