Im Blick auf die Inhalte des Neuen Testaments haben sich so manche landläufigen Irrtümer eingeschlichen. Christfried Böttrich stellt in einer Reihe im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt die zehn am meisten verbreiteten Irrtümer vor. 

Wie kommt Paulus eigentlich zu dem Image eines „Moral-Apostels“, der den Leuten den Spaß am Sex vermiesen will? Weder seine Briefe noch die Apostelgeschichte bestätigen dieses Bild. Und zum Thema Sex äußert sich Paulus nur in zwei Zusammenhängen. Der erste betrifft die „Porneia“, die Paulus als Laster brandmarkt und vor der er warnt. Wenn die meisten Übersetzungen diesen Begriff mit „Unzucht“ wiedergeben, trifft das die Sache nur sehr ungenau. „Porneia“ meint jede sexuelle Betätigung außerhalb der Ehe, als deren Maßstab die Tora gilt. Hier bleibt Paulus seiner Erziehung treu und vertritt die strenge Ethik des Judentums. Er stimmt darin mit der jüdischen Theologie seiner Zeit überein: Sexualität ist eine der guten Schöpfergaben Gottes; sie zu gebrauchen ist ein Gebot, das sich an Tiere und Menschen gleichermaßen richtet (1. Mos. 1,22.28). Sexualität bedarf deshalb eines besonderen Schutzes. Die Kritik an der ­„Porneia“ basiert auf der Hochschätzung geregelter Sexua­lität.

Der zweite Zusammenhang betrifft die Frage der Enthaltsamkeit. Von dem Gebot, sich zu vermehren, gibt es im Judentum keine Ausnahme. Umso überraschender klingt es, wenn Paulus in 1. Kor. 7,1 schreibt: „Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren“ und wenig später nachschiebt: „Ich wollte zwar, alle Menschen wären wie ich, aber jeder hat von Gott seine eigene Gabe erhalten, der eine so, der andere so.“ Aha – damit ist es also heraus. Ehelosigkeit wäre die bessere Option; nur weil Menschen unterschiedlich sind, muss man sich auch mit dem leidigen Sexualtrieb arrangieren. Aber so einfach ist die Sache nicht.

 

Liebe und Ehe in knappen Zeiten

Paulus behandelt in 1. Kor. 7 Fragen der Ehe und Ehescheidung anhand von sieben Fallbeispielen. Er geht damit sehr kundig und erstaunlich pragmatisch um. Sein Thema ist aber ein ganz anderes: nämlich die „Parusie“, also das sehnsüchtig erwartete Kommen Christi. Gemeinsam mit der ersten christlichen Generation geht er davon aus, dass der zu Gott erhöhte Christus noch zu seiner Lebenszeit wiederkommen werde (1. Thess. 4,13-18; 1. Kor. 15,51-53). Deshalb hat er vor allem ein Anliegen: die Vorbereitung auf dieses Kommen. Sie erfordert alle Kräfte und Kapazitäten. Was davon ablenkt, ist zu vermeiden. Das gilt auch für das Beziehungsgefüge von Mann und Frau. Die Liebe beflügelt nicht nur, sie bindet auch. Eine Beziehung bedarf der Pflege – das sieht Paulus sehr realistisch. Deshalb sagt er in 1. Kor. 7,32: „Ich aber möchte, dass ihr frei von Sorge seid.“ Denn er bleibt völlig durchdrungen von der Überzeugung (1. Kor. 7,29-31): „Die Zeit ist zusammengedrängt. … Die Gestalt dieser Welt vergeht.“

Die Parusie-Naherwartung der ersten Generation hat sich nicht erfüllt. Die Gemeinden müssen lernen, dass es mit dem Kommen Christi noch etwas dauern wird, und fangen sich dabei den Spott ihrer Zeitgenossen ein (2. Petr. 3,3-4). Damit erledigen sich auch die Bedenken des Paulus in 1. Kor. 7 (zumindest teilweise). Heiraten wird von Neuem die bevorzugte Option, auch wenn das Wissen um die Vorläufigkeit der Geschlechterbeziehung bleibt.

Vom 2. Jh. an entstehen zahlreiche apokryphe Apostelgeschichten. Auch Paulus spielt darin eine große Rolle. Doch seine „Rechtfertigungstheologie“ sowie die vielfältigen Themen seiner Briefe verschwinden völlig aus dem Blick. Die Verkündigung des Apostels schnurrt zusammen auf ein einziges Anliegen: die Enthaltsamkeit. In einer solchen Verkürzung spiegelt sich schon die Frömmigkeit einer veränderten Zeit. Die apokryphen Texte schlachten das kanonisch werdende NT nun vorzugsweise unter dem Gesichtspunkt asketischer Übungen aus. Genau so ist Paulus dann viele Jahrhunderte lang in Erinnerung geblieben: als ein Eiferer für den Verzicht auf alle Sexualität. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Was der „historische“ Paulus wohl dazu sagen würde?

Christfried Böttrich

(wird fortgesetzt)

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Christfried Böttrich, Jahrgang 1959, Studium der Evang. Theologie in Leipzig, 1990 Promotion in Leipzig, 1995 Habilitation in Leipzig, Vertretungsprofessuren in Frankfurt/M., Marburg und Jena, seit 2003 Prof. für Neues Testament an der Universität Greifswald.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2024

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