Das 75jährige Bestehen des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 bietet Anlass, sich seiner Bedeutung für das individuelle und gemeinschaftliche Leben in diesem Gemeinwesen zu vergewissern. Die Frage nach der Religion im Grundgesetz betrachtet Hendrik Munsonius dabei unter zwei Aspekten: zum einen, wie das Grundgesetz auf Religion als Regelungsgegenstand eingeht, zum anderen, inwiefern es selbst Momente von Religiosität aufweist.*

 

I. Verfassungsrechtlicher Regelungsbedarf

Bevor wir uns anschauen, wie sich das Grundgesetz zur Religion verhält, sollten wir uns fragen, warum dies überhaupt für die Verfassung eines modernen Staates ein Thema sein kann. Zu Zeiten als Religion, Recht und Politik noch nicht richtig voneinander unterschieden waren, als eine einheitliche Religion für alle vorausgesetzt oder durch den Landesherrn festgesetzt werden konnte, da war die Religion ein selbstverständlicher Teil der öffentlichen Ordnung und der Landesherr konnte dazu Kirchenordnungen erlassen.

Aber diese Zeiten sind vorbei. Mit der Reformation bekam die religiöse Einheit erste Risse, die mit der Aufklärung immer breiter wurden, bis die religiöse Homogenität in deutschen Landen im 19. Jh. endgültig verloren ging. Aus der einen christlichen Kirche wurden drei Konfessionen (römisch-katholisch, lutherisch und reformiert) und schließlich die religiös-weltanschauliche Pluralität, wie sie bis heute prägend geworden ist. Dass spätestens seit dem Jahr 321 stets auch Juden in Deutschland gelebt haben, wollen wir dabei nicht vergessen. Wenn es aber keine einheitliche Religion gibt, muss die staatliche Ordnung unabhängig davon funktionieren.

 

 

Warum also soll sich ein Grundgesetz mit Religion befassen?

(1) Zunächst ist die Religion eine sehr persönliche Angelegenheit. Sie betrifft den einzelnen Menschen, diesen aber in sehr tiefgründiger und weitreichender Weise. Die Religion wirkt sich gleichermaßen auf das Selbstverständnis wie auf die Weltwahrnehmung aus, sie vermag das Denken, Fühlen und Handeln insgesamt zu bestimmen. Ein Grundgesetz, das die Würde des Menschen an seinen Anfang stellt (Art. 1 Abs. 1 GG), kann daran nicht vorbeigehen, sondern muss die individuelle Religion schützen.

(2) Doch Religion erschöpft sich nicht im Individuellen. Sie wird vor allem gemeinschaftlich erlebt. Dabei ist zunächst an rituelle, kultische Praxis zu denken. Aber religiöse Gemeinschaft erschöpft sich auch darin nicht. Es gehören Geselligkeit und die Begleitung und Hilfe im Alltag dazu. Menschen sind religiöse und soziale Wesen und bilden darum Formen religiös bestimmter Gemeinschaften aus. Da religiöse Menschen mit der für ihren individuellen Lebensvollzug wesentlichen Religion nicht in die Vereinzelung genötigt werden sollen, verdient auch die kollektive Religionspraxis um der Würde des Menschen willen besonderen Schutz.

(3) Schließlich wirkt sich religiöse Praxis auch auf die Gesellschaft insgesamt aus. Dies kann ausgesprochen nützlich sein, weil sich religiöse Menschen für das Gemeinwesen einsetzen. Es kann auch sein, dass sie sich von der Gesellschaft abgrenzen und Formen einer Parallelgesellschaft ausbilden. Oder sie suchen die Gesellschaft zu beeinflussen und nach ihren Vorstellungen zu formen. Dies kann zu Konflikten und Problemen führen, weil unterschiedliche Weltsichten aufeinanderprallen. Darum braucht es einen rechtlichen Rahmen, der das gute Potential fördert und Konflikte reguliert.

