Der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton wurde am 29. Mai 1874, also vor 150 Jahren, geboren. Besonders bekannt sind seine Krimis um „Pater Brown“. Aber auch als Theologe und christlicher „Apologet“ wurde er bedeutsam. Chesterton konvertierte 1922 von der anglikanischen zur katholischen Kirche. Er verteidigte genial und vital die traditionelle katholische Lehre. Als er 1936 starb, verlieh ihm Papst Pius XI. den Titel „Defensor fidei“. Das hört sich nach mancher Leute Meinung „erzkonservativ“ an. Aber wenn man hört, dass z.B. Ernst Bloch ihn geliebt und verehrt hat, ahnt man schon etwas von dem Reichtum seiner Gedanken. Ich möchte einige der „Geistesblitze“ von Chesterton vorstellen.
Demut und Lebensfreude
Das Tor zu Chesterton waren für mich seine Gedanken über die Demut: Nichts von dem, was ein Mensch hat und erlebt, hat er gemacht oder verdient. Jeder Augenblick ist Geschenk aus einer unverdienten Huld. Das kann sich im Grunde jeder selbst sagen, und viele haben sich das wohl auch schon gesagt. Und doch erlebt man es mit Chestertons Worten neu:
„Sähen wir die Sonne zum ersten Mal, dann wäre sie der furchtbarste und schönste Meteor überhaupt. Mittlerweile sehen wir sie zum hundertsten Mal (und sie ist für uns) das ‚Alltagslicht‘ geworden. Die Demut aber versetzt uns immer wieder zurück in die ursprüngliche Finsternis. … Dort ist jedes Licht wie der Blitz, der uns einen Augenblick aufschreckt. Ohne Einsicht in diese ursprüngliche Finsternis, in der es für uns nichts zu sehen und nichts zu erwarten gibt, bleibt es uns verwehrt, aus kindlichem Herzen ein Loblied auf die phantastische Sinnlichkeit der Dinge anzustimmen. … Dem Demütigen, und ihm allein, ist die Sonne wirklich eine Sonne; dem Demütigen, und ihm allein, ist das Meer wirklich ein Meer. Schaut er in die vielen Gesichter auf der Straße, dann erkennt er nicht nur, dass die Menschen lebendig sind; mit wilder Freude erkennt er, dass sie nicht tot sind.“ (Ketzer, 159)
Grüneres Gras
Ich bin auf dem Lande aufgewachsen. Wir hatten einen großen Garten und eine herrliche Wiese. Manchmal erinnere ich mich, wie ich als Kind die grüne Wiese genossen habe. Natürlich habe ich das damals als Kind nicht reflektiert. Aber heute, als Erwachsener, denke ich manchmal: So grün wie damals als Kind möchte ich den Rasen noch einmal erleben. Warum kann ich als Erwachsener den Rasen nicht mehr in diesem herrlichen Grün sehen, das mich als Kind glücklich gemacht hat? Ich denke, die Gewohnheit hat mich stumpf gemacht gegen diese kindliche Erfahrung des grünen Rasens. Jahr für Jahr wurde der Rasen im Frühling wieder grün, und schließlich wurde dieses Grün zur Selbstverständlichkeit: Der Rasen ist eben grün, na und …
Inzwischen bin ich Mitte siebzig, und ich denke oft an den Tod. Das ist kein schöner Gedanke, und doch: Siehe da, der Rasen ist fast wieder so schön grün wie in meiner Kindheit – ja manches Mal fast grüner als in meiner Kindheit. Was ist da geschehen? Die Nähe des Todes verwandelt die Erfahrung, vertieft sie und schenkt eine ungeahnte Beglückung. Oder, philosophisch gesagt, erst wenn wir durch das Nichts hindurchgehen, erleben wir das Glück des Seins. Diesen Gedanken finde ich ähnlich bei Chesterton:
„Ehe wir nicht begreifen, dass auch nichts sein kann, begreifen wir nicht, dass etwas ist. Ehe wir die Finsternis im Hintergrund nicht gewahren, können wir die einzigartige Schöpfung des Lichtes nicht würdigen. Kaum dass wir jene Finsternis wahrgenommen haben, erstrahlt das Licht und ist ein plötzliches, blendendes, göttliches Leuchten. Solange wir uns das Nichts nicht vor Augen gestellt haben, unterschätzen wir den Sieg Gottes und vermögen keine der Errungenschaften seines uralten Kampfes zu verstehen. … Es ist wahr, dass wir von nichts etwas wissen, ehe wir nichts vom Nichts verstehen. … Faktum ist, dass jeder Augenblick unseres Lebens ein unvorstellbares Wunder ist.“ (Ketzer, 60f)
Wer die Wirklichkeit vor dem Hintergrund des Nichts erfährt, der wird anspruchslos und dankbar. Er ist überrascht und überwältigt, dass er leben darf, und er „sieht rötere Rosen, als der gewöhnliche Mensch zu sehen vermag, und grüneres Gras und eine hellere Sonne“. (Ketzer 61)