(4) Eine andere Frage ist, wie sich der Staat selbst zur Religion verhält. Ist er auf Religion angewiesen? Erfährt er religiöse Legitimation? Wohnt ihm selbst ein religiöses Moment inne? Danach richtet sich, welche Bedeutung die Religion auch unabhängig von der Religion seiner Bürger in einem Staatswesen hat. Auf diese Frage geben die unterschiedlichen religionsrechtlichen Modelle der verschiedenen Staaten unterschiedliche Antworten, von den Staatskirchen auf der einen bis zur strikten Laizität auf der anderen Seite.

 

II. Zur Genese des Religionsverfassungsrechts

Betrachtet man die verschiedenen Modelle der europäischen Staaten, so zeigt sich, dass es keine Standardlösung, sondern letztlich nur Sonderwege gibt. Welche Regelungen für die Religion bestehen, lässt sich nur aus der Geschichte des betreffenden Staatswesens heraus verstehen. Man spricht auch von Pfadabhängigkeit.

Für Deutschland war die Lage prägend, wie sie durch die Reformation entstanden ist. Innerhalb des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation entstanden zwei (bzw. drei) Religionsparteien, die sich wechselseitig den Besitz der religiösen Wahrheit bestritten. Da die Legitimation von Kaiser und Reich religiös begründet war, musste dies zu einer Verfassungskrise führen und hatte gewalttätige Auseinandersetzungen zur Folge. Mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 konnte ein vorläufiger Ausgleich geschaffen werden, der jedoch bald durch differierende Interpretationen infrage gestellt wurde, was schließlich 1618 in den Dreißigjährigen Krieg mündete, in dem sich der Religionskonflikt, ein Verfassungskonflikt um die Kompetenzen von Kaiser, Kurfürsten und Reichsständen und ein europäischer Hegemonialkonflikt zwischen Habsburg, Frankreich und Schweden überlagerten und verstärkten.

Der Westfälische Frieden von 1648 knüpfte zwar an den Augsburger Religionsfrieden an, brachte aber eine entscheidende Umstellung. Hatte man 1555 die Bedeutung der religiösen Frage für eine dauerhafte Friedensordnung noch vorausgesetzt und lediglich auf eine spätere Verständigung vertagt, so wurde 1648 die Friedensordnung von der Frage religiöser Wahrheit entkoppelt. An die Stelle religiöser trat eine funktionale Legitimation: die Sicherung des Friedens bei bestehender religiöser Differenz. Damit wurde die Ordnung im Reich säkularisiert. Es galt nunmehr eine Rahmenordnung, die für verschiedene Religionsparteien akzeptabel und anschlussfähig war. Für religiöse Fragen wurden im Reichstag besondere Verfahren vorgesehen, damit keine Seite durch die andere überstimmt werden konnte.

Was im Reich begann, wurde allmählich auch in den Einzelstaaten umgesetzt. Durch Grenzveränderungen und Wanderungsbewegungen ging die religiöse Homogenität in den Ländern verloren. Die Aufklärung tat ein Übriges, die Religion von einer Angelegenheit des Gemeinwesens zu einer solchen der einzelnen Menschen und frei gebildeter Vereinigungen zu machen. Die staatliche Ordnung musste mehr und mehr auf religiös-weltanschauliche Freiheit und Pluralität umgestellt werden. Dies wurde vor allem im 19. Jh. allmählich umgesetzt und fand seinen Kristallisationspunkt mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Mit ihr wurden Grundlagen des Religionsrechts gelegt, die vermittelt durch das Grundgesetz noch heute gelten.

 

III. Grundzüge des Religionsverfassungsrechts

1. Freiheit und Selbstbestimmung

Doch werfen wir jetzt erstmal einen Blick auf die Regelungen, die das Grundgesetz für die Religion trifft. Die zentrale Norm ist das Grundrecht der Religionsfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG:

Artikel 4 GG
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

Der Verfassungstext unterscheidet zwischen Glauben, Bekenntnis und Religionsausübung. Zwischen diesen drei Formen besteht ein enger Zusammenhang, und eine klare Abgrenzung ist kaum möglich. Glaube wird erst erkennbar, wenn er geäußert und bekannt wird. Und das Bekenntnis geht schnell in religiöse Praxis über. Darum fasst das Bundesverfassungsgericht die Religionsfreiheit dahingehend zusammen, dass jeder das Recht hat, sein ganzes Verhalten an seiner Religion auszurichten. Damit trägt es dem Umstand Rechnung, dass Religion nicht ein besonderer Bereich der Lebensführung ist, sondern diese insgesamt betrifft. Natürlich kann in einem Gemeinwesen nicht alles hingenommen werden, von dem jemand behauptet, es sei die Ausübung seiner Religion. Darum kann das Grundrecht der Religionsfreiheit eingeschränkt werden, wenn dies erforderlich und angemessen ist, um die Grundrechte anderer und weitere Verfassungsgüter zu schützen. Abgrenzung und Ausgleich zwischen den verschiedenen Positionen werden jeweils durch den staatlichen Gesetzgeber vorgenommen, von den Behörden umgesetzt und den Gerichten kontrolliert. Hierfür haben Rechtswissenschaft und Rechtsprechung eine ausgefeilte Methodik entwickelt, die Gegenstand des juristischen Studiums ist.

Für die Religionsgesellschaften gibt es weitere Vorschriften, die auf etwas eigentümliche Weise in das Grundgesetz einbezogen sind. Nach Art. 140 GG sind bestimmte Artikel der deutschen Verfassung von 1919 (Weimarer Reichsverfassung – WRV) „Bestandteil dieses Grundgesetzes“. Sie gelten wie andere Grundgesetzartikel auch. Zu ihnen gehört das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften nach Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV:

Art. 137 Abs. 3 WRV
Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. […]

Was alles zu den Angelegenheiten einer Religionsgesellschaft gehört, richtet sich nach ihrem Selbstverständnis. Herkömmlich werden dazu Lehre und Kultus, Mitgliedschaft und Mitarbeiter, Organisation, Leitung und Vermögensverwaltung gezählt. Dieses Selbstbestimmungsrecht kann, ähnlich wie bei der Religionsfreiheit, zum Schutz anderer Rechtsgüter durch das für alle geltende Gesetz eingeschränkt werden. Darunter sind solche Regelungen zu verstehen, die dem legitimen Schutz eines anderen Rechtsguts dienen, ohne das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaft unverhältnismäßig einzuschränken. Verhältnismäßig sind nur solche Regelungen, die geeignet, erforderlich und angemessen sind.

Eine Besonderheit des deutschen Religionsrechts ist der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts nach Art. 137 Abs. 5 Satz 1 und 2 WRV:

Art. 137 Abs. 5 WRV
Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. […]

Damit wurde den beiden großen Kirchen und jüdischen Gemeinden 1919 der bestehende Rechtsstatus garantiert. Andere Religionsgesellschaften können diesen Status erwerben, wenn sie bestimmte formale Voraussetzungen erfüllen, und haben es auch in großer Zahl getan. Durch diesen Status werden die Religionsgesellschaften nicht, wie man meinen könnte, zu staatlichen oder quasi-staatlichen Organisationen. Sie bleiben eigenständig und vom Staat unterschieden. Der Status eröffnet ihnen nur die Organisationsmöglichkeiten des öffentlichen Rechts, die dem Selbstverständnis eher entsprechen können als die Rechtsformen des Privatrechts. Der Körperschaftsstatus ist kein „rätselhafter Ehrentitel“ (Rudolf Smend), sondern ein Mittel zur effektiveren Verwirklichung kollektiver Religionsfreiheit.

Ein mit dem Körperschaftsstatus verbundenes besonderes Finanzierungsinstrument stellt die Kirchensteuer dar. Sie wird von den Mitgliedern durch die staatliche Finanzverwaltung für die Kirchen eingezogen. Dafür erhält der Staat eine mehr als auskömmliche Vergütung. Die Kirchensteuer ist im 19. Jh. entwickelt worden, damit für religiöse Bedürfnisse nicht mehr der allgemeine Fiskus einstehen muss, sondern nur die Angehörigen der betreffenden Religionsgemeinschaft herangezogen werden. Sie ist also als ein Instrument zur Trennung von Staat und Kirche entstanden. Heute stellt sie nach wie vor das wirksamste Instrument zur Kirchenfinanzierung dar.