Gott ist jünger als wir
Kinder sind unersättlich. Wenn man mit einem Kind „Hoppe, hoppe Reiter“ spielt, dann ruft es nach jedem „Plumps“: „Nochmal!“ Der Opa kann nicht mehr, aber das Kind fordert: „Nochmal!“ Chesterton kommt doch tatsächlich auf die Idee, dieses „Nochmal!“ in Gott hinein zu verlegen. Es ist keine blinde Eintönigkeit und Notwendigkeit, dass die Sonne jeden Morgen aufgeht. Sondern Gott sagt jeden Morgen „Nochmal!“ zur Sonne und jeden Abend „Nochmal!“ zum Mond. Und es ist keine automatische Notwendigkeit, die alle Gänseblümchen gleich werden lässt, sondern es ist Gott, der jedes Gänseblümchen einzeln erschafft und der nicht müde wird, sie zu erschaffen. „Vielleicht hat Gott die Triebkraft des Kindes, wir hingegen haben gesündigt und sind alt geworden, während unser Vater jünger ist als wir. Jeden Morgen geht die Sonne auf.“ (Orthodoxie, 122)
Seitdem ich Chesterton gelesen habe, verstehe ich das besser. Der Sonnenaufgang ist kein Automatismus der Natur, sondern hinter jedem Sonnenaufgang steht Gott mit seiner kindlichen Freude, der der Sonne zuruft: „Nochmal!“ Und wenn ich vor dem Meer einer Löwenzahnwiese stehe, wie nun gerade jüngst im Frühling, dann sehe ich hinter jeder Löwenzahnblume den Schöpfer: „Nochmal! Nun blühe du! Den Menschen und mir zur Freude.“
Der Löwenzahn und ich
Es war ja erst vor Kurzem, dass wir uns im Mai am Löwenzahn erfreut haben. Inzwischen sind schon die Pusteblumen verweht, aber ich denke, wir haben das gelbe Blumenmeer noch vor Augen. Da hat Gott wahrhaftig millionenfach sein „Nochmal“ gerufen! Chesterton knüpft an den zeitlosen Löwenzahn einen provozierenden, unzeitgemäßen Gedanken an. In Anknüpfung an die amerikanische „Erklärung der Menschenrechte“ formuliert er: „Eine ganze Generation ist gelehrt worden, aus voller Kehle darüber Unsinn zu reden, dass sie ein Recht auf das Leben habe, ein Recht auf Erfahrung, ein Recht auf Glück. … Aber ich neige mehr der Auffassung zu, dass der Mensch kein Recht hat, auch nur einen einzigen Löwenzahn zu sehen, denn er selber hätte weder den Löwenzahn noch das Augenlicht erfinden können.“ (Autobiografie, 356)
Wir können sowohl für den Löwenzahn als auch für das Augenlicht nur dankbar sein. Der Christ und der Muslim wissen das – und sie wissen, wer der Adressat ihrer Dankbarkeit ist. Auch der Atheist weiß natürlich, dass er das Augenlicht und den Löwenzahn nicht geschaffen hat und nicht schaffen kann. Aber kann ein Atheist „dankbar“ sein? So habe ich als Pastor in meiner aktiven Zeit manchmal gehört: „Auch ich bin dankbar für mein Leben. Aber dafür brauche ich keinen Gott.“ Der interessante Atheist Richard Dawkins besteht nachhaltig darauf, dass er „dankbar“ ist für die schöne Natur und für sein Leben. Aber kann man dankbar sein, ohne „jemandem“ dankbar zu sein? Ich schließe mich Chestertons Auffassung an: Dankbar sein heißt, jemandem dankbar zu sein. Chesterton drückt das schön aus: „Wenn jemand behauptet, dankbar zu sein, ohne dass jemand da ist, dem er dankbar sein könnte, und ohne dass es gute Absichten gibt, für die er dankbar sein könnte, dann nimmt er einfach seine Zuflucht zur Gedankenlosigkeit, um zu vermeiden, dass er undankbar ist.“ (Autobiografie, 357)
Das einzige wilde Tier ist der Mensch
Natürlich ist es Unsinn, Tiere „wild“ zu nennen. Tiere sind, wie sie sind. Ein Löwe ist nicht wilder als eine Maus – er ist so, wie er sein muss. Beide haben keine Entscheidungsfreiheit. Und in seiner Liebe zu paradoxen Formulierungen trifft Chesterton einmal mehr die schlichte Wahrheit: Das einzige wilde Tier ist der Mensch. „Wir sprechen heute gern von wilden Tieren. Aber das einzige wirklich wilde Tier ist der Mensch. Er nämlich ist ausgebrochen. Die übrigen Tiere sind folgsam; sie gehorchen dem strengen Verhaltenskodex ihrer Art. Alle übrigen Tiere sind gebändigt, nur der Mensch ist unbändig, ob als Liederjan oder als Mönch.“ (Orthodoxie, 269) In diesem Sinne spricht Chesterton von der gewaltigen „Kluft“ zwischen den Tieren und dem Menschen. Der Mensch ist „ungeheuer anders“.
Wie so häufig hat Chesterton einen unkonventionellen Blickwinkel auf die Dinge. Tiere und Menschen sind sich ja in fast allem gleich: Atmung, Nahrungsaufnahme, Stoffwechsel, Ausscheidung, Fortpflanzung, Geburt, Tod, Lunge, Herz, Magen. Chesterton: „Dass Menschen und Tiere sich ähneln, ist eigentlich eine Binsenwahrheit“. (Orthodoxie, 268)Aber was überrascht denn wirklich: Dass so ähnliche Wesen so ungeheuer unterschiedlich sind! Wer spielt denn Klavier, wer erinnert sich denn an seinen Urgroßvater, wer kann denn „gut und böse“ sein? Und das bei (über den Daumen) 98% identischem „Genmaterial“? Der Mensch ist „ungeheuer anders“ (Orthodoxie, 268) Das ist zwar ungeheuer selbstverständlich – wird aber heute auf eine schreckliche Weise verkannt. Chesterton: „Als Mensch bin ich das größte aller Geschöpfe!“ Und andererseits: „Als Mensch bin ich der größte aller Sünder.“ Wir können das ganz im Sinne Chestertons präzisieren: Als Mensch bin ich die einzige Kreatur, die ein Sünder sein kann. Mein „Sünder-sein-Können“ ist ja gerade meine Größe.
Chesterton sagt an anderer Stelle: „Das eigene Selbst kann man kaum gering genug schätzen.“ Mein eigenes Selbst ist sicherlich von viel Dummheit, Selbstgefälligkeit, Wichtigtuerei geprägt. Aber nun: „Die eigene Seele kann man kaum hoch genug schätzen.“ (Orthodoxie, 185) Denn die eigene Seele – das ist das Bild Gottes.
Chesterton aphoristisch
Robinson Crusoe
Chesterton hat von Kindheit an Defoes „Robinson Crusoe“ geliebt. Dazu schreibt er einmal: „Das herrlichste aller Gedichte ist eine Bestandsliste. Jedes Küchengerät wird zu einem Himmelsgeschenk, weil Crusoe es am Meer hätte verlieren können. Wir sollten uns vor Augen stellen, dass alle Dinge diesen Charakter haben, mit knapper Not dem Untergang entronnen zu sein.“ (Orthodoxie, 128)
Pantheismus und Transzendenz
„Aus dem Pantheismus einen eigenständigen Impuls zu moralischem Handeln zu gewinnen, ist eigentlich unmöglich. Bedeutet er doch im Kern, dass eines so gut ist wie das andere, während Handeln im Kern bedeutet, dass eines dem anderen erheblich vorzuziehen ist.“ (Orthodoxie, 250) „Setzen wir auf die Immanenz Gottes, so landen wir bei Introspektion, Quietismus, sozialer Indifferenz – Tibet. Setzen wir auf die Transzendenz Gottes, landen wir bei Verwundern, Neugierde, moralischem und politischem Abenteuer, gerechtem Zorn – Christentum. Beharren wir darauf, dass Gott dem Menschen innewohnt, dann bleibt der Mensch stets bei sich. Beharren wir darauf, dass Gott über den Menschen hinausgeht, dann geht auch der Mensch über sich hinaus.“ (Orthodoxie, 252)
Wunder
„Gibt“ es Wunder? Chesterton definiert: „Ein Wunder ist nichts anderes als die plötzliche Beherrschung der Materie durch den Geist.“ (Orthodoxie, 240) So möchte jeder Christ mit Freuden durchatmen. Denn im Anfang war der Geist (das „Wort“), und dieser Geist hat doch alles hervorgebracht. Das Wunder ist dann der Durchbruch der göttlichen Schöpfermacht. Das Wunder ist „Herrschaft des Inneren über die Tyrannei der äußeren Bedingungen“. (Orthodoxie, 241)
Mut
„Mut ist fast ein Widerspruch in sich. Er meint einen starken Lebenswillen in Form einer Todesbereitschaft. Der aber sein Leben verliert, der wird’s erhalten.“ (Orthodoxie, 181) Chesterton ist ein Meister in der Kunst, Dinge in aller Kürze zu benennen – und so zum Verstehen zu helfen. Mut heißt, um des Lebens willen bereit sein zu sterben. Und das ist nach Chesterton der spezielle christliche Mut, der ritterliche Mut. Der „christliche Mut“ ist der Mut, der den Tod geringachtet. Es gibt nach Chesterton freilich auch einen „chinesischen Mut“: Das ist der Mut, der das Leben geringachtet (Orthodoxie, 182).