2. Trennung und Kooperation

Für das Verhältnis von Staat und Kirche gilt nach Art. 137 Abs. 1 WRV seit 1919 und wieder seit 1949 die schlichte Wahrheit: „Es besteht keine Staatskirche.“ Das ist die einzige Stelle, an der das Wort „Kirche“ im Verfassungstext überhaupt vorkommt. Hiermit ist die Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion festgeschrieben. Sie haben jeweils eigene Aufgaben, die sie eigenständig wahrnehmen. Sie sind in ihrer Organisation unabhängig voneinander. Allerdings bedeutet die Trennung von Staat und Kirche nicht Beziehungslosigkeit. Ja, die Trennung gebietet Kooperation, wenn im staatlichen Verantwortungsbereich Religion relevant wird. Dann ist der Staat um der Trennung willen auf die Religionsgemeinschaften angewiesen, denn sonst müsste er selbst religiöse Fragen entscheiden, für die er nicht zuständig ist.

Den verfassungsrechtlichen Prototyp einer solchen ­Kooperation stellt der Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG dar. Wenn die Schule einen umfassenden Bildungsauftrag wahrnehmen soll, schließt dies religiöse Bildung ein. Dies kann jedoch nicht in lediglich distanzierter religionskundlicher Unterweisung vermittelt werden. Denn so kann der konstitutive Zusammenhang der Religion mit der je eigenen Persönlichkeit nicht deutlich werden. Dem sucht der Religionsunterricht Rechnung zu tragen, indem Religion in konfessioneller Positionalität und Gebundenheit vermittelt wird. Art. 7 Abs. 3 GG sieht darum vor, dass der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften zu erteilen ist. Für diese Übereinstimmung können nur die Religionsgemeinschaften selbst einstehen. Sie sind darum bei der Festlegung der Inhalte und bei der Auswahl der Lehrkräfte zu beteiligen. Die Garantie des Religionsunterrichts bildet neben der Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG einen Anknüpfungspunkt für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung Theologischer Fakultäten, weil die Lehrkräfte eine entsprechende Ausbildung erfahren müssen. Für Theologische Fakultäten gilt in entsprechender Weise, dass die betreffende Religionsgemeinschaft bei der Festlegung von Studien- und Prüfungsordnungen und der Besetzung von Professuren zu beteiligen ist.

Die Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften ist darüber hinaus immer dann geboten, wenn sich Menschen in staatlichen Einrichtungen befinden und dadurch in ihrer Religionsausübung behindert werden, obwohl sie möglicherweise dort sogar ein besonderes Bedürfnis danach haben. Darum wird schon seit der Weimarer Reichsverfassung die sog. Anstaltsseelsorge garantiert:

Art. 141 WRV
Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist.

Die Krankenhaus-, Gefängnis-, Militär-, Polizei- und weitere Anstaltsseelsorge ist nach wie vor ein wichtiges Handlungsfeld und wird weiterhin ausgebaut und im Hinblick auf die religiöse Pluralität differenziert. Die Herausforderung besteht darin, religiöses Personal so in den staatlichen Organisationszusammenhang einzubetten, dass sie ihre Aufgaben eigenständig wahrnehmen können ohne den Anstaltsbetrieb zu stören und den Anstaltszweck zu gefährden. Das setzt auf beiden Seiten die Bereitschaft voraus, sich auf die Bedürfnisse der anderen Seite einzulassen und Kompromisse einzugehen.