Weltall und Ich
„Man kann das Weltall verstehen, aber niemals das Ich; man selbst ist sich ferner als der fernste Stern. … Wir haben allesamt unsere Namen vergessen. … Und was wir Geist und Kunst und Ekstase nennen, das alles bedeutet nur, dass wir uns einen erschütternden Augenblick lang erinnern, dass wir vergessen haben.“ (Orthodoxie, 110)
Dankbarkeit
„Wir bedanken uns bei Menschen, wenn sie uns zum Geburtstag Zigarren und Hausschuhe schenken. Kann ich denn niemandem für das Geburtstagsgeschenk meiner Geburt danken?“ (Orthodoxie, 111). Was für eine herrliche Frage: Kann ich denn niemandem danken? Denn Dankbarkeit regt sich doch in uns. Auch der so überreich zum Widerspruch anregende Richard Dawkins fühlt ehrlichen Herzens diese Dankbarkeit, dass nun gerade er als Person in dem großen „Genpool“ von Papas Spermien und Mamas Ei zur Person des „Richard Dawkins“ erwählt worden sei. Wenn nun ein anderes Spermium zu einem anderen weiblichen Zyklus …, da wäre wohl nie ein Richard entstanden, sondern …? Kann ich niemandem danken? … Auf jeden Fall danke ich Richard Dawkins, dass mir durch seine überkomplizierten Erwägungen die einfache Antwort neu eingeleuchtet hat: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat …“ – wie Martin Luther im Kleinen Katechismus formuliert hat. Ich bin beinahe in der Laune, eine neue Definition für die theistischen Religionen zu finden. Sie würde lauten: Die Religion entspringt aus der Sehnsucht, jemandem zu danken.
Wer ist verrückt?
Hier einer der herrlichen Chestertonschen Geistesblitze: „Der Verrückte ist nicht der Mann, der seinen Verstand verloren hat. Der Verrückte ist derjenige, der alles verloren hat, nur nicht seinen Verstand.“ (Orthodoxie, 47) Man sieht das etwa am Verfolgungswahn. Der von diesem Wahn Geplagte ordnet alle Phänomene sehr intelligent diesem Wahn zu. Ich denke dabei auch an den rührenden Sheldon aus der amerikanischen Fernsehserie „Big Bang Theory“. Sheldon ist hochintelligent – und gerade diese Fixierung auf den Verstand macht ihn zu einem Verrückten. Und an Sheldon kann man in der köstlichen Serie auch studieren, was Chesterton so formuliert: „Streitet man mit einem Verrückten, hat man mit größter Sicherheit das Nachsehen.“ (Orthodoxie, 47)
Chesterton, ein Freund der Märchen und des Feenlandes, sieht unsere moderne Kultur insgesamt von solcher rationalistischen Verrücktheit geprägt. So bemerkt er: Eine Gesellschaft, die sich aufgrund irgendwelcher Gehirnforschungsmarotten einreden lässt, der Mensch habe keinen freien Willen, sei irgendwie „verrückt“. Tatsächlich setzen wir ja mit jedem Schritt, den wir gehen, voraus, dass wir irgendwie frei sind. Und dann basteln wir uns unter der Anleitung von „Fachleuten“ ein Weltbild zusammen, nach dem alles determiniert ist und Freiheit bloße Einbildung. Verrückt! Wir haben alles verloren, nur nicht unseren (eingebildeten) Verstand.