3. Religiös-weltanschauliche Neutralität

Rechtsprechung und Rechtswissenschaft haben verschiedene Aspekte des Religionsverfassungsrechts im Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates zusammengefasst. Dieses ist nicht als solches im Grundgesetz festgeschrieben, sondern ergibt sich aus dem Zusammenhang verschiedener Verfassungsnormen. Dazu gehören vor allem das Verbot der Ungleichbehandlung aus religiösen Gründen (Art. 3 Abs. 3 GG), das Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) und die Trennung von Staat und Kirche (Art. 137 Abs. 1 WRV). Das Neutralitätsprinzip stellt damit kein Über-Verfassungsrecht dar, sondern ist aus der Verfassung abgeleitet und lediglich ein heuristisches Instrument, um die Verfassung zu interpretieren. Es ist darum nicht möglich, die Geltung einer Verfassungsnorm durch Hinweis auf das Neutralitätsprinzip infrage zu stellen, wie dies gelegentlich versucht wird.

Mit dem Neutralitätsprinzip werden fünf Aspekte verbunden:
(1) Zum einen geht es um die bereits angesprochene organisatorische Trennung, also die institutionelle Nichtidentifikation.
(2) Zum anderen geht es um eine sachliche Nichtidentifikation. Der Staat darf sich nicht die Anliegen einer bestimmten Religionsgemeinschaft zu eigen machen.
(3) Daraus folgt drittens das Verbot religiöser Diskriminierung.
(4) Weiterhin hat der säkulare Staat auf religiöse Legitimation zu verzichten. Er findet seine Rechtfertigung allein in seiner Funktion, Sicherheit, Frieden und Gemeinwohl zu verwirklichen.
(5) Und schließlich darf sich der Staat kein eigenes Urteil in religiösen Fragen anmaßen. Er ist religiös „farbenblind“. Darum sind stets die Religionsgemeinschaften selbst zu beteiligen, sobald es im staatlichen Zusammenhang um Fragen der Religion geht.

Das Religionsverfassungsrecht ist, wie wir sehen, darauf angelegt, zwischen dem, was des Staates, und dem, was Religion ist, sauber zu unterscheiden, ohne es auseinanderzureißen. Es soll verhindern, dass sich der Staat in die religiösen Angelegenheiten einmischt, und überlässt diese ganz den Bürgern und ihren frei gebildeten Vereinigungen.

 

IV. Religiosität der Verfassung?

Es gibt aber auch einige Stellen im Grundgesetz, die dafür zu sprechen scheinen, dass Staat und Verfassung selbst eine religiöse Dimension haben.

1. „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott …“

Gleich im ersten Satz der Präambel ist ausdrücklich und wie selbstverständlich von Gott die Rede:

Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.

Solche und ähnliche Formulierungen finden sich auch in anderen Verfassungen. Dabei fällt jedoch schon ein Unterschied auf. Während hier Gott nur genannt wird, es sich also um eine nominatio dei handelt, wird er in anderen Verfassungen regelrecht im Sinne einer invocatio dei angerufen. Auch steht im Grundgesetz einfach „Gott“, während andere Verfassungen explizit den christlichen Gott als Vater, Sohn und Heiligen Geist benennen. Wir haben es in unserer Präambel mit einer besonders schlichten Gottes-Formel zu tun. Außerdem ist festzustellen, dass hier kein Ableitungszusammenhang hergestellt wird. Es wird lediglich von der „Verantwortung vor Gott“, nicht aber von einem gläubigen Vertrauen auf Gott gesprochen oder die Verfassungsordnung aus seinem Willen abgeleitet. Und schließlich tritt Gott als Instanz zugleich mit „den Menschen“ in Erscheinung.

Gott wird zwar in der Präambel erwähnt, aber damit nicht zur Grundlage der Verfassung. Es wird dadurch eher das Andere von Staat und Recht bezeichnet und anerkannt, dass Staat und Recht nicht alles sind, sondern dass es über sie hinaus Höheres gibt. Das Grundgesetz bekundet für diejenigen, die an Gott glauben, seinen Respekt vor dieser Instanz. Aber es verlangt von niemandem, selbst an Gott zu glauben. Die nominatio dei der Präambel ist eigentlich eine Demutsformel (Horst Dreier) von hohem Abstraktionsgrad.

2. Menschenwürde und Menschenrechte

Die Rede von Menschenwürde und Menschenrechten in Art. 1 Abs. 1 und 2 GG ist demgegenüber wesentlich gehaltvoller. Hiermit wird ja auch die solenne, aber normativ schwache Sphäre der Präambel verlassen und der Bereich rechtlicher Normativität betreten.

Art. 1 GG
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Die Würde des Menschen wird als unantastbar und damit dem Recht entzogen deklariert. Ebenso wird ein Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten abgelegt. Damit werden Menschenwürde und Menschenrechte als dem Recht vorgängig begriffen. Erst die nachfolgenden Grundrechte werden durch die Verfassung begründet. Menschenwürde und Menschenrechte werden nicht durch das Grundgesetz statuiert, sondern als gegeben anerkannt. Damit fragt sich aber, worin sie eigentlich begründet sind.

Für die Begründung der Menschenwürde werden unterschiedliche Konzepte vertreten:

(1) Eine beliebte Begründung knüpft an bestimmte Eigenschaften an wie Vernunft, Sprache, Selbstbewusstsein und Verantwortung. Das scheint auf den ersten Blick plausibel, weil es etwas bezeichnet, wodurch sich der Mensch von anderen Lebewesen unterscheidet, führt aber dazu, dass die Würde von Menschen danach abgestuft werden kann, in welchem Maße diese Eigenschaften ausgebildet sind. In äußerster Konsequenz kann dieser Ansatz dazu führen, Menschen die Würde abzusprechen, weil sie durch Krankheit oder Unglücksfälle diese Eigenschaften nicht erworben oder wieder verloren haben.

(2) Ein anderer Ansatz stellt darauf ab, dass sich Menschen wechselseitig als Menschen erkennen und anerkennen. Die Würde, die ich für mich selbst in Anspruch nehme, muss ich dann auch dem anderen zuerkennen. So überzeugend dieser Ansatz theoretisch begründet werden kann, so problematisch ist er in der Realität. Die Geschichte ist überreich an Beispielen, wie anderen Menschen die gleiche Würde nicht zuerkannt wurde. Art. 1 Abs. 1 GG stellt eine Reaktion auf die massiven Würdeverletzungen während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland dar.

(3) Eine besonders leistungsfähige, aber zugleich besonders anspruchsvolle Begründung der Menschenwürde leitet diese aus einer Transzendenzbeziehung her. Die Würde des Menschen ist dann von einer Instanz hergeleitet, die außerhalb dieser Welt verortet wird. Damit kommt die Religion ins Spiel. Wer sich beispielsweise zu Gott als dem „Schöpfer des Himmels und der Erde“ bekennt, sieht damit nicht nur sich selbst, sondern zugleich alle anderen Menschen in gleicher Weise als Gottes Geschöpf an. Das ist die schlechthin universale Begründung der Menschenwürde. Sie baut allerdings auf dem Gottesglauben auf, der nicht bei allen Menschen vorausgesetzt werden kann und darf.

Die gleiche Würde aller Menschen impliziert, dass diese ihre eigene Vorstellung darüber haben können, wie es um den Menschen und seine Stellung in der Welt und seine Beziehungen zu höheren Mächten bestellt ist. Die Anerkennung der Menschenwürde verbietet es, hier verbindliche Vorgaben machen zu wollen – wenn das überhaupt möglich wäre. Sie ist offen für religiöse Begründungen, aber letztlich auf eine Pluralität von Begründungen angewiesen. Als christliche Gemeinschaft können wir dazu einen eigenen und besonders leistungsfähigen Beitrag leisten.

3. Sonn- und Feiertagsschutz

Eine weitere Bezugnahme auf Religion stellt der verfassungsrechtliche Schutz von Sonn- und Feiertagen dar:

Art. 139 WRV
Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist die Festlegung der gesetzlichen Feiertage Ländersache. In ihrer weit überwiegenden Zahl handelt es sich um christliche Feiertage. Für religiöse Minderheiten gibt es einen individuellen Feiertagsschutz. Das Sonn- und Feiertagsrecht folgt also einem weitgehend christlichen Programm. Ob den Menschen, die diese Feiertage genießen, klar ist, worum es dabei jeweils geht, darf füglich bezweifelt werden. Das Verfassungsrecht selbst nimmt eine programmatische Umstellung vor. Denn ist die Auswahl der Feiertage religiös grundiert, so ist der Schutzzweck ganz säkular gefasst: Arbeitsruhe und seelische Erhebung. Das kann mit Religion zu tun haben, muss es aber nicht. In den Auseinandersetzungen über Arbeitsverbote am Sonntag und vor allem die Ladenöffnung tritt dies deutlich zutage. Während die einen mit Konsum keinerlei seelische Erhebung verbinden, scheinen andere sie gerade dort zu suchen. Das Verfassungsrecht nimmt Rücksicht auf religiöse Bedürfnisse, verallgemeinert und säkularisiert jedoch den Schutz und stellt von Religion auf Humanität um.

 

V. Grundgesetz und Christentum

Wir haben gesehen, dass Religion im Grundgesetz zuweilen ganz direkt angesprochen und geregelt wird, zuweilen aber auch nur indirekt ins Spiel kommt. Drei Beziehungen auf Religion oder Religiöses können wir unterscheiden:

(1) Zum einen wird die individuelle und gemeinschaftliche Religion der Menschen wahr- und ernstgenommen. Durch das Grundrecht der Religionsfreiheit, das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften, den Religionsunterricht und weitere Regelungen wird ihnen ein Entfaltungsraum garantiert und dieser, soweit nötig, zugleich zum Schutz anderer Verfassungsgüter begrenzt. Hier moderiert die Verfassung als Rahmenordnung das religiöse Leben der Menschen.

(2) Zum anderen klingt Religion an, wenn das Verfassungsrecht selbst das Andere seiner selbst markiert, wenn es benennt, was ihm vorausliegt. Dies ist insbesondere bei der nominatio dei in der Präambel und bei der Menschenwürde der Fall. Das Religiöse kommt hier ins Spiel, um es von Staat und Recht zu unterscheiden. Diese werden durch Religion weniger legitimiert als begrenzt.

(3) Ein benachbartes, aber doch zu unterscheidendes Phänomen stellt die säkularisierte Aufnahme religiöser Momente in das Verfassungsrecht dar, wie wir es beim Feiertagsrecht beobachten können. Der Sonntag und die meisten Feiertage haben eindeutig religiösen Ursprung. Sie werden durch das Verfassungsrecht besonders geschützt – aber nicht als religiöse Feiertage, sondern als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung, wobei offenbleibt, ob dies religiös oder anders erlebt wird.

Ist der Staat des Grundgesetzes ein christlicher Staat? Hier gilt es zu differenzieren. Die Entstehung dieser Verfassungsordnung ist stark durch die Geschichte des Christentums im mitteleuropäischen Raum geprägt. Und ohne das Christentum sähe sie wahrscheinlich anders aus. Aber die gemeinsame Geschichte lief auf eine zunehmende Unterscheidung von Staat und Kirche, von Recht und Religion hinaus. Der Staat hat sich von der Religion emanzipiert und diese damit freigesetzt.

Das könnte man als einen Verlust beklagen oder aber als eine Chance begreifen. Und letztlich ist diese Unterscheidung ein zutiefst christlicher Gedanke. Wir finden ihn im Jesuswort „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Mk. 12,17/Mt. 22,21/Lk. 20,25) und in der lutherischen Unterscheidung des geistlichen und des weltlichen Regiments. So werden Letztes coram deo und Vorletztes coram mundo unterschieden. In dieser Unterscheidung liegt die wahre christliche Freiheit. Diese Freiheit wird durch die Säkularität der staatlichen Ordnung geschützt. Leben ­müssen wir sie selbst! 

 

Anmerkung

* Vortrag beim Ökumenischen Seminar der Kirchengemeinde St. Jacobi, Göttingen, 21.2.2024.

 

Über die Autorin / den Autor:

OKR PD Dr. Hendrik Munsonius, Referent im Kirchenrechtlichen Institut der Evang. Kirche in Deutschland, Göttingen, und Privatdozent an der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen.

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 5/2024

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