Teufelsaustreibung
Ganz nebenbei fand ich im Zuge des obigen Gedankenganges („Wer ist verrückt?“) auch noch einen Zugang zu der mir sonst fremden Teufelsaustreibung. Chesterton: „Einen Verrückten zu heilen ist keine philosophische Angelegenheit, es ist eine Teufelsaustreibung.“ (Orthodoxie, 52) Ich habe in einem „philosophischen Arbeitskreis“ einmal eine Stunde lang mit jemandem diskutiert, der partout darauf bestand, dass der Mensch keinen freien Willen habe – genau genommen also mit einem Menschen, der behauptet, dass der Mensch im Grunde genommen ein Tier ist. Er wusste immer ein neues Argument dafür, dass alles, was ich sage und tue, physisch und sozial determiniert sei. Ich wurde am Ende fast wahnsinnig. Da hatte ich also einen Menschen vor mir, der schlicht und einfach bestritt, dass es „Menschen“ gäbe – nämlich verantwortliche und frei Lebewesen. Aber ihm das mit der „Teufelsaustreibung“ zu sagen, habe ich mir denn doch verkniffen.
Der Kosmos ist ein kleines Loch
Chesterton: „Der Kosmos ist so ziemlich das kleinste Loch, in dem ein Mensch seinen Kopf verstecken kann.“ (Orthodoxie, 54) Dieser rätselhafte Satz spricht mir aus der Seele, deshalb hier eine kurze Erläuterung: Wer kennt das nicht – die Fernsehsendungen über Galaxien, Milchstraßen, schwarze Löcher. Und dann die alberne Frage: Gibt es sonstwo „Leben“ im Kosmos? Ich habe das, pardon, niemals interessant gefunden. Der Himmel ist für mich ein Bild der Majestät und der Schönheit Gottes. Ich staune, wenn ich zu ihm aufschaue. Ich bewundere die mathematischen Geister, die den Lauf der Gestirne berechnen können. Aber ich erwarte von daher keinerlei Antworten auf die uralten Fragen: Wer bin ich? Was soll ich? Was ist das Ziel meines Lebens? Mir erscheint die ganze Wichtigtuerei um den Kosmos („die unendlichen Räume, der kleine Mensch“) als aufgeblasenes Ablenkungsmanöver. Ja, „der Kosmos ist soziemlich das kleinste Loch, in dem ein Mensch seinen Kopf verstecken kann“. Damit möchte ich den Mut der Astronauten nicht relativieren (davon verstehe ich nichts), aber ich möchte doch (im Sinne Chestertons) meinen: Jedes Gänseblümchen ist mindestens so interessant wie die Rückseite des Mondes – und jede Geburt abenteuerlicher als eine Mondfahrt.
Das Absolute
Chesterton sieht die von der Naturwissenschaft geprägte Neuzeit von einer Art „blasierter Bescheidenheit“ geprägt. Man kümmert sich „pragmatisch“ um das Zeitliche und Endliche und ist stolz darauf, es da zu etwas gebracht zu haben. Chesterton dagegen: „Aber eines der Dinge, über die sich der Mensch Gedanken machen muss, ist eben das Absolute.“(Orthodoxie, 79) Wenn ich als Theologe das sage, werde ich von den Ingenieuren belächelt. Wenn ein erfolgreicher Krimi-Autor das sagt, hört man da doch anders hin. Chesterton besteht darauf, dass es „letzte Wahrheiten gibt“, auch auf dem Gebiet der Moral. „Die goldene Regel kann nicht lauten, dass es keine goldene Regel gibt.“ (Ketzer, 58) Der Mensch ist „frei“, gewiss. Er ist frei, Gottes Ordnungen zu folgen oder zu übertreten. Aber seine Freiheit bedeutet nicht das Recht, sich selbst seine eigenen Ordnungen zu formulieren. Was „gut“ und „böse“, „natürlich“ und „widernatürlich“ ist, was Wahrheit und was Lüge ist – das ist dem Menschen vorgegeben. Der Papst wusste, weshalb er Chesterton zum „Defensor fidei“ ernannte. Und wir Protestanten können auch von ihm lernen.
Literatur
G.K. Chesterton: Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen, Eichborn-Verlag 2000
G.K. Chesterton: Ketzer, Eichborn-Verlag 1998
G.K. Chesterton: Autobiografie, Bonn 2002
Thomas Schleiff
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2